Ocean Grove, 3. Januar 2008

 

Sophie fuhr von den Aufzeichnungen ihrer Mutter hoch, als sie Judith' Schritte hörte. Hastig raffte sie die losen Blätter zusammen, ließ sie unter dem Korbstuhl verschwinden und begrüßte die junge Anwältin herzlich. Judith war blass um die Nase, aber sie schien sichtlich bemüht, nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. Sophie stand auf, nahm sie in den Arm und ermutigte sie dazu, ohne Umschweife zu erzählen, was geschehen war.

Judith ließ sich stöhnend in einen der Sessel fallen. »Tom hat mir das hier geschrieben!« Mit diesen Worten reichte sie Sophie einen Brief, den diese zögernd entgegennahm. Sophie kam sich ein wenig indiskret vor, aber Judith nickte ermutigend, und sie begann zu lesen:

»Liebes,

ich kann dir nur das eine verraten. Ich habe dein Vertrauen missbraucht. Das wirst du mir nie verzeihen können, kann ich es mir doch kaum selber nachsehen. Ich habe etwas genommen, was mir nicht gehört. Und nun muss ich eine Sache erledigen, die allein etwas mit meinem Leben zu tun hat, um mich von einem unbändigen Hass zu befreien, der zeitlebens in mir schlummerte. Ich habe dich nicht verdient. Versuche nicht herauszufinden, wo ich bin. Ich werde meinen Wohnsitz wechseln und aus deinem Leben verschwinden. Ich bin nicht der Mensch, für den du mich immer gehalten hast. Ich selber habe es auch erst an dem Tag erfahren, an dem ich fortgegangen bin. Verzeih mir bitte!

Dein Tom«

»Und du vermutest nun, dass er etwas mit dem Erbe zu tun hat?«

Statt ihr eine Antwort zu geben, holte Judith aus ihrer Manteltasche ein zerlesenes Taschenbuch hervor und reichte es Sophie wortlos.

Die betrachtete es fragend. »The catcher in the rye. Ja und?«, murmelte sie. Sie kannte den Roman. Sie hatte ihn in deutscher Übersetzung im Internat als Schullektüre durchgenommen.

»Ich verstehe nicht ganz. Was hat der Brief mit Der Fänger im Roggen zu tun?«

»Das Buch lag ebenfalls in dem Umschlag. Ich habe den Zusammenhang auch zunächst nicht kapiert, aber dann ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen. Der Held heißt Caulfield. Holden Caulfield.«

»Holden? Nein, das kann doch nicht sein!«, stammelte Sophie, doch Judith erwiderte schwach: »Ich befürchte, er könnte tatsächlich der Mann sein, den du suchst. Auch wenn sich alles in mir dagegen sträubt, aber ich musste es dir sagen.«

»Das ist doch absurd. Warum sollte er sich verstecken und abhauen, nur weil er erfahren hat, dass er eine Menge Geld geerbt hat?«

»Das ist es doch gerade, Sophie. Es wird immer verworrener. Er ist nicht abgehauen. Ich habe gestern seinen Wagen an mir vorbeifahren sehen. Jede Wette, er war es. Es ging so schnell. Ich habe nur den Wagen gesehen. Den würde ich unter Hunderten erkennen. Er hat ihn sich zusammen mit John gekauft. Einen schwarzen Jeep. Was soll das bloß? Mir ist das alles unheimlich!«

Sophie atmete tief durch, bevor sie leise zugab: »So ein Wagen hat mich mehrfach verfolgt.«

»Was hat das nur zu bedeuten?«, rief Judith aus. »Sophie, ich habe Angst.« Mit diesen Worten fasste sie sich an den Bauch.

Sophie erschrak. »Ist alles in Ordnung mit dem Baby?«

Judith nickte und raunte: »Ich habe in den letzten Wochen viel darüber nachgedacht, ob ich es überhaupt bekommen soll, aber ich werde demnächst sechsunddreißig und wünsche mir nichts sehnlicher als ein Kind. Ein Kind von Tom! Und auch John hat mir sehr dazu geraten. Er war wahnsinnig fürsorglich. Er würde mich in allem unterstützen, er ist wirklich ein wunder ...«

Judith unterbrach sich hastig, als sie sah, wie Sophies Gesichtszüge bei ihren Worten zunehmend entgleisten.

»Entschuldige, ich habe nicht daran gedacht, dass du sauer auf ihn bist.«

»Sauer ist das falsche Wort. Ich würde sagen, ich bin fertig mit ihm. Oder wie würdest du das finden, wenn ein Mann, nachdem du leidenschaftliche Stunden mit ihm erlebt hast, plötzlich aufbricht, weil er Besuch von den Schwiegereltern bekommt? Und du nicht mal wusstest, dass er eine Frau hat?«

Mit einem Blick in Judith' sichtlich betroffenes Gesicht fügte Sophie eilig hinzu: »Aber, das ist gar nichts gegen das, was du durchmachen musst. Reden wir nicht mehr über John, okay?«

»Gut. Aber John ist ein ehrlicher Mensch. Er war doch selber völlig durch den Wind, als er feststellte, dass Lynns Rückkehr ihn nicht so glücklich macht, wie er gedacht hatte. Glaube mir ...«

Seufzend unterbrach Sophie die neue Freundin: »Bitte, ich möchte nichts mehr davon hören! Und es wäre mir sehr lieb, wenn du meinen Fall übernehmen könntest.«

Erst Judith' abweisendes Gesicht machte Sophie bewusst, was sie da gerade verlangt hatte.

»Tut mir leid. Natürlich kannst du unmöglich diesen Holden suchen, wenn es wirklich dein Tom ist. Warten wir es ab! Weißt du, was ich am liebsten machen würde?«

Judith zuckte mit den Achseln.

»Am liebsten würde ich morgen irgendwo in die Berge fahren und mir das Land ansehen. Ich brauche eine kleine Auszeit.«

Judith schwieg, aber in ihrem Kopf schien es fieberhaft zu arbeiten.

»Meine Großmutter macht gerade Urlaub in Queenstown. In einem Hotel direkt am Wakapitusee. Sie würde sich bestimmt über einen Besuch freuen. Was meinst du? Sollen wir sie überraschen?«

»Wenn sie das nicht nervt. Ich bin dabei!«

»Gut, dann rufe ich John an und sage ihm, dass ich morgen blaumache.«

»Sag mal, weiß John von Toms merkwürdigem Brief?«

»Nein, und mir geht es gerade genauso wie dir. Ich möchte einfach nur raus. Einmal durchatmen und dann mit klarem Kopf zurückkommen. Danach muss ich mit John darüber reden. Stell dir vor, er sucht den Erben wie ein Irrer, und ich ahne, wer er ist. Nein, so viel Vertrauen muss sein, aber erst einmal Erholung für das Baby. Wollen wir gleich morgen früh um sechs starten, damit wir etwas vom Tag haben? Ich hole meine Sachen und komme pünktlich zurück.«

»Judith, halte mich nicht für kindisch, aber der schwarze Jeep ist hier vorhin vor dem Haus aufgetaucht, hat gedreht und ist wieder weggebraust. Wenn ich ehrlich bin, habe ich Angst, hier allein zu übernachten.«

Judith sah Sophie durchdringend an. »Ich verstehe das doch. Aber wenn es wirklich Tom ist, dann brauchst du dich nicht zu fürchten. Er ist ein lieber Kerl in einer rauen Schale. Und ich bete, dass es für alles eine harmlose Erklärung gibt. Vielleicht hat er es für einen Mandanten auf sich genommen. Vielleicht ist dieser Holden sein Mandant, und er hat deine Unterlagen deshalb gestohlen. Für ihn. Und jetzt hat er Angst, dass ich ihm das nicht verzeihe ...« Nachdenklich hielt Judith inne. »Obwohl ich mir das eigentlich nicht vorstellen kann.«

»Bis wir nicht wissen, ob er überhaupt etwas damit zu tun hat, mach dir bitte keine Sorgen!«, erwiderte Sophie.

»Du hast recht. Pass auf, du packst jetzt deine Sachen, schläfst bei mir, und dann fahren wir morgen früh von Dunedin aus los.«

 

Als Sophie und Judith den Abend bei einem Glas Wein und dem herrlichen Blick über die Bucht von Otago ausklingen ließen, fühlte sich Sophie plötzlich selten ruhig und im Einklang mit sich selbst. Während sie sich bei ihrem ersten Besuch vor knapp einer Woche noch wie eine entwurzelte Fremde vorgekommen war, empfand sie nun beinahe so etwas wie Vertrautheit.

In der Nacht, als sie schließlich in Judith' Gästebett lag, stellte sie sich vor, wie es wohl für Kate sein würde, wieder in ihre Heimat zurückzukehren. Opoho? Ob Bill McLean ein Nachkomme von Philipp, dem Ehemann und Mörder Melanie McLeans, ist?, fragte sie sich. Die Namensgleichheit kann doch kein Zufall sein. Es passte wie ein Puzzle zusammen. Steven, der ungeliebte Sohn! Wie hatte Bill gesagt? »Er sieht unserer Großmutter, über die aber nicht gesprochen werden darf, zum Verwechseln ähnlich. Deswegen lehnt ihn mein Vater ab.« Und dann Paulas Schreck, als Bill seinen Namen genannt hatte ...

Mit diesem Gedanken schlief Sophie ein, aber mitten in der Nacht erwachte sie von ihrem eigenen Aufschrei. Ihr Herz pochte wie wild, und sie war vor Angst wie gelähmt. Sie wusste nicht, ob sie immer noch träumte. Es war ein entsetzlicher Traum. Ein alter Mann schubste eine junge Frau auf die Straße. Die Frau war sie. In dem Augenblick raste ein schwarzer Jeep auf sie zu ...

Sophie war so aufgeregt, dass an Schlaf nicht mehr zu denken war.