Dunedin, 29. Dezember 2007
Jetzt hat Emma ihren Willen und liegt in ihrer geliebten neuseeländischen Erde, dachte Sophie traurig und betrachtete John Franklin aus den Augenwinkeln. Sie standen bereits eine Weile vor ihrer Hotelzimmertür. Er hatte sie dorthin begleitet und konnte sich offensichtlich nicht dazu durchringen, sie allein zu lassen. Sophie war todmüde. Sie fühlte sich leer und ausgebrannt.
Judith' Versuche, sie nach der Beerdigung einzuladen, damit Sophie noch ein wenig auf andere Gedanken kam, hatte sie rigoros abgelehnt. Es war verrückt, aber sie wollte nur eines: Emmas Geschichte weiterlesen!
Die Beerdigung war wie ein schlechter Traum an ihr vorübergerauscht. Die Worte des Geistlichen waren nicht zu ihr durchgedrungen. Sie hatte wie versteinert auf den blumengeschmückten Sarg gestiert. Der Kopf sagte ihr, dass ihre Mutter Emma de Jong darin lag, aber ihr Herz weigerte sich noch immer, es zu glauben. Sophie hatte nicht eine Träne vergossen.
Das Einzige, was sie überhaupt gespürt hatte, war die Wärme und Zuwendung, die ihr die beiden Anwälte entgegenbrachten, die in der kalten Kapelle rechts und links von ihr Platz genommen hatten.
»Sie können mich jederzeit anrufen, wenn Sie es sich doch noch anders überlegen sollten«, bot John ihr nun an, und es war ihm anzusehen, dass er sich vollkommen hilflos fühlte.
»Vielen Dank!«, erwiderte Sophie mechanisch.
John trat verlegen von einem Bein auf das andere. »Sophie!«, brachte er schließlich hervor, »Mein Bruder ist Arzt, und vielleicht wäre es vernünftig, wenn er Ihnen ein leichtes Beruhigungsmittel geben würde.«
»Ich bin doch ganz ruhig!«, erwiderte sie tonlos.
John seufzte.
»Möchten Sie reinkommen? Ist es das, was Sie wollen?«, fragte Sophie.
»Nein. Ich weiß, dass ich diese Frage zu einem anderen Zeitpunkt bejaht hätte, aber jetzt stehe ich hier nur aus einem einzigen Grund: Ich habe Angst um Sie! Sehen Sie, als mein Vater gestorben war, da reagierte meine Mutter, die sonst überaus gefühlvoll ist, ähnlich verstört wie Sie. Beinahe hätte ich sie in ihrem Haus allein gelassen, weil ich vermutete, sie trage das alles mit Fassung, doch dann brach sie zusammen. Mein Bruder meinte, es war eine Art Schock, der sich mit Verspätung entladen hat. Zum Glück war ich noch bei ihr. Und ich möchte nicht, dass es bei Ihnen ähnlich verläuft und Sie niemanden haben, der Ihnen beistehen kann.« Mit diesen Worten streichelte er ihr zärtlich über die blassen Wangen.
Es waren nicht seine Worte, die ihren inneren Eispanzer zum Schmelzen brachten, sondern diese zarte, unschuldige Berührung. Tränen schossen Sophie aus den Augen. Sie schaffte es gerade noch, die Zimmertür aufzuschließen und John hereinzubitten, als sie in lautes Schluchzen ausbrach. John nahm sie sanft in den Arm und wiegte sie wie ein Kind tröstend hin und her.
Sophie erinnerte sich nicht, jemals im Leben so herzzerreißend geschluchzt zu haben. Nicht einmal bei der Beerdigung ihres Vaters. Ein Weinkrampf löste den nächsten ab. Dabei wirbelte in ihrem Kopf alles wild durcheinander. Sie weinte um Emma und um ihren Vater Klaas. Dabei empfand sie in Johns Arm eine Geborgenheit, die sie noch niemals zuvor empfunden hatte. Sie hatte keinerlei Scheu, in seiner Gegenwart dem Schmerz nachzugeben und sich den Kummer von der Seele zu weinen.
Tränenüberströmt löste sie sich nach einer halben Ewigkeit aus seiner Umarmung und wandte ihm das Gesicht zu.
Ich möchte mich heute Nacht in seine Arme kuscheln, dachte Sophie, als es an der Tür klopfte.
Verwirrt öffnete sie. »Du?«, entfuhr es ihr.
»Na, das ist ja eine nette Begrüßung für einen armen Mann, der für seine zukünftige Frau um die halbe Welt geflogen ist, um mit ihr ins neue Jahr zu feiern!«, erklärte Jan lachend und trat ein. Da erblickte er den fremden Mann, der auf der Kante des Hotelbettes hockte, und er warf ihm einen betont feindseligen Blick zu.
John erhob sich hastig, reichte der überrumpelten Sophie die Hand und raunte: »Vielleicht rufen Sie noch mal kurz in der Kanzlei an, bevor Sie nach Deutschland zurückfliegen. Ich brauche noch ein paar Anweisungen. Zum Beispiel, wohin Ihr Erbanteil gehen soll. Auf Wiedersehen, Sophie!« Dabei scheute er sich nicht, ihr tief in die Augen zu sehen.
Sie verspürte den Impuls, John aufzuhalten, aber er machte einen zum Gehen entschlossenen Eindruck.
Obwohl Jan ihn mit äußerster Skepsis beäugte, vergaß John seine gute Erziehung nicht und grüßte auch den Deutschen zum Abschied, wenn auch nur sehr knapp.
Jan dagegen blieb stumm und stierte hinter John her, bevor er sich umdrehte und in strengem Ton fragte: »Was war denn das?«
»Mein neuseeländischer Anwalt, der die Beerdigung meiner Mutter nicht nur organisiert, sondern mich zusammen mit seiner Kollegin auch dorthin begleitet und mich gerade getröstet hat, weil ich von Heulkrämpfen geschüttelt wurde«, erwiderte Sophie in scharfem Ton und überlegte noch, ob sie John folgen und sich zumindest bei ihm bedanken sollte.
Doch da forderte Jan bereits vorwurfsvoll: »Ein bisschen mehr Freude über die gelungene Überraschung könntest du ruhig zeigen!« Mit diesen Worten ließ er sich bäuchlings auf ihr Bett fallen und stöhnte: »Das war vielleicht ein langer Flug. Meine Güte! Wie gut, dass wir jetzt noch vier Tage Zeit haben, bis unser Rückflug geht.«
»Was soll das heißen?«, fragte Sophie, obwohl sie bereits ahnte, was Jan ihr damit sagen wollte.
Statt ihr eine Antwort zu geben, griff Jan in die Tasche seines perfekt sitzenden Jacketts und holte zwei Tickets hervor. Mit den Worten »Mein Weihnachtsgeschenk!« überreichte er Sophie ein Rückflugticket erster Klasse nach Deutschland für den zweiten Januar. »Freust du dich?«
Sophie fehlten die Worte. Was als nette Geste ihres Verlobten gedacht war, erschreckte sie bis ins Mark. Sie hatte die Frage, wann sie den Heimweg antreten würde, völlig verdrängt. Ja, sie war nicht einmal stutzig geworden, dass Jan sich seit ihrem letzten Gespräch nicht wieder bei ihr gemeldet hatte.
»Hat es dir die Sprache verschlagen?« Jan betrachtete sie durchdringend.
»Ich, ja, ich weiß gar nicht, ob ich schon nach Hause fliegen möchte ...«
»Sophie, jetzt reiß dich aber zusammen! Ich verstehe ja, dass du durcheinander bist wegen des plötzlichen Tods deiner Mutter, aber nun liegt sie friedlich unter der Erde, genau, wie sie es sich gewünscht hat, und da wird es allerhöchste Zeit, dass du wieder nach Hause kommst.«
Sophie wollte etwas entgegnen, biss sich jedoch auf die Lippen. Es war kein günstiger Moment, ihm anzuvertrauen, dass sie inzwischen selber nicht mehr so ganz genau wusste, wo ihr Zuhause war.
In diesem Augenblick bemerkte sie, dass er die Aufzeichnungen ihrer Mutter vom Nachttisch aufgenommen hatte.
»Bitte nicht!«, flehte sie, trat auf ihn zu und streckte fordernd die Hand danach aus.
»Hast du etwa Geheimnisse vor mir?«, fragte er neckisch und zögerte, ihr den Packen Papiere zu geben.
»Jan, bitte!«, wiederholte sie, aber er lachte nur dröhnend.
»Komm her, hole es dir!«
Sophie nahm ihn beim Wort; sie riss ihm das Manuskript mit einem einzigen Ruck aus der Hand und drückte es fest an die Brust.
»Was ist denn das Geheimnisvolles?«, wollte Jan nun wissen. Er lachte nicht mehr.
»Das sind Aufzeichnungen meiner Mutter über meine Familie.«
»Ach so!«, erwiderte er und grinste wieder. »Und was gibt es für finstere Geheimnisse, die du deinem Mann vorenthalten willst?«
Statt ihm seine Frage zu beantworten, entgegnete Sophie nun, ohne zu zögern. »Ich kann erst zurückfliegen, wenn ich in Pakeha gewesen bin.«
»Pake was?«
»Es ist ein Strandhaus in Ocean Grove, das ich von meiner Mutter geerbt habe.«
»Ein Strandhaus in Neuseeland? Eins in Timmendorf wäre mir lieber«, sagte er scherzhaft.
»Ich muss dort gewesen sein, bevor ich nach Hause fliege«, erwiderte Sophie ernst.
»Wo ist das Problem?«, fragte Jan und fügte entschlossen hinzu. »Wir werden morgen hinfahren, es uns ansehen und den Mindestpreis festsetzen, damit dieser Anwalt es meistbietend verkaufen kann.«
Der Gedanke, mit Jan nach Pakeha zu fahren, behagte Sophie ganz und gar nicht. Aber vielleicht ist es sogar ganz heilsam, redete sie sich schließlich ein. Wenn ich mit ihm hinfahre, entfaltet das Ganze bestimmt keinerlei Zauber und ich kann mich endlich von diesem Land lösen, das mich magisch anzieht und nicht mehr loslassen will.
»In Ordnung!«, erklärte Sophie schließlich und schlug ihm vor, essen zu gehen und sich für morgen einen Wagen zu mieten.
»Unser Rover steht bereits vor der Tür. Ich bin doch vom Flughafen nicht mit dem Bus hergefahren«, bemerkte er nicht ohne Stolz, und sie verspürte sofort ein gewisses Unbehagen bei seinen Worten. Alles, was er sagte, klang so aufgesetzt und diente offensichtlich nur dem einem Ziel: dass sie merkte, was für ein toller Kerl er war, und ihn bewunderte.
Sophie erschrak. Sie hatte Jan tatsächlich einmal dafür bewundert, dass er alles im Griff hatte, sich stets nur mit dem Besten zufriedengab, pragmatisch und berechenbar war. Wo aber ist sein Charme, seine Magie?, fragte sie sich nun. Ich muss mich nur wieder an ihn gewöhnen!, redete sie sich zu, dann wird bestimmt bald alles wieder gut.
An diesem Abend wollte die Vertrautheit sich jedoch nicht einstellen, obwohl sie eines der schönsten Restaurants Dunedin besuchten. Sie aßen köstlich zubereiteten Fisch, plauderten über ihre bevorstehende Hochzeit. Jan raunte ihr über den Tisch hinweg zu, dass sie bezaubernd aussähe, was er ansonsten eher selten tat. Doch Sophie konnte sich nicht freuen. Ihr Unbehagen wuchs, weil Jan sich nicht ein einziges Mal nach ihrer Mutter erkundigte. Hatte er nicht schon immer behauptet, dass Emma eine anstrengende Person sei, die er nur bei bester Laune ertragen könne? Wenn Sophie es sich recht überlegte, hatte er ihre Mutter nie gemocht. Emma war ja auch manchmal anstrengend, dachte Sophie nun, und trotzdem traten ihr die Tränen in die Augen bei dem Gedanken, dass ihre Mutter sie nie wieder mit ihren Launen auf Trab halten würde.
Sie spürte nur allzu genau, dass seine Worte sie ganz und gar nicht berührten. Plötzlich musste sie an John denken. Sie glaubte beinahe, seine tröstende Hand auf ihrer Wange zu spüren.
Sei vernünftig, Sophie!, ermahnte sie sich. Spätestens in vier Tagen trittst du den Heimflug an. Und wenn du dich erst wieder eingewöhnt hast, wird dir Dunedin und mit ihm John Franklin nur noch wie ein Spuk vorkommen. Vielleicht sollte ich das Manuskript einfach in Pakeha lassen. Wenn ich nicht aufpasse, hält mich dieser Unsinn von dem längst vergangenen Fluch noch davon ab, mein Glück zu finden, und das heißt nun mal Jan!, sinnierte sie. Hastig drängte sie zum Aufbruch.
Sophie reichte ihrem Verlobten die Hand mit dem festen Vorsatz, dort anzuknüpfen, wo sie gestanden hatten, als sie in die Ferne gefahren war. Ist das wirklich erst eine Woche her?, fragte sie sich erstaunt.
Als Jan sein Portemonnaie hervorzog, lächelnd das hervorragende Menü lobte und der Kellnerin ein großzügiges Trinkgeld gab, wurde ihr doch ein wenig warm ums Herz. Das hatte sie doch immer so an ihm geliebt - das Weltmännische. Er wusste sich überall zu benehmen und machte stets eine gute Figur.
Erst jetzt nahm Sophie bewusst seinen beigefarbenen Sommeranzug, sein adrettes Hemd und die passende Krawatte wahr. Jan würde sich immer vorher erkundigen, was man in dem Land trug, in das man reiste. Er würde niemals vergessen, Sommerkleidung einzupacken, wenn er an das andere Ende der Welt flog. Und er würde im Leben keine rot-schwarz karierten Holzfällerhemden tragen. Nicht einmal zum Grillen ...
Arm in Arm machten sie sich auf den Rückweg. Ich kann doch ganz zufrieden sein, dachte Sophie seufzend, als sie das Hotelzimmer aufschloss. Er ist ein wunderbarer Mann!
Als Jan sich auszog und seinen wohlgeformten Oberkörper entblößte, ergriff die Lust von Sophie Besitz. Sie wollte ihn berühren, ihn riechen, schmecken, spüren. Als er allerdings seinen Anzug sorgfältig über den Stuhl legte, wandte Sophie sich enttäuscht ab. Sie träumte von ungezügelter Leidenschaft, nicht von ordentlich drapierter Kleidung.
Sophie schälte sich aus ihrem Sommerkleid und legte sich in Dessous verführerisch auf das Bett. Dass Jan jetzt einen Sommerschlafanzug anzog, missfiel ihr. Erst macht er sich bettfertig, und wenn die Leidenschaft ruft, zieht er sich eben wieder aus. Das macht er doch immer so, fiel ihr ein. Warum störte sie das heute? Sie schloss hastig die Augen. Wenn sie ehrlich war, hatte sie das schon immer genervt, aber sie hatte sich stets gesagt: Er hat so viele gute Eigenschaften, da sollte ich großzügig über so etwas hinwegsehen!
Nun stand Jan vor dem Bett und schaute sie an. In seinen Augen lag Begierde. Das versöhnte Sophie, und sie verlangte mit heiserer Stimme: »Komm!«
Jan zögerte nicht, sondern legte sich zu ihr, so dicht, wie er nur konnte. In höchster Erregung, wie Sophie sofort spürte. Wenn sie nicht aufpasste, würde alles ganz schnell gehen. Das passierte in letzter Zeit oft, wenn sie denn überhaupt einmal miteinander schliefen, und das wollte sie unbedingt verhindern.
»Wir haben alle Zeit dieser Welt!«, flüsterte sie.
Im selben Moment stieg Sophie ein fremder Geruch in die Nase, und ihre eigene Lust war so plötzlich verschwunden, wie sie gekommen war. Maiglöckchen! Schon musste sie niesen. Einmal, zweimal, dreimal.
Jan rückte ein Stück von ihr ab. »Bist du erkältet?«, fragte er besorgt.
Sie antwortete nicht, sondern setzte sich abrupt auf. »Wann hast du den Schlafanzug das letzte Mal getragen?«
Sophie erschrak über ihre eigene Stimme. Sie wollte nicht die eifersüchtige Frau sein, die ihren Mann ausfragte und triumphierend der Untreue überführte.
»Was soll das denn werden?« Er klang empört. »Ein Verhör?«
»Nein, nur eine schlichte Frage, auf die ich eine schlichte Antwort erwarte. Wann und wo hast du das Teil zum letzten Mal getragen?«
»Blöde Frage! In Frankfurt. Ich hatte vor dem Abflug noch ein paar Stunden Zeit und habe dort im Hotel noch ein wenig geschlafen«, erwiderte er unwirsch, ohne das geringste Anzeichen von Unrechtsbewusstsein.
»Und was hat deine Referendarin dazu gesagt, dass du sie nach der Nacht allein gelassen hast, um zu deiner Zukünftigen zu fliegen?« Sophie war jetzt ganz ruhig.
»Welche Referendarin?« Jan hatte hektische Flecken im Gesicht.
»Sandra Berg. So heißt sie doch, oder nicht? Die junge Frau, die dich nach Frankfurt begleitet hat, um mit dir im Hotel noch eine Nummer zu schieben, und die dann deinem Flugzeug nach Neuseeland nachwinken durfte. Die Frau, die jetzt in ihre Kissen weint, aber Nacht für Nacht hofft, dass du dich doch noch für sie entscheidest und nicht diese andere heiraten wirst!«, entgegnete Sophie ungerührt.
Wie von der Tarantel gestochen, sprang Jan auf. Er lief ins Bad, brüllte: »So einen Unsinn muss ich mir nicht länger anhören!«, und knallte die Tür hinter sich zu.
Sophie rührte sich nicht. Sie hatte ins Schwarze getroffen. Seine Reaktion war gar nicht anders zu deuten. Eigentlich müsste ich am Boden zerstört oder zumindest wütend sein, dachte sie, aber ihr Herz blieb seltsam kalt. Im Gegenteil, sie war erleichtert, dass sie durch ihre klaren Worte endlich etwas bewegt hatte und die Fassade zu bröckeln begann.
Dennoch war sie fest entschlossen, mit ihm nach Deutschland zurückzukehren. Aber wenn er sie heiraten wollte, musste er sein Verhältnis zu Sandra beenden. Genau das würde sie morgen früh von ihm verlangen. Was hatte Emma immer gesagt? Die Liebe verzeiht beinahe alles! Und Emma hatte Klaas über alles geliebt. Das jedenfalls hatte Sophie ihr Leben lang angenommen. Ob es wirklich so war, werde ich vielleicht niemals erfahren bei der Geheimniskrämerei, die meine Mutter veranstaltet, dachte Sophie missmutig.
So lag Sophie an diesem Abend im dunklen Hotelzimmer wach und hing ihren Gedanken nach. Der Mann, der inzwischen wieder neben ihr lag und in einen tiefen Schlummer gefallen war, schien ihr unendlich fern. Und mit jedem Gedanken an all die Geheimnisse ihrer Familie entfernte sie sich nur noch mehr von ihm, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Anna, die dramatische Fehlgeburt, Emmas Erbe, alles war ihr näher als der Mann, den sie zu heiraten gedachte. Ganz flüchtig fiel ihr John ein. Keine Frage, sie hätte sich ihren leidenschaftlichen Gefühlen hemmungslos hingegeben, wäre Jan nicht gekommen.
Sophie war viel zu aufgewühlt, um zu schlafen. Deshalb knipste sie das Licht wieder an, und sie griff nach dem Manuskript auf ihrem Nachttisch.
Wirklich nur noch ein paar Seiten, redete sich Sophie gut zu. Ein Blick auf ihren Wecker zeigte ihr, dass es drei Uhr morgens war. Sie lauschte. Außer Jans Schnarchen war es gespenstisch still.
Wenn ich die Gewissheit habe, dass es Anna gut geht, dann höre ich auf und rühre das Ding nie mehr an, beschloss Sophie.