Dunedin, im April 1863

 

Es war keine Nacht vergangen, in der Anna nicht an das unheimliche Spektakel der Maori am Strand denken musste. Und jedes Mal wurde ihr übel dabei, aber sie konnte den Gedanken dennoch nicht verdrängen. Christian war äußerlich unbeschadet von seinem Abenteuer zurückgekehrt.

Dass er Todesängste ausgestanden hatte, begriff Anna, als sie seine Hosen waschen wollte, die er an jenem Abend getragen hatte. Dabei schlug ihr ein so übler Gestank nach Exkrementen entgegen, dass sie diese für immer verschwinden ließ. Die Tatsache, dass er in seiner Panik unter sich gelassen hatte, verstärkte ihren Ekel vor ihm nur noch.

Christian hatte nach jener Nacht sein Verhalten ihr gegenüber noch einmal grundlegend verändert. Er benahm sich wie ein echter Gentleman. Er war zuvorkommend, behandelte Anna wie ein rohes Ei, ja, er trug sie auf Händen, las ihr jeden Wunsch von den Augen ab und hatte nicht mehr ein einziges Mal gewagt, sie anzurühren, nachdem sie bei seinem ersten Versuch »Nein!« gezischelt hatte. Was hat den rücksichtslosen Kerl nur in ein Lamm verwandelt?, fragte Anna sich. Ob er bemerkt hat, dass mir seit Wochen morgens übel ist?

Christian hoffte, dass sie ein Kind unter dem Herzen trug. Sie sah es an seinem Blick.

Anna war sich inzwischen sicher, dass sie ein Baby erwartete. Aber noch wollte sie die Freude nicht mit ihm teilen.

Auf dem Fest, das Christian vor nunmehr acht Wochen endlich für sie gegeben hatte, hatte er ihr die lebenslustige Schottin Mary vorgestellt, die sie seither in Englisch unterrichtete und inzwischen eine gute Freundin geworden war. Als Anna ihr von der morgendlichen Übelkeit erzählte, hatte sie Anna verschwörerisch zugeraunt: »Ein einschlägiges Symptom. Außerdem keine Blutungen mehr, in den Brüsten ein merkwürdiges Ziehen und die Morgenübelkeit so regelmäßig, wie die Kirchturmuhr zwölf Uhr schlägt. Du erwartest ein Kind, Anna!«

Die junge Mary McDowell. Was für eine Bereicherung für mein Leben!, dachte Anna, während sie an diesem Tag beim Schneider ihre neuen Kleider anprobierte. Nicht nur, dass sie beinahe täglich mit ihr Englisch paukte, nein, sie war ihr auch eine echte Freundin geworden und hatte sie zu diesem Schneider geschleppt.

»Er ist wunderbar«, hatte Mary geschwärmt, »schon allein, weil er die steife Krinoline unter den Röcken nicht mehr zeitgemäß findet und allen Kundinnen zur Tornüre rät.«

Anna war schließlich mitgegangen, ganz gespannt auf die Schneiderkunst des sagenhaften Mister Hoang. Sie hatte noch nie zuvor mit einem Chinesen zu tun gehabt und wusste nicht so recht, wie sie ihm begegnen sollte. Der quirlige Mister Hoang aber nahm ihr schon bei der Begrüßung die Unsicherheit. Sein Englisch war perfekt, und er machte ihr sogleich Komplimente ob ihrer wunderbaren Figur.

Alter Schmeichler!, dachte Anna, während sie sich ihrer Freundin nun in einem für ihre Begriffe wegen des Ausschnitts eher gewagten Kleid zeigte. Ein Blick in den Spiegel zeigte ihr, dass es tatsächlich wie für sie gemacht war. Ihre aufgesteckten blonden Locken kamen voll zur Geltung, und ihre Haut schimmerte verführerisch.

Mary war ganz außer sich vor Begeisterung. Sie überschüttete die Freundin mit Lob und kommentierte begeistert jede Spitze und jede Rüsche. Anna selbst gefiel dieses elegante hellblaue Kleid auch, aber sie spürte an diesem Tag mehr als deutlich, dass es bald zu eng sein würde.

»Das steht Ihnen so wundelbal, das ist wie fül Sie geschneidelt!«, rief Mister Hoang und klatschte vor Begeisterung in die Hände.

»Warten Sie!«, bat sie den Schneider und beugte sich verschwörerisch zu Mary hinunter. »Ich glaube, ich bin wirklich schwanger. Soll ich es trotzdem nehmen?«

Marys Antwort war eine heftige Umarmung. Dann erteilte sie Mister Hoang ein paar Anweisungen, die Anna nicht verstand. Sie hatte zwar fleißig Englisch gelernt, aber nach zwei Monaten Unterricht beherrschte niemand diese Sprache perfekt. Außerdem sprach Mary, wenn sie Anna nicht gerade unterrichtete, mit einem schottischen Einschlag, der schwer zu verstehen war. Und so redete sie jetzt auf Hoang ein, kicherte zwischendurch und warf Anna einen wissenden Blick zu.

Mary bezeichnete sich stets scherzhaft als Eingeborene, war aber eine Schottin durch und durch. Mary McDowells Familie war bereits 1848 mit den ersten Siedlern nach Otago gekommen. Mary war hier geboren und betrachtete sich deshalb als Einheimische. Als Anna ihr widersprochen und sie auf die Maoris verwiesen hatte, hatte Mary nur laut gelacht. »Ich meine doch richtige Menschen«, hatte sie glucksend erwidert. Diese herabsetzende Bemerkung über die Ureinwohner der Insel hatte Anna missfallen. Dabei war ihre Freundin eigentlich eine überaus freundliche Person und mit ihren sechsundzwanzig Jahren bereits eine erfahrene Frau, die schon einen zweijährigen Sohn hatte. Timothy war ihr ganzer Stolz, ein hübscher, blond gelockter Sonnenschein, der von allen heiß geliebt wurde.

»Was hast du zu ihm gesagt?«, fragte Anna neugierig.

»Dass er alles so ändern soll, dass du es auch tragen kannst, wenn du in anderen Umständen bist!« Mary kicherte und umarmte Anna gleich noch einmal.

Anna liebte jeden Tag, den sie mit Mary verbringen durfte, und das waren viele, denn Christian befürwortete diesen Kontakt zu der jungen Neuseeländerin ausdrücklich. Anna ahnte, dass der Grund weniger in Marys herzerfrischender Art lag als vielmehr in der gesellschaftlichen Stellung ihres Ehemanns John. Der Anwalt war ein wichtiger Geschäftspartner für Wortemann & Peters, da er sämtliche Verträge der Handelsniederlassung aufsetzte.

So hatten die beiden Frauen den Segen ihrer Männer und unternahmen neben dem Englischunterricht häufig gemeinsame Ausfahrten. Auf diese Weise lernte Anna ihre neue Heimat besser kennen. Inzwischen hatte sie sogar die Angst vor fremden Tieren verloren, denn Mary behauptete stets, dass in Neuseeland gar keine wilden Tiere existierten, was Anna außerordentlich beruhigend fand. Von der exotischen Vogelwelt der Insel konnte Anna nicht genug bekommen. Am Strand hatte Mary ihr Möwen mit mächtigen Schwingen gezeigt und seltsam aussehende Vögel, die nicht flogen, sondern am Wasser entlangwatschelten. »Das sind Pinguine«, hatte Mary ihrer Freundin erklärt.

»Zieh dich an, wir trinken noch einen Tee bei mir!«, schlug Mary nun vor und lehnte sich im Sessel zurück.

Anna konnte sich nicht helfen. In Gegenwart dieser weltgewandten Person fühlte sie sich manchmal furchtbar unerfahren und linkisch. Dabei stammte sie selbst und nicht etwa Mary aus einer Weltstadt.

»Ich glaube, ich muss nach Hause. Es ist schon so spät!« Anna trat in ihrer Straßenkleidung hinter dem prächtigen Paravent des Schneiderateliers hervor.

»Wozu hast du Paula?«, entgegnete Mary und hakte die Freundin unter. Arm in Arm traten sie auf die Straße. »Komm doch noch auf einen Sprung mit zu Mildred!«, schlug Mary übermütig vor und zog Anna in den Laden der geschäftstüchtigen Hutmacherin Mildred Evans.

Beide Frauen hatten eine neue Kreation auf dem Kopf, als sie den Laden verließen.

»Guck mal, wie sie hinter uns herschauen!«, sagte Mary kichernd, als sie an einem der vielen Saloons vorbeigingen, vor dem einige Männer standen, denen unschwer anzusehen war, dass sie Farmer aus den Bergen waren.

Anna waren die Blicke der Männer eher unangenehm.

»Und nun gehen wir noch zu mir!«, befahl Mary.

»In Ordnung!«

Es war schwer, Mary einen Wunsch abzuschlagen. Sie hatte ein gewinnendes Wesen, und man konnte ihr schlecht widersprechen. Ihren eisernen Willen versteckte sie hinter ihrem Charme.

Mary war es auch gewesen, die Anna ein schottisches Hausmädchen besorgt hatte, das sie ihr mit den Worten »Wie gut, dass diese dunkle Frau aus eurem Haus fort ist!« angedient hatte. In Momenten wie diesen wurde Anna wieder schmerzhaft an Hine erinnert. Sie hatte sich selbst untersagt, an die Maorifrau zu denken. Denn sie hatte erkannt: Solange Hine ihr Denken beherrschte, würde sie, Anna, niemals ein eigenes Leben in Dunedin beginnen können. Wenn jemand über Hine sprach, merkte Anna allerdings, wie dünn die Decke des Vergessens war. Zum Glück geschah das selten.

Mary bestellte eine Kutsche, die sie zu ihrem bezaubernden Heim brachte, das Anna stets vor Neid erblassen ließ. Das Haus schien Anna von außen wie eine kleine Burg, aber Mary pflegte Annas ehrliche Bewunderung stets mit einem schlichten »Es ist einfach schottisch!« zu dämpfen. Auch innen war alles prächtig gestaltet. Kronleuchter, üppige Möbel, edles Mahagoni, wohin das Auge blickte.

Anna fand nicht nur das Haus, sondern auch ihre Freundin außergewöhnlich hübsch. So hübsch, dass sie sich selbst eher unscheinbar vorkam. Und das, obwohl ihr die Kavaliere in Hamburg oft zu verstehen gegeben hatten, dass sie schön sei. Besonders für ihre dunkelblonden Naturlocken hatte sie viele Komplimente geerntet. Aber Tante Margarete hatte stets betont, sie sei viel zu dürr, um als hübsch zu gelten. Mary hingegen war eine üppige rothaarige Schönheit mit einem ebenmäßigen blassen Teint mit einer auffälligen Wirkung auf Männer, worüber sich die lebensfrohe Schottin offensichtlich nur amüsierte, denn sie hatte allein Augen für ihren John.

Das konnte Anna nur zu gut verstehen. Sie wurde jedes Mal ein wenig verlegen, wenn sie Marys gut aussehendem Mann begegnete.

John McDowell war hochgewachsen, hatte schwarzes Haar, eine gerade Nase, wache Augen, ein kantiges Gesicht und sprühte nur so vor Charme. Dabei blieb er im Gespräch nicht an der Oberfläche, sondern sagte zu allem und jedem wirklich kluge Dinge. Obwohl er ein erfolgreicher Anwalt mit der nötigen Härte war, besaß er eine ungewöhnlich warmherzige Ausstrahlung.

Mary ist zu beneiden!, dachte Anna seufzend. Vor allem, weil sie einen Mann geheiratet hat, den sie wirklich liebt. Wahrscheinlich heißt sie ihn sogar auf ihrer Bettseite willkommen. Manchmal war Anna versucht, Mary ihr Leid zu klagen, aber eine innere Stimme warnte sie davor, ihrer Freundin anzuvertrauen, wie sehr sie Christians körperliche Annäherungen verabscheute. Einmal abgesehen davon, dass es unschicklich war, über solche Angelegenheiten zu sprechen.

»Hast du etwas auf dem Herzen? Du schaust so grüblerisch. Dann sag es nur!«, forderte Mary Anna jetzt auf, als sie im Salon ihres Hauses den Tee tranken.

Anna schüttelte den Kopf. »Es ist nichts weiter. Ich dachte nur daran, wie Christian es aufnehmen wird, wenn ich ihm sage, dass ich in anderen Umständen bin.«

»Er wird trunken sein vor Glück«, versicherte Mary ihr und bat sie, noch ein wenig zu bleiben.

Anna gab vor, es nicht erwarten zu können, Christian endlich von ihrer Schwangerschaft zu berichten. Dabei wollte sie nur allein sein. Das geballte Glück ihrer Freundin war ihr in diesem Augenblick einfach zu viel. Anna fragte sich tief in ihrem Herzen, ob sie das Bild einer heilen Familie nach außen wohl würde aufrechterhalten können, wenn das Kind erst geboren war. Sie liebte dieses Wesen, das in ihr heranwuchs, schon jetzt mit einer Heftigkeit, die wehtat.

Als sie in der Kutsche saß, hing Anna immer noch ihren düsteren Gedanken nach. Sie mochte Mary sehr, aber es wäre keine gute Idee, ihr den Kummer ob ihrer unglücklichen Ehe oder gar das Geheimnis der Nebelfee anzuvertrauen. Mit Erstaunen hatte Anna inzwischen festgestellt, dass die Leute Christian mochten und für einen integren und überaus zuverlässigen Menschen hielten. »Dein Mann hat etwas von einem Wikinger. Er wirkt so stark und männlich!«, hatte Mary Anna neulich bewundernd zugeraunt. Wenn sie bloß wüsste!, dachte Anna niedergeschlagen. Je mehr sie sich der Siedlung mit den Holzhäusern näherten, desto schwerer wurde ihr ums Herz. Sie fürchtete sich davor, in ihr karges Heim und zu ihrem ungeliebten Mann zurückzukehren.

 

Anna erzählte Christian an diesem Abend nicht von dem Kind. Wie so oft saßen sie sich am Tisch stumm gegenüber. Paula konnte kochen, was sie wollte, Freude wollte bei den Mahlzeiten niemals wirklich aufkommen. Sosehr Christian sich auch seit jener entsetzlichen Nacht bemühte, ein guter Ehemann zu sein, es entwickelte sich trotzdem keine Nähe zwischen ihnen. Außerdem war Christian kein Mann der großen Worte. Wenn er von sich aus redete, dann am liebsten über seine Geschäfte, ein Thema, das Anna nicht sonderlich interessierte. Christian wirkte an diesem Abend allerdings noch abwesender als sonst. Er würde mit Sicherheit kein Ohr für den Zustand seiner Frau haben. Das jedenfalls redete sich Anna ein, denn sie wollte das Kind noch ein wenig für sich allein haben. Auch wenn sie wusste, dass Christian der Vater war, so hatte sie doch das Gefühl, es würde nur ihr gehören und nicht diesem wortkargen Hünen, der ihr schmatzend gegenübersaß.

 

Am nächsten Tag, an einem wunderschönen Herbstnachmittag, saßen die beiden Freundinnen unter einem Sonnenschirm auf Marys Veranda. In Hamburg fängt jetzt bald der Frühling an, dachte Anna, während sie den immer noch üppig blühenden Garten betrachtete. Ihr Blick blieb an fremdartigen grünen Bäumen hängen, die rund um den künstlich angelegten Teich wuchsen.

Mary war eine aufmerksame Gastgeberin und folgte dem Blick der Freundin.

»Du solltest die mal im Dezember sehen. An Weihnachten blühen die Rata, die Eisenbäume, in einem Rot, dass es eine wahre Freude ist.« Dann beugte sich die Freundin zu Anna herüber und raunte verschwörerisch: »Und, was hat er gesagt?«

»Ich habe ihn gestern gar nicht gesehen!«, antwortete sie ausweichend und setzte schnell hinzu: »Es ist so schön hier!«

»Dann wirst du erst über unser neues Haus staunen«, erklärte Mary übermütig und schilderte der Freundin nun ohne Pause, wie atemberaubend schön es werden würde. Dabei schwärmte sie in den höchsten Tönen von den Entwürfen des Architekten Robert Arthur Lawson, dessen Entwurf für die presbyterianische Kirche kurz zuvor die Ausschreibung für das Gotteshaus gewonnen habe. Dabei aßen sie köstliche Plätzchen, die Mary selbst gebacken hatte, und tranken Tee.

Anna hörte nur mit halbem Ohr zu. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie Marys Sohn Timothy, der wild durch den Garten tobte. Er rannte auf stämmigen Beinchen von Blume zu Blume, um Schmetterlinge zu jagen. Anna konnte den Blick gar nicht von diesem süßen Geschöpf wenden und hoffte insgeheim, dass sie auch so einem properen blonden Lockenkopf das Leben schenken würde.

Nun hielt Mary in ihrer Schwärmerei inne, legte die Hand zärtlich auf den Bauch und flüsterte: »Ich werde dir ein Geheimnis verraten. Ich glaube, Timothy bekommt ein Geschwisterchen!«

Schon fielen sich die Freundinnen in die Arme und stellten sich nun in allen Einzelheiten vor, wie ihre beiden Kinder später einmal zusammen spielen würden. In dem Park hinter Marys neuem Haus oder aber in dem Garten, der oben auf dem Berg einen Blick über die Bucht bot und einmal zu Annas Anwesen gehören würde. Die Aussicht, dass die Freundin auch ein Baby erwartete, ließ Anna ihren Kummer eine Weile vergessen.

»Deine Wangen sind ganz rosig geworden«, rief Mary begeistert aus. »Das steht dir gut!«

Anna lächelte über das ganze Gesicht. Vielleicht wird doch noch alles gut, wenn wir erst zu dritt und umgezogen sind, dachte sie voller Zuversicht.

Als John heimkehrte und seiner Frau im Vorbeigehen zärtlich über die roten Locken strich, schwand Annas Hoffnung jedoch wieder. Ihr war plötzlich zum Weinen zumute. Ihr würde in diesem Leben niemand eine solch innige zärtliche Geste schenken. Kein Mann würde sie je so berühren. Nein, sie würde alle Zärtlichkeit, die sie in sich trug, allein ihrem geliebten Kind zuteil werden lassen. Sanft strich Anna über ihren Bauch. Heute würde sie es endlich Christian mitteilen, bevor er es von anderen erfuhr. Bald würden es die Spatzen von den Dächern pfeifen.