Dunedin, im Dezember 1863
Anna konnte sich nur schwer vom Anblick ihrer toten Freundin lösen. Wie betäubt stand sie langsam auf.
Die Hebamme, Elisabeth Ginsbury, war völlig erschöpft. Schluchzend bat sie Anna, den Ehemann zu holen. »Ich schaffe das nicht. John McDowell war das erste Baby, das ich je entbunden habe«, schluchzte sie.
Der arme John!, dachte Anna, während sie sich die Tränen aus dem Gesicht wischte. Ihre rot umränderten Augen sagten jedoch alles.
Im Wohnzimmer lief John McDowell rastlos auf und ab. Als Anna eintrat, erstarrte er. Grau im Gesicht und scheinbar um Jahre gealtert, fragte er gequält: »Sie ist tot, nicht wahr?« Anna nickte stumm.
John McDowell brach in lautes Schluchzen aus und war bereits auf der Treppe nach oben, bevor Anna sich nur umdrehen konnte.
Mit letzter Kraft ließ sie sich auf einen Stuhl fallen. Sie konnte noch immer nicht fassen, was geschehen war. Da ging die Tür auf, und Mabel, das Kindermädchen, erschien im Salon, an der Hand den kleinen Timothy. Sie wusste noch nicht, was geschehen war, weil sie mit dem Kind außer Haus gewesen war. Anna wollte sie gerade bitten, mit dem Jungen noch einen Spaziergang zu machen, als sich Timothy von Mabels Hand losriss, auf Anna zulief und auf ihren Schoß krabbelte.
»Willst du mit zu Tante Anna?«, fragte Anna mit bebender Stimme. »Oh ja!« Der rotblond gelockte Junge schmiegte sich zutraulich an sie.
»Packen Sie bitte ein paar Sachen für das Kind zusammen. Ich nehme es mit nach Hause. Und sagen Sie Mister McDowell bitte, dass ich mich um Timothy kümmern werde!«, befahl Anna dem Kindermädchen, das sie mit großen Augen ansah, bevor es wortlos verschwand. Anna schaukelte Timothy auf den Knien hin und her. »Mehr!«, kreischte er vergnügt. »Mehr! Mehr!«
Als Mabel mit hängenden Schultern zurückkehrte, suchten ihre verweinten Augen Annas Blick. Auch sie empfand schmerzhaft, was Anna dachte: Eben noch hat Mary mit ihrem hellen Lachen dieses Haus erfüllt, und nun ist sie für immer stumm. Anna spürte, dass sie schon wieder weinen musste, aber sie unterdrückte die Tränen. Was sollte der kleine Knirps von ihr denken?
»Mister McDowell lässt ausrichten, er ist Ihnen unendlich dankbar«, schluchzte das Kindermädchen und rannte hinaus.
»Mama!«, rief der kleine Kerl jetzt. »Mama auf Wiedersehen sagen!«
»Mama ist ausgegangen!«, versicherte Anna schnell und verließ mit Timothy an der Hand eilig das Haus.
Timothy blieb zwei Tage und zwei Nächte bei Anna. Sie wurde nicht müde, mit ihm zu spielen; und er liebte es, die kleine Klara im Stubenwagen umherzufahren. Manchmal wurde er dabei ein wenig zu ungestüm, aber es war deutlich zu spüren, dass der Junge sich hier sehr wohlfühlte. Auch Anna tat seine Anwesenheit gut. Mit den beiden Kindern hatte sie alle Hände voll zu tun, was sie davon abhielt, mit dem Schicksal zu hadern und sich ständig zu fragen: Warum Mary? Sogar Christian taute in der Gegenwart des kleinen Timothy merklich auf. Er trug ihn auf den Schultern durch das Haus und tollte wild mit ihm herum. Er spielte Seefahrt mit ihm und schenkte ihm sogar eine hölzerne Eisenbahn.
Anna sah seine Begeisterung für den Jungen mit gemischten Gefühlen. Zwar berührte es sie zu sehen, wie Christian aufblühte, aber ihr wurde bewusst, dass er seine Tochter kaum eines Blickes würdigte. Wahrscheinlich hofft er darauf, dass es beim nächsten Mal ein Junge wird, vermutete Anna, aber sie hatte sich geschworen, ihm kein weiteres Kind zu gebären.
Christian war noch in der Handelsvertretung, als John McDowell, blass und vom Kummer gezeichnet, Anna aufsuchte, um Timothy wieder zu sich zu holen. Obwohl er die Contenance wahrte, tat es Anna in der Seele weh, wie dieser aufrechte Mann litt. Er erzählte Anna, dass Mabel ihn zu seinem großen Bedauern Hals über Kopf im Stich gelassen habe. Das Kindermädchen habe ihm erklärt, dass es sich nach Marys Tod nicht in der Lage sähe, weiter für ihn zu arbeiten.
Anna bot ihm sofort an, ihm Paula zu schicken, bis er einen Ersatz gefunden hatte, denn schließlich verdankte sie ihre wunderbare Haushaltshilfe allein Mary. John wollte das jedoch partout nicht annehmen.
»Dann erlaube uns wenigstens, Timothy tagsüber zu uns zu nehmen, wenn du zur Arbeit gehst, bis du jemanden gefunden hast«, schlug Anna schließlich vor.
Darauf ließ John sich dankbar ein. Von nun an brachte er zu Annas großer Freude seinen Sohn sechs Tage in der Woche jeden Morgen bei ihr vorbei. Diese neue Aufgabe beglückte sie, zumal sie ihrer Freundin damit einen letzten Dienst erweisen konnte. Manchmal, wenn sie mit den beiden Kindern draußen im Garten saß, blickte sie zum Himmel auf und fragte sich, ob Mary sie wohl sehen konnte.
Zum Dank, dass Anna so gut für Timothy sorgte, der immer noch glaubte, seine Mutter werde bald von einer langen Reise zurückkehren, gab John eines Abends kurz vor Weihnachten ein Essen für Anna und ihren Mann. Christian aber hatte an diesem Tag kurzfristig ein gravierendes Problem in der Niederlassung. Eine Gruppe Maori hatte die Besatzung eines Schiffs daran gehindert, es zu entladen. Die Ware drohte zu verderben, und Christian musste zurück in den Hafen, um mit ihnen zu verhandeln.
Anna wollte jedoch unter keinen Umständen allein zu John gehen. Sie fühlte sich zu sehr zu John hingezogen, auch wenn der noch immer untröstlich über Marys Tod war. Mary würde es sicherlich begrüßen, wenn er schnell eine neue Frau und Mutter für Timothy fände. Aber ich komme für diese Rolle ohnehin nicht in Frage, sinnierte sie. Ich bin verheiratet, wenn auch unglücklich - aber wen kümmert das? Davon abgesehen schickte es sich nicht, ohne weitere Gesellschaft mit einem anderen Mann zu speisen. Deshalb schlug sie vor, die Einladung abzusagen.
Christian jedoch wollte von einer Absage nichts wissen. »John ist ein wichtiger Geschäftspartner, den dürfen wir nicht brüskieren!«, erklärte er aufbrausend.
Anna erschrak ob der Heftigkeit seines Ausbruchs und versprach ihm schließlich, doch zu Johns Essen zu gehen.
Schon beim Ankleiden fühlte sie eine gewisse Nervosität. Sie war nach der Geburt ihrer Tochter noch schmaler geworden. Das neue Kleid mit dem langen, weiten Rock aus dunkler Seide über der Tornüre, dessen eng geschnürte Korsage Annas Taille noch filigraner wirken ließ, saß wie angegossen. Dafür hatte sie ein wenig mehr Oberweite bekommen, die dem Dekollete, das bei einer Abendgarderobe durchaus erlaubt war, einen besonderen Reiz verlieh. Man könnte meinen, ich treffe mich mit einem Galan statt mit dem trauernden Witwer meiner Freundin, schoss es Anna durch den Kopf, und sie betrachtete sich kritisch. Ihre Aufmachung war ganz und gar nicht angemessen.
Im Spiegel sah sie, dass sie bei diesem Gedanken rot angelaufen war vor Scham. Entschlossen zog sie das Kleid wieder aus und ersetzte es durch ein schlichtes, hochgeschlossenes Trauerkleid mit schwarzer Korsage. Die Anmutung war nun eine völlig andere, aber ihre Augen glänzten noch genauso wie zuvor. So hatte sie sich immer wahrgenommen, wenn sie Frederik zum Unterricht erwartete. Erschrocken über diese Erkenntnis, fuhr Anna zusammen. Dann stieß sie einen tiefen Seufzer aus. Sie konnte nicht zurück. Christian würde es ihr verübeln, wenn sie so kurzfristig absagte. Also verabschiedete Anna sich mit gemischten Gefühlen von Klara, die unter Paulas Aufsicht zurückblieb, und ließ sich mit der Kutsche zu John McDowell bringen.
John begrüßte Anna herzlich und dankte ihr überschwänglich, weil sie auch ohne Christian gekommen sei. Ehe sie es sich versah, waren alle ihre Bedenken verschwunden und zwischen ihnen herrschte die vertraute Offenheit, wie es zwischen guten Freunden üblich ist. Bei einem üppigen Mahl, das von der Hausangestellten Stella zubereitet worden war, offenbarte John Anna ohne Scheu, wie sehr er das fröhliche Lachen seiner Frau vermisse.
Anna legte mitfühlend die Hand auf seine und musste heftig schlucken, um die Tränen zu unterdrücken. Sie schilderte ihm, wie sehr auch ihr die patente Freundin fehle. Während sie redete, sah John sie unverwandt an und legte ganz plötzlich seine Hand auf ihre. Anna zitterte bei dieser Berührung, und ihr wurde plötzlich heiß. Überrascht von der Heftigkeit eines unbekannten Verlangens, schaute sie ihn an. Er hielt ihrem Blick stand. Sie konnte so vieles in seinen Augen lesen: Traurigkeit, Entschlossenheit - und Begehren.
Anna wollte sich abwenden, aber es gelang ihr nicht. Das, was sie jetzt wahrnahm, war ihr fremd und vertraut zugleich. Noch kein Mann hatte sie jemals so zärtlich und begehrlich angesehen. Ohne den Blick von ihr zu lassen, streichelte John nun ihre Hand. Annas Herz klopfte bis zum Hals. Sie schlug die Augen verlegen nieder. Da spürte sie seine Lippen auf ihrem Mund. Noch nie zuvor hatte ein Mann Anna mit solcher Inbrunst geküsst. Selbst Annas Erinnerung an ihre erste Liebe verblasste in diesem Moment. Heiße Wellen strömten durch ihren Körper, und sie wünschte sich, es möge niemals zu Ende gehen.
Als John schließlich zögernd seine Lippen von ihren gelöst hatte, schaute er an ihr vorbei ins Leere.
»Entschuldigung!«, raunte er heiser. »Kannst du mir verzeihen?«
»Natürlich, John«, flüsterte Anna.
Schritte ertönten im Flur, und Stella betrat das Esszimmer, um das Geschirr des Hauptgangs abzuräumen. John hatte noch rechtzeitig seine Hand wegziehen können. Wie in einem Schwebezustand erlebte Anna den Rest des Abends.
Sie erwähnten den Vorfall nicht und vermieden es fortan, sich direkt anzusehen. Stattdessen plauderten sie scheinbar unverfänglich über Mary und die Kinder. Auch zum Abschied reichten sie sich nur steif die Hand, doch allein das reichte aus, um Annas Körper erneut in Flammen zu versetzen.
Sie betete während der gesamten Rückfahrt, dass Christian noch nicht zu Hause sein möge, damit er nichts von dem bemerkte, was mit ihr geschehen war, doch vergebens.
Christian saß bereits im Wohnzimmer und erwartete sie, eine Zigarre rauchend. Er erzählte ihr voller Stolz, dass seine Mission erfolgreich verlaufen sei. Ohne Blut zu vergießen, hatte er die Maoris dazu bewogen, die Blockade im Hafen aufzugeben. Er wirkte sehr aufgekratzt, hatte eine schwere Alkoholfahne und verlangte von Anna, dass sie sich zu ihm setzte, doch sie entzog sich ihm unter dem Vorwand, nach Klara sehen zu müssen.
»Ich habe gesagt, du sollst dich setzen!«, bellte er und sah Anna dabei mit zornig funkelnden Augen an, sodass sie sich nicht zu widersetzen wagte. Zögernd ließ sie sich in einen Sessel fallen, doch Christian befahl: »Hierher!«, und deutete auf den Platz neben sich. Wortlos gehorchte Anna. Seine Alkoholfahne war unerträglich.
»Wie war es bei John?«, fragte er.
Sie bemerkte, dass er ein wenig lallte. »Nett!« Sie vermied es, ihren Mann anzusehen.
»Du bist ja nicht besonders gesprächig!«, sagte er und legte besitzergreifend den Arm um sie. Eine Geste, die völlig untypisch für ihn war.
Anna zuckte unwillkürlich zusammen. Sie grübelte verzweifelt darüber nach, wie sie sich seinem widerlichen Annäherungsversuch würde entziehen können, als sie Klara brüllen hörte. Ohne zu überlegen, sprang sie wortlos auf und lief zum Kinderzimmer. Hinter sich hörte sie Christian derbe Flüche ausstoßen.
Als Anna oben im Kinderzimmer ankam, war alles in bester Ordnung. Die kleine Klara lag auf dem Rücken in ihrer Wiege. Sie hatte offensichtlich im Schlaf geschrien. »Danke, dass du mich vor ihm gerettet hast!«, hauchte Anna und betrachtete ihre geliebte Tochter voller Stolz. Über ihr Gesicht huschte ein Lächeln. Ihr Mündchen machte schmatzende Geräusche, als träume sie davon, von der köstlichen Muttermilch zu trinken. Anna blieb noch eine ganze Weile dort stehen und betrachtete das kleine Geschöpf. Dann zog sie sich aus und legte sich in das Bett, das sie sich im Kinderzimmer hergerichtet hatte.
Anna war gerade eingeschlafen, als ein Poltern an der Tür sie aufschrecken ließ. Sie setzte sich im Bett auf, als die Tür aufgerissen wurde und Licht in das Kinderzimmer drang. »Kommst du freiwillig, oder soll ich nachhelfen?«, lallte Christian. Er klammerte sich am Türpfosten fest.
Anna kroch noch tiefer unter die Decke. Wenn bloß Klara nicht aufwacht!, dachte sie, als er sie bereits an den Füßen aus dem Bett zog. Mit einem lauten Knall krachte sie zu Boden. Alles tat ihr weh, aber das war ihr völlig gleichgültig. Viel wichtiger war ihr, dass sie ihm rechtzeitig entkam. Sie rappelte sich langsam auf, während er sie grinsend beobachtete. Sie schlüpfte an ihm vorbei zur Tür hinaus.
Bloß weg von dem Kind!, dachte sie, aber wohin? Sollte sie in den Salon flüchten, zu Paula oder ...?
Christian nahm ihr die Entscheidung ab. Entschlossen zog er die Kinderzimmertür hinter sich zu, packte Anna grob am Handgelenk und schleifte sie ins Schlafzimmer. Dort warf er sie auf das Bett und nestelte an seiner Hose herum. Dann griff er grob nach Annas Nachthemd, um es hochzuziehen. Anna aber wehrte sich aus Leibeskräften. Sie kratzte und biss, was ihren trunkenen Mann jedoch nur anzufeuern schien. Er keuchte und stöhnte vor Lust.
»Du kleine Kröte! So willst du es also. Kannst du haben.«
Mit einem Ritsch riss er ihr Nachthemd entzwei und knetete ihre Brüste wie Teig. Es schmerzte, aber sie gab keinen Mucks von sich. Sie wollte ihn nicht noch mehr erregen. Er ließ abrupt ihre Brüste los und fasste ihr ächzend zwischen die Schenkel. Anna überlegte fieberhaft. Sie wusste, dass er sie gleich überwältigen würde. Um ihn von seinem Vorhaben abzubringen, musste sie zu anderen Mitteln greifen.
Sie hatte den Gedanken noch gar nicht ganz zu Ende gedacht, als sie sich lauthals schreien hörte: »Fass mich nicht an, du Schwein! Ich habe dich gesehen in jener Nacht, als du Hine in den Bauch getreten hast. Geh mir aus den Augen, und wage es nie mehr, mich mit deinen dreckigen Fingern anzufassen!«
Erschrocken hielt sie inne. Das hatte sie nicht sagen wollen. Das nicht!
Wie vom Donner gerührt, ließ Christian von ihr ab, holte aus und schlug ihr mit voller Wucht mitten ins Gesicht.
Anna spürte den stechenden Schmerz, aber sie zuckte nicht einmal zusammen. Kämpferisch und ohne einen Laut von sich zu geben, funkelte sie ihn an. Es war ein ungleicher Kampf zwischen diesem Hünen und ihr, doch sie wollte ihn gewinnen. Plötzlich musste sie an die Maorikrieger denken und an die Entschlossenheit, die sie ausgestrahlt hatten.
Christian hob noch einmal die Hand, aber Anna zischte ungerührt: »Schlag mich ruhig! Die Wahrheit kannst du dadurch doch nicht aus der Welt schaffen.«
Da ließ er kraftlos den Arm sinken und wandte den Blick verlegen ab. Er schnaubte, als wolle er noch etwas sagen, erhob sich schwerfällig, griff nach seinen Sachen und verließ ächzend das Zimmer.
Anna atmete erleichtert auf, als sie die Haustür laut ins Schloss fallen hörte. Sie ahnte, was das zu bedeuten hatte. Christian ging wieder in das Etablissement am Hafen. Wie oft hatte sie mit Mary hinter vorgehaltener Hand über dieses Haus der Frauen gesprochen!
Ach, Mary!, dachte Anna wehmütig. Liebe, gute Mary, stell dir bloß vor, ich bereue es nicht einmal, dass ich mich von John habe küssen lassen!
Sieh dich vor!, meinte sie plötzlich die Warnung ihrer Freundin aus einer anderen Welt zu vernehmen. Nimm dich bloß in Acht, dass kein Mensch jemals davon erfährt! Besonders Christian nicht.
Ach, Mary, seufzte Anna, ich schwöre dir, dass es niemals wieder geschehen wird!
Mit diesem Vorsatz schleppte Anna sich, immer noch am ganzen Körper zitternd, in ihr Bett im Kinderzimmer und sehnte sich zum ersten Mal in ihrem Leben schmerzhaft danach, dass ein Mann zu ihr kommen würde. John!, dachte sie voller Sehnsucht und stellte sich vor, wie seine zärtlichen Hände behutsam ihre Schenkel hinaufglitten.