Dunedin, 19. Juli 1867
Anna kuschelte sich noch tiefer in den Wollmantel, den sie über ihrem Ballkleid trug. Dieser kalte, stürmische und regnerische Wintertag lud nicht gerade zum Ausgehen ein. Sie stand vor der Tür ihres Hauses an der Princes Street und wartete bereits eine ganze Weile auf die bestellte Kutsche. Sie überlegte, ob sie noch einmal ins Kinderzimmer gehen sollte, um Klara und Timothy einen Abschiedskuss zu geben, doch das würde Paula bestimmt nicht gern sehen.
»Sie sind doch nur auf ein Fest eingeladen und machen keine wochenlange Schiffsreise!«, hatte sie ihr deutlich zu verstehen gegeben, nachdem Anna die Kinder immer wieder geherzt und geküsst hatte. Paula hatte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, weil die beiden Anna stürmisch umarmt und dabei ihr Ballkleid hätten beschmutzen können.
Sie seufzte. Nein, sie würde geduldig auf die Kutsche warten und sich auf John McDowells Abschiedsfest freuen, obwohl es gemischte Gefühle in ihr auslöste. Man hatte John kürzlich in das neue Parlament von Wellington gewählt, und er würde die Stadt nun in wenigen Tagen verlassen. Bei dem Gedanken, dass er fortging, wurde Anna sehr traurig zumute. Der einzige Trost war, dass er Timothy in ihrer Obhut lassen und jede freie Minute nach Dunedin reisen würde, um seinen Jungen zu besuchen. Mühsam hatte Anna ihn davon überzeugt, dass es seinem Sohn wesentlich besser in ihrem Haus ergehen würde als in der Fremde, wo er seinen Vater doch kaum zu Gesicht bekäme. Außerdem waren Klara und Timothy unzertrennlich, seit sie wie Geschwister aufwuchsen, denn die Tage verbrachte der kleine Blondschopf seit Marys Tod ohnehin bei Anna. Timothy war ihr längst wie ein eigenes Kind ans Herz gewachsen.
Auch Christian liebte den Jungen über alles und verwöhnte ihn über die Maßen. Das hätte Anna sicher einen Stich gegeben, wenn ihr Mann Klara immer noch nicht wahrnehmen würde, aber sein Verhältnis zu seiner Tochter hatte sich grundlegend geändert. Er las ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Wenn er mit ihr zusammen war, wurden seine Züge weich und aus dem groben Klotz wurde ein großes tapsiges Kind, das auf dem Fußboden herumrobbte, auf dem Rücken die Tochter, die ihn mit Befehlen wie »Hüh, Pferdchen, hüh!« antrieb. Zu solcher Hingabe war Christian fähig, wenn er nüchtern war, was allerdings immer seltener vorkam.
Wenn er abends überhaupt nach Hause zurückkehrte, dann meist volltrunken. Oft hörte sie ihn nachts vor der Tür ihres Schlafzimmers torkeln, das sie sich eingerichtete hatte und stets fest verschlossen hielt vor Angst, er könne versuchen, zu ihr einzudringen.
Seit Christian Anna das erste Mal geschlagen hatte, lebten sie nicht mehr wie Mann und Frau zusammen, sondern gleichgültig nebeneinander her. Christian sorgte dafür, dass sie ein Dach über dem Kopf und genug zu essen hatten, sie kümmerte sich um den Haushalt und vor allem um die beiden Kinder - ihre ganze Freude. Außerdem begleitete sie ihn zu allen gesellschaftlichen Ereignissen und gab die schöne Frau an seiner Seite. Auf dem gesellschaftlichen Parkett der Stadt eine gute Figur zu machen war Christian immer sehr wichtig gewesen - bis heute. Ungepflegt war er erst gegen Mittag nach Hause getorkelt, hatte sich auf sein Bett geworfen und war durch nichts zu wecken gewesen.
Geduldig hatte sich Anna zu ihm gesetzt und mit Engelszungen auf ihn eingeredet, dass er sich für Johns Fest fertig machen müsse. Christian aber hatte nur unkontrolliert um sich geschlagen und gelallt: »Lass mich in Ruhe!«
Da hatte Anna beschlossen, der Gesellschaft auch fernzubleiben, aber schließlich war Christian doch noch aufgewacht und hatte sie deshalb wüst beschimpft. In einem Tobsuchtsanfall befahl er Anna, allein zu John zu fahren. Unter Tränen hatte sie schließlich das Ballkleid angezogen, das sie bei Mister Hoang eigens für dieses Fest bestellt hatte.
»Sie sehen entzückend darin aus!«, hatte Paula ausgerufen und zugleich einen besorgten Blick auf ihre verweinten Augen geworfen.
Als die Kutsche vorfuhr, sah Anna sich noch einmal um in der Hoffnung, Christian würde doch noch in seinem feinen Zwirn aus der Haustür treten, doch vergeblich. Sie ahnte, dass sein Fernbleiben jede Menge Klatsch auslösen würde. Aber weit schlimmer war die Tatsache, dass Christians Geschäfte mittlerweile unter seinem ausschweifenden Lebenswandel litten. Anna bangte insgeheim um ihre und Klaras Existenz. Wenn da nicht das Geld wäre, das John ihr Monat für Monat für die Betreuung Timothys zusteckte ... Hin und wieder spielte sie mit dem Gedanken, mit ihrer Tochter nach Hamburg zurückzugehen, denn mit einem Kind konnten die Wortemanns sie schlecht abweisen. Doch dieser Flecken Erde war vor allem für Klara so etwas wie eine Heimat geworden, und sie wollte ihrer Tochter den Vater nicht nehmen.
Die kleine Burg, wie John McDowells Anwesen in Dunedin genannt wurde, war hell erleuchtet. Kutschen stauten sich vor dem Eingang. Die ganze Stadt schien auf den Beinen. Anna war unwohl. Sollte sie sich wirklich allein in das Getümmel stürzen? Ihr Herz klopfte voller Vorfreude auf einen Tanz mit John, aber sie hasste die neugierigen Blicke der Klatschweiber, die mit Sicherheit jeden ihrer Schritte mit Adleraugen beobachten würden. Zögernd betrat sie den Salon.
Emily Brown, die Frau des Richters Sam, begrüßte Anna überschwänglich mit den Worten: »Da hat Mister Hoang sich aber selbst übertroffen!« Etwas Lauerndes lag in ihrem Blick, der suchend umherschweifte. »Wo ist denn Ihr Gatte?« Das Lächeln war verschwunden.
»Der konnte mich leider nicht begleiten. Er ist auf einer Geschäftsreise«, log Anna, ohne rot zu werden.
Emily Brown legte sofort besitzergreifend die Hand auf den Arm ihres Sam. »Na, dann werden sich die Herren aber freuen«, erwiderte sie, was ihr einen strafenden Blick des Richters einbrachte, den die übergewichtige Emily übersah. »Böse Zungen munkeln, Ihr Mann habe sich ein Haus unten in Hafennähe neben der Handelsniederlassung zugelegt. Wollen Sie etwa umziehen?«
Anna trieb es die Schamesröte ins Gesicht. Auch Sam Brown schien das Verhalten seiner Frau nicht zu billigen. »Dummes Geschwätz!«, murmelte er. »Geben Sie nichts darauf!«
Emily hakte sich daraufhin bei ihrem Gatten unter, als wolle Anna ihn ihr wegnehmen. Dabei war der Richter ein untersetzter ältlicher Herr, der nicht gerade anziehend auf die Damen wirkte. Doch selbst wenn er ein schöner, stattlicher Kerl gewesen wäre, Annas Herz schlug nur für den einen. Und der näherte sich gerade schnellen Schrittes, als müsse er Anna aus Emilys Fängen retten.
»Darf ich bitten?«, fragte John strahlend und reichte Anna den Arm.
»Was hat die alte Hexe dir an den Kopf geworfen? Du sahst aus, als hättest du einen Geist gesehen«, raunte John ihr zu, während er sie zur Tanzfläche führte.
»Ach, nichts!«
Anna war nicht gewillt, sich den Abend verderben zu lassen. Dennoch verweilten ihre Gedanken bei Emilys Worten. Dass Christian sich mit anderen Frauen vergnügte, war eine Sache, aber dass er sich mit einer von ihnen offensichtlich ein eigenes Heim schuf und seine Ehefrau zum Gespött der Leute machte, erregte ihren Zorn. Wenn Emiliy Brown davon wusste, dann wusste es zweifellos bereits die ganze Stadt!
Erst als John sie auf die Tanzfläche zog und den Arm um ihre Taille legte, vergaß sie Christian. Leicht wie eine Feder fühlte sie sich, als John sie herumwirbelte. Wie sie es genoss, mit diesem attraktiven Mann zu tanzen! Die Hitze seines Körpers, sein angenehm männlicher Duft, seine zupackenden Hände, seine gütigen Augen! Sie hatte schon oft mit ihm getanzt, und doch war es heute anders. Christian stand nicht am Rande der Tanzfläche und beobachtete jede ihrer Bewegungen. Sie waren allein. Nur John und sie. Anna versuchte alle Sorgen zu vergessen und sich ihren prickelnden Empfindungen hinzugeben.
Es war wie ein Rausch, der ein jähes Ende fand, als Albert McDowell auf sie zutrat, eine Verbeugung andeutete und höflich fragte: »Darf ich mit deiner schönen Partnerin auch mal ein Tänzchen wagen?« Sein Blick war grimmig.
John blieb freundlich und erwiderte seinem Bruder scherzend: »Aber nur das eine, wenn ich bitten darf!«
Anna lächelte ebenfalls krampfhaft, als sie sich nun von Albert führen ließ. »Glauben Sie ja nicht, dass Sie ihn bekommen! Sie können Mary nicht das Wasser reichen«, zischelte er ihr plötzlich ins Ohr.
Anna zuckte zusammen. Warum verabscheute Albert sie so? Wahrscheinlich stimmen die Gerüchte, wonach er einst unglücklich in Mary verliebt gewesen ist und sie an seinen charmanten Bruder verloren hat, dachte sie. Sie antwortete nicht, sondern ließ sich von ihm herumwirbeln, ohne die Miene zu verziehen. Gleichgültig blickte sie zum Rand der Tanzfläche, wo Emily Brown mit ihrer Schwester Portia Evans tuschelte. Der Witwe wurde nachgesagt, dass sie alles tun würde, um das Herz von John McDowell zu erobern.
»Er kann Sie niemals heiraten, denn Sie sind bereits verheiratet!«, fuhr Albert genüsslich fort und hielt Anna so fest im Arm, dass es schmerzte.
Das reichte! Anna hielt inne, befreite sich aus seinem Griff und bedankte sich förmlich für den Tanz. Sie konnte die Tränen nur mühsam unterdrücken. Albert hatte ja recht. Was würde sie darum geben, wenn sie sich in Johns Arme flüchten und ihn mit den Kindern nach Wellington begleiten könnte!
Hocherhobenen Hauptes stolzierte sie an Emily und ihrer Schwester vorbei, als Portia für alle hörbar verlauten ließ: »John hat mir den nächsten Tanz versprochen.« Es folgte ein Kichern in Annas Rücken.
Anna verließ eilig den Salon. Sie wusste nicht, wohin sie entkommen sollte, denn durch den Garten pfiff ein eisiger Wind. Sie überlegte noch, ob sie nicht eine Übelkeit vorschützen und sich verabschieden sollte, als sie Johns warme Stimme hörte.
»Gib nichts auf das Gerede der Leute! Du bist den Damen, die ihre ledigen Schwestern, Töchter oder Cousinen unter die Haube bringen wollen, ein Dorn im Auge. Vielleicht ahnen sie, warum keine von ihnen je eine Chance bei mir hätte.«
Ungläubig drehte sich Anna um. Ihr Herz klopfte bis zum Halse. Wenn sie nur frei wäre, dann dürfte sie ihm ihre Gefühle ohne Scheu offenbaren! Aber so?
Als könne John Gedanken lesen, fragte er nun: »Was ist mit Christian? Warum ist er nicht hier? Emily Brown sprach von einer Geschäftsreise, und das in einem merkwürdigen Unterton.«
Anna wand sich. Sie mochte John nicht in ihr Elend einweihen, aber er ließ sich nicht so leicht abwimmeln.
»Wenn ich dir helfen kann, bitte sprich mit mir! Ich sehe doch, dass dich etwas bedrückt, mein Herz!«
Mein Herz? Hatte er wirklich mein Herz gesagt? Die Freude überflutete sie in heißen Schauern. Wenn sie diesen Augenblick doch nur festhalten könnte! Aber da war er auch schon vorüber.
»Anna, es ist doch etwas!« John blickte sie prüfend an.
Anna schluckte trocken, bevor sie seufzend ausstieß: »John, ich weiß mir keinen Rat mehr. Christian spricht dem Teufel Alkohol in einem Maß zu, dass es ihn eines Tages ruinieren könnte. Ich habe gebetet, gebettelt, ich habe ihn angefleht, aber er hört nicht auf mich.« Anna stockte. Sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten.
John zog ein Schnupftuch hervor und reichte es ihr. »Soll ich mit ihm reden?« Anna sah ihn erstaunt an. »Das würdest du tun? Auf dich würde er vielleicht hören. Aber sag ihm bitte nicht, dass ich mit dir gesprochen habe. Sonst ...«
»Was ist sonst?«
Anna wich seinem fragenden Blick aus. »Es ist besser, wenn du es nicht erwähnst.«
John nickte bedächtig. »Man spricht in der Stadt davon, dass er Schwierigkeiten in der Firma hat, weil er so oft unpässlich ist. Ich werde ihm meine freundschaftliche Hilfe anbieten und ihm bei der Gelegenheit ins Gewissen reden.« Mit diesen Worten griff John in seine Hosentasche und holte einen gut gefüllten Geldbeutel hervor. »Der ist für dich«, sagte er und drückte ihn Anna in die Hand.
»Aber, aber ...«, stammelte Anna.
»Es ist das Geld, das du brauchst, um zwei Monate lang für Timothy zu sorgen, denn vorher kann ich nicht zurück nach Dunedin reisen. Bei dir ist das Geld besser aufgehoben als bei Christian. Und lass dich nicht von meinem Bruder verunsichern! Er ist empört, dass ich seinen Neffen ganz in deine Obhut gebe. Was er auch immer behauptet, es ist mein Wille, dass der Junge bei dir bleibt. Und glaube mir, Marys Wille wäre es auch.« Er trat einen Schritt auf sie zu, umfasste ihre Schultern, sah ihr in die Augen und raunte heiser: »Ich liebe dich! Sag nur ein Wort, und ich werde dich heiraten!«
Anna blickte ihn entgeistert an, drehte sich abrupt auf dem Absatz um und flüchtete zur Garderobe. Sie hörte noch, wie er ihr erschüttert hinterherrief: »Anna, ich habe dich nicht kompromittieren wollen. Verzeih mir!« Sie aber konnte sich nicht umdrehen. Blind vor Tränen, stolperte sie davon. Wenn er nur wüsste, dass eine Ehe mit ihm das ist, was ich mir auf Erden am meisten wünsche!, dachte sie unglücklich.
Wenig später verließ sie eilig das Fest, ohne sich von John zu verabschieden. Sie würde ihm jetzt nicht in die Augen sehen können, ohne dass er erkannte, wie sehr sie ihn liebte!