Tomahawk, im Dezember 1918

 

Kurz nach Bills drittem Geburtstag wurde Kate bewusst, dass ihre Ersparnisse nahezu aufgebraucht waren. So manches Mal, wenn das Kind im Bett war, saß sie grübelnd auf der Veranda. Häufig musste sie an ihre Großmutter denken. Hatte die nicht auch zurückstecken müssen - wegen Klara? Und es klaglos ertragen? Kate seufzte. Verglichen mit Annas Schicksal geht es mir doch gut, sagte sich Kate. Dennoch musste bald etwas geschehen. Pakeha war ihr geblieben, aber davon wurden sie nicht satt. Sie hatte alles versucht, um ihre Bilder auch ohne Martha zu verkaufen, aber der alte McLean hatte ganze Arbeit geleistet und seinen Einfluss überall spielen lassen.

Es war ein Sonntag, und Bill war mit den Cramers auf einem Kinderfest in der Stadt. Kate überlegte gerade, wo sie das Geld für den morgigen Einkauf hernehmen sollte, als eine Männerstimme sie aus ihren Gedanken riss.

»Guten Tag, Kate!«

Sie schreckte hoch. Das kann doch nicht sein!, sagte sie sich, obwohl es keinen Zweifel gab. Er war sichtlich gealtert. Seine Haut war von der Sonne gegerbt und sein Haar weißblond. Was ihr jedoch besonders ins Auge fiel: Sein spöttisches Lächeln war verschwunden! Er wirkte ernst und mitgenommen.

»Steven. Was machst du denn hier?«, rief sie erstaunt aus.

»Ich habe etwas zu erledigen!« Er trat zu ihr und reichte ihr galant die Hand.

»Was möchtest du trinken?« Fieberhaft überlegte Kate, was sie überhaupt anzubieten hatte. Es gab noch eine letzte Flasche Wein. »Wein?«

Er nickte.

Kate holte den Rotwein und zwei Gläser aus dem Schrank. Täuschte sie sich, oder musterte ihr Schwager sie durchdringend? Sein Blick hatte aber nichts mehr von seiner typischen Überheblichkeit.

»Kate, ich habe die lange Reise deinetwegen unternommen!«, sagte er zögernd, als sie sich gegenübersaßen.

»Meinetwegen?«

Er holte tief Luft. »Kate, würdest du mich heiraten?«

»Bist du verrückt?« Sie sah ihn entsetzt an.

»Es ist nicht, wie du denkst. Ich habe begriffen, dass du meinen Bruder geliebt hast und keinen anderen. Wenn ich wiedergutmachen könnte, was ich dir alles an den Kopf geworfen habe, ich würde es tun. Ich will dir helfen.«

»Indem du mich heiratest?«, fragte Kate ungläubig.

»Hör mir bitte erst zu, bevor du mir vorschnell einen Korb gibst. Mein Vater verfolgt nur ein einziges Ziel: Er will dich in die Knie zwingen. Wenn du vollkommen mittellos bist, will er dir erst Pakeha nehmen und dann dein Kind. Davon ist er besessen, und er wird nicht eher ruhen, bis du vor ihm im Staub liegst!«

»Da kann er lange warten. Er hat kein Recht auf Bill John!«, protestierte Kate trotzig.

»Es geht nicht um das Recht. Es geht um das nackte Überleben. Er weiß, dass du bald am Ende bist. Jane hat mich in ihren Briefen davon unterrichtet, dass er dir alle Wege verbaut und nur darauf wartet, dass du ihm das Kind überlässt.«

»Niemals!«, fauchte Kate.

In diesem Augenblick kam Bill John juchzend den Weg zum Haus gelaufen. Er sprang auf Kates Schoß und beäugte den Gast neugierig aus seinen großen braunen Augen.

Kate bemerkte in Stevens Augen ein feuchtes Glitzern.

»Er sieht aus wie ...«, entfuhr es ihm sichtlich gerührt.

»Ich bin Bill John, und du?«, fragte der Kleine und legte den Kopf schief.

»Dein Onkel Steven.«

Bill John schenkte ihm ein hinreißendes Lächeln.

»Ich komme von weit her. Aus Samoa«, erklärte Steven. »Soll ich dir eine Geschichte von der Insel erzählen?«

Der Junge nickte nur.

Und Steven erzählte tatsächlich in kindgerechten Sätzen von seiner Überfahrt. Er beschrieb das Dampfschiff, ließ die Schiffsglocke läuten und die Möwen kreischen. Er schilderte sein Zuhause auf der großen Plantage, wo die Palmen in den Himmel ragten und köstliche Kokosnüsse abwarfen, von Geckos, die im Schatten auf Beute lauerten.

Bill John war ganz still und lauschte gebannt. Und Kate fühlte plötzlich eine tiefe Sehnsucht nach der Insel, die ihr lange Heimat gewesen und wo sie der Liebe ihres Lebens begegnet war. Sie bemerkte erst, dass Bill John eingeschlafen war, als er ihr vom Schoß zu rutschen drohte.

»Ich nehme ihn und trag ihn dir ins Bett!«, flüsterte Steven.

Kate ließ es zu. Vorsichtig nahm er seinen Neffen auf den Arm, ohne dass der Junge aufwachte. Dann folgte er Kate die Treppe hinauf und legte ihn in das Kinderbettchen.

Als sie wieder auf die Veranda zurückkehrten, herrschte eine Zeitlang Schweigen zwischen ihnen.

Ist das tatsächlich Steven? Wo ist nur sein Zynismus hin, seine Bereitschaft, andere zu beleidigen und zu verletzen?, fragte sich Kate, bevor sie ihn aufforderte, ihr noch mehr von der Plantage zu berichten.

Steven zögerte. »Dich interessiert bestimmt der Klatsch. Also, Brenner ist zum dritten Mal Großvater geworden, obwohl seine Jüngste erst acht alt ist. Und Doktor Wohlrabe ist jetzt mit einer jungen Engländerin liiert.«

»Und wie geht es unserem lieben Brenner gesundheitlich?«

»Er wird alt!«, war seine mitleidslose Antwort.

Kate horchte auf. Da blitzte Stevens Menschenverachtung wieder durch.

»Und wo ist Walter?«

»Er ist bei meiner Haushälterin geblieben. Ich habe ihn gefragt, ob er mit nach Neuseeland fahren möchte, aber er wollte auf keinen Fall zu seinem Großvater.«

»Das kann ich gut verstehen!«, rutschte es Kate heraus.

»Walter ist ein schwieriges Kind. Er ist jetzt sieben, und ich glaube, ihm fehlt eine Mutter«, betonte Steven mit einem prüfenden Blick auf Kate.

Sie biss sich auf die Lippen. Sein Umgang mit ihrem Sohn hatte sie beeindruckt, aber andererseits, wie sollte sie wissen, ob er sich wirklich geändert hatte? Außerdem gab es noch ein viel größeres Problem. Eine Hürde, die niemals zu überwinden sein würde. Sie liebte Bill, und sie würde ihn immer lieben.

»Steven, selbst wenn ich mich zu einem Jawort durchringen würde, es gibt da etwas, was immer zwischen uns stehen wird -«

»Ich weiß, mein Bruder!«

Kate nickte. »Niemals würde ich das Bett mit einem anderen teilen. Würdest du das hinnehmen, Steven?«

»Ja, schon. Aber vielleicht änderst du deine Meinung noch.«

»Worauf ich nicht hoffen würde«, erklärte Kate hastig.

»Glaubst du allen Ernstes, ich bin so naiv zu hoffen, dass du mich jemals lieben würdest? Nein, meine liebe Kate, so vermessen bin ich nicht, aber ich bin bereit, mich damit zufriedenzugeben, dich zu versorgen, wenn du dich auch um meinen Sohn kümmerst. Und ich werde dem kleinen Bill ein guter Vater sein! Ein Geschäft zu beiderseitigem Nutzen!«

»Das heißt, du würdest nicht von mir verlangen, das Bett mit dir zu teilen?«

»Wenn du mir nicht verbietest, dass ich hin und wieder in das Haus der schönen braunhäutigen Frauen gehe. Diskret, versteht sich.«

Eine innere Stimme warnte Kate, auch nur noch einen einzigen Gedanken auf seinen merkwürdigen Antrag zu verschwenden, aber sie überhörte die Mahnung. Sie dachte daran, dass sie bald keine Milch und kein Brot mehr kaufen könnte ...

»Lass mir Zeit bis morgen! Ich möchte eine Nacht darüber schlafen.«

»Gut«, erklärte er und verabschiedete sich.

 

Kate blieb die halbe Nacht regungslos auf der Veranda sitzen. Zwischendurch knurrte ihr der Magen, aber statt das letzte Brot zu essen, trank sie den Rotwein aus, was ihr ein angenehmes warmes Gefühl im Magen verschaffte. Plötzlich erschien ihr das Leben auf Samoa in rosigen Farben, so rosig, wie nur der Sonnenuntergang in Apia sein konnte.

Als sie endlich ins Bett fiel und kurz vor dem Einschlafen war, meinte sie die Stimme ihres Mannes zu hören. Sieh nur. So schlecht ist er doch gar nicht. Er wird dich versorgen.

Steven kehrte am nächsten Morgen nach Pakeha zurück, in der Hand einen Korb. Als Bill John ihn kommen sah, lief er ihm mit ausgebreiteten Armen entgegen und krähte: »Schichten erzählen!«

In Kates Kopf arbeitete es fieberhaft. Er scheint Steven zu mögen. Und ich kann dem verstörten kleinen Walter vielleicht die Liebe geben, die diesem Kind ein Leben lang verweigert wurde. Aber hat Steven sich wirklich verändert, oder spielt er mir nur etwas vor?

Er holte nun aus dem Korb Milch, Brot, Obst und ein paar Leckereien hervor, die Kate das Wasser im Munde zusammenlaufen ließen. Sie überlegte nicht lange. Sie griff zu.

Als Bill John schließlich zu den Cramers lief, um mit Christine zu spielen, war ihre Entscheidung gefallen. »Ich komme mit dir. Aber vorher werde ich Pakeha verkaufen, damit ich auch ein bisschen Vermögen in diese Ehe mitbringe.«

»Nein!«, widersprach Steven heftig. »Schließ es gut ab, und behalte es! Man kann nie wissen, was das Leben noch bringt. Vielleicht brauchst du das Haus noch einmal.«

In diesem Augenblick war Kate gerührt, weil er ihren Herzenswunsch erraten hatte. Und noch Jahre später sollte sie sich darüber wundern.

 

Am Tag ihrer Abreise stand nur die Familie Cramer am Hafen und winkte ihnen nach. Christine weinte und rief laut nach Bill John, der allerdings kein Ohr für ihren Schmerz hatte. Es gab so viel Interessantes an Bord zu entdecken, dass er sogar vergaß, seiner kleinen Freundin noch ein letztes Mal zuzuwinken.

Kate hatte den Cramers den Schlüssel für Pakeha gegeben und ihnen versprochen, dass sie das Haus bekommen sollten, falls sie für immer in Apia blieb.

Es war merkwürdig. Als Dunedin in der Ferne verschwand, wusste Kate, dass sie eines Tages zurückkehren würde.

Mit einem Seitenblick stellte sie fest, dass Steven Bill John auf dem Arm trug, der aufgeregt nach den Möwen zeigte, die das Schiff bis auf das offene Meer hinaus begleiteten. Wer es nicht besser weiß, muss die beiden für Vater und Sohn halten, schoss ihr durch den Kopf.

»Vater ist heute Morgen bei mir im Hotel aufgekreuzt und hat mir viel Geld dafür geboten, damit ich dich und Bill John hier zurücklasse. Ich habe es abgelehnt! Er hat mir zum Abschied gesagt, dass mich der Teufel holen soll!«, raunte Steven Kate ins Ohr. Sie seufzte. Ob sie jemals wiedergutmachen konnte, dass Steven seinem Vater die Stirn geboten und der alte McLean ihn deshalb endgültig verstoßen hatte?

Sie würde zumindest eines versuchen: Walter eine gute Mutter zu sein!