Dunedin, im Januar 1870
Nun war John fort und mit ihm Timothy. Es war für Anna kaum zu ertragen, wenn sie die Klatschbasen Dunedins die Köpfe zusammenstecken sah, weil es im Moment nur ein einziges Thema gab: die bevorstehende Hochzeit von John McDowell mit dieser »Wellingtoner Dame«, wie Emily Brown Lucille McMyer nannte.
»Wissen Sie, wie die Wellingtoner Dame aussieht?« Mit dieser indiskreten Frage hatte sie Anna neulich erst im Kolonialwarenladen überfallen. »Er ist doch sozusagen ein Freund Ihrer Familie.« Der anzügliche Unterton war unüberhörbar gewesen.
»Sie ist bildhübsch, habe ich mir sagen lassen. Sagenhaft schön sogar!«, hatte Anna geantwortet und sich an Emily Browns verblüfftem Gesicht geweidet.
Die aber hatte ihre Neugier nicht mehr zügeln können. »Und, reisen Sie zur Hochzeit im Februar?«, wollte sie wissen.
»Sicher, denn es soll schließlich ein rauschendes Fest werden, das man in Wellington noch nicht gesehen hat«, hatte Anna übertrieben schwärmerisch erwidert und war geschäftig davongerauscht.
An das Gespräch musste Anna an diesem Januartag denken, während sie nur mühsam den Würgereiz unterdrücken konnte. Was Emily Brown wohl erst sagen würde, wenn sie wüsste, dass ich ein Kind von John McDowell erwarte!, überlegte Anna. Zunächst hatte sie ihre Übelkeit auf ein Stück Lammbraten geschoben, das wohl nicht mehr ganz frisch gewesen war. Das Ziehen in ihrer Brust und das Ausbleiben der Regel hatte sie allerdings nicht mehr damit erklären können. Inzwischen sah sie der Wahrheit schonungslos ins Auge, und sie kam aus dem Grübeln gar nicht mehr heraus. Unter dem Vorwand eines magenbedingten Unwohlseins hatte sie sich in ihr Zimmer zurückgezogen. Sie war froh, dass Klara nicht im Haus war, sondern in Wellington bei John und Timothy, wo sie bis zur Hochzeit bleiben würde. Ihre Tochter war eine so gute Schülerin, dass man ihr den Aufenthalt problemlos über die Ferien hinaus gestattet hatte.
In der Hand hielt Anna einen Brief ihrer Tochter, und immer wieder las sie verzweifelt den Passus: Lucille ist ein Schatz. Sie hat sich immer eine Tochter gewünscht und kümmert sich ganz lieb um mich!
Annas Übelkeit verschlimmerte sich nur noch, als sie erkannte, dass sie dieser Lucille ein unglaubliches Leid zufügen würde, denn sie sah keinen anderen Ausweg, als John von diesem Kind zu erzählen. Sie musste sich scheiden lassen und den Antrag, den er ihr im letzten Jahr gemacht hatte, annehmen. Dieses kleine Wesen, das da in ihr heranwuchs, duldete keine andere Lösung. Sie würde es nicht übers Herz bringen, in Christians Bett zurückzukehren, um ihn glauben zu machen, das Kind wäre von ihm. Wahrscheinlich wäre er vor Freude außer Rand und Band und würde nicht nachrechnen.
Allein bei dem Gedanken schüttelte es Anna. Sie konnte ja nicht einmal mehr mit ihm bei Tisch sitzen, so sehr widerte sie es an, wenn er getrunken hatte und immer hemmungsloser obszönes Zeug daherredete. Nur in Klaras Gegenwart riss er sich zusammen. Dann war er der beste Vater, den ein Kind sich vorstellen konnte.
Anna wusste auch schon, wie sie es John mitteilen würde. Einen Brief hatte sie bereits angefangen, aber es fehlten ihr noch die rechten Worte. Immer wieder verwarf sie das, was sie niedergeschrieben hatte. Vielleicht sollte sie gar nicht durch die Blume sprechen, sondern offen schreiben, was geschehen war. Seufzend griff sie zu einem leeren Blatt und begann noch einmal.
»Lieber John,
unsere Nacht in St Clair ist nicht folgenlos geblieben. Ich trage unser Kind unter dem Herzen. Ich würde mir nichts sehnlicher wünschen, als dass ich deinen Antrag nun immer noch annehmen dürfte. Wenn du aber Lucille heiraten willst, dann werde ich dir keine Probleme machen. Christian werde ich in jedem Fall verlassen ...«
Stöhnend legte Anna den Brief aus der Hand. Sollte sie das Thema Lucille überhaupt ansprechen? Tief in ihrem Herzen wusste sie doch, dass er nicht eine Sekunde zögern würde, sich zu ihr und dem Kind zu bekennen. Plötzlich war sie so entsetzlich müde. Morgen muss ich den Brief endlich abschicken, dachte sie, damit er noch rechtzeitig vor der Hochzeit eintrifft.
Als sich erneut Mitgefühl mir jener Lucille, die sie bislang nur aus Erzählungen kannte, einstellen wollte, legte sie sich sanft die Hand auf ihren Bauch und versuchte an etwas Schönes zu denken. Das fiel ihr nicht besonders schwer. Schon sah sie Klara und Timothy mit dem Kleinen, einem blonden Wildfang wie Timothy damals, im Garten umhertollen, während John von der Arbeit heimkam - ein Bild, das ihr Herz erwärmte: Liebevoll streichelt er ihr über das Haar und flüstert: »Ob es dieses Mal ein Mädchen wird?« Sie würde noch ein weiteres Kind mit John bekommen. Dann hätte sie endlich eine große Familie, wie sie es sich immer gewünscht hatte. Mit diesem Gedanken schlief Anna glücklich ein.
Sie erwachte von lautem Gepolter und unflätigem Geschrei. »Ich bin ein Mann. Ein ganzer Mann!«, lallte Christians Stimme vor ihrer verriegelten Tür. Sie spürte ihr Herz schneller schlagen, rührte sich jedoch nicht.
»Ich werde mir mein Recht jetzt nehmen. Hast du verstanden, du kaltes Stück Fleisch, du!« Mit diesen Worten ließ er sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür fallen. Es krachte gefährlich.
Anna kroch ein Stück tiefer unter die Bettdecke.
»Kommst du freiwillig in mein Bett, oder muss ich dich aus deinem Zimmer prügeln?«
Anna wurde eiskalt. Das war mehr als eine leere Drohung, und sie betete, der Spuk möge schnell vorübergehen.
Wieder krachte es laut, und er drohte: »Du Miststück, ich werde dich lehren, was es heißt, dem Manne untertan zu sein.«
Anna setzte sich im Bett auf. Holz splitterte. Schon wankte seine massige Gestalt ins Zimmer. Ehe sie sich versah, stand er neben ihrem Bett. Im Mondlicht wirkte er gespenstisch bleich.
»Ich frage dich ein letztes Mal: Lässt du mich freiwillig rein, oder soll ich dich windelweich prügeln?«, lallte er und beugte sich zu ihr hinunter. Eine Fahne billigen Fusels wehte ihr entgegen.
»Bitte, Christian! Nein!«, flehte sie. »Lass uns morgen darüber sprechen, wenn du wieder nüchtern bist.«
Das brachte ihn nur noch mehr in Rage. »Sag mir nicht, dass ich zu viel getrunken habe. Ich werde dir schon beweisen, dass ich meine Pflicht erfüllen kann.« Mit diesen Worten griff er nach ihrer Hand und presste sie an seinen Schritt.
Sie würgte gegen ihren Brechreiz an, als sie sein hartes Geschlechtsteil spürte. »Bitte. Nicht heute!«, bettelte sie, aber er schien sich durch nichts davon abbringen zu lassen.
Mit geringschätziger Miene musterte er den Brief auf dem Nachttisch und zischelte: »Ich brauche keine Frau, die schreiben kann, ich will eine, die mir zu Willen ist.«
Anna schnürte es vor Schreck die Kehle. Der Brief! Was würde geschehen, wenn er ihn las? »Gut, ich komme mit dir!«, versprach sie mit bebender Stimme und erhob sich. Ihre Knie zitterten. Niemals würde sie mit ihm gehen! Aber sie musste erst den Brief in Sicherheit bringen, bevor sie fortlief. Mit klopfendem Herzen griff sie zielgerichtet danach und ließ ihn geschickt unter ihrem Kopfkissen verschwinden, während sie seine Aufmerksamkeit mit ihren Worten zu fesseln versuchte: »Mach mit mir, was du willst. Du bist mein Mann!«
Schon wähnte sie den Brief in Sicherheit, als sie ein teuflisches Grinsen in seinem Gesicht wahrnahm. Unsanft schubste er sie zur Seite und holte triumphierend das Schreiben unter dem Kopfkissen hervor. Mit kaum verständlicher Stimme las er ihre Worte an John immer und immer wieder laut vor, als begriffe er nicht, was das zu bedeuten hatte. Dann ließ er das Schreiben jäh fallen, packte sie, warf sie auf das Bett, riss das Nachthemd nach oben, drückte ihre Beine grob auseinander und schimpfte lauthals: »Du Hure, du elende Hure!« Dabei machte er Anstalten, in sie einzudringen, doch er trug noch seine Hose. Er ließ von ihr ab, um sich auszuziehen. Fieberhaft nestelte er an sich herum.
Anna überlegte fieberhaft. Was konnte sie nur tun, um seiner Rache zu entkommen? Erleichtert bemerkte sie, dass er körperlich nicht in der Lage sein würde, in sie einzudringen. Anna wollte bereits aufatmen, doch da riss er sie am Haar hoch und lallte: »Du hast mich entmannt. Du hast mich betrogen. Ruf nur nach deinem John, aber er wird dich nur noch einmal sehen. Auf deiner Beerdigung!«
Unter groben Flüchen packte er sie unter den Achseln und schleppte sie zur Treppe. Anna hatte immer noch Hoffnung, dass er von ihr ablassen würde, bis sie einen Tritt im Kreuz spürte. Im Fallen dachte sie nur, wie gut es doch sei, dass Klara nicht im Haus war. Kurz vor dem Aufprall murmelte sie: »Mein Kind!«