Apia, im Januar 1923

 

Kate saß im Kontor sorgenvoll über die Bücher gebeugt, wie sie es inzwischen fast täglich tat. Heute wusste sie sich jedoch keinen Rat mehr, denn es kam alles zusammen: die schlechte Ernte, der seit dem Tod seiner Frau seelisch angeschlagene Otto Brenner, die zunehmende Trunksucht und Vergnügungssucht ihres Mannes, der sich vor seinen Besuchen bei den dunkelhäutigen Schönheiten neuerdings üppig aus der Firmenkasse bediente. Es gab keine Hoffnung mehr. Die Plantage warf nicht mehr genug ab!

Seufzend legte sie das Buch zur Seite, bemüht, den Gedanken zu verdrängen. Sie dachte an ihren Sohn. Bill John war ihr ganzer Stolz. Er war jetzt sieben Jahre alt und Klassenbester. Alles, was er anpackte, gelang ihm. Der Junge besaß den Charme seines Vaters und auch sein einnehmendes Wesen. Alle liebten ihn. Alle - bis auf Walter.

Wie soll er ihn auch lieben, wenn Steven mit Bill John all die Dinge unternimmt, die er mit seinem Sohn niemals macht?, fragte sich Kate. Sie wandern in den Bergen, fahren zum Fischen und besitzen sogar ein gemeinsames Boot. Walter wurde nie zu diesen Unternehmungen eingeladen.

Der Junge war jetzt elf und tat so, als kümmere ihn das nicht. Regelmäßig schwänzte er die Schule. Es schien ihm nicht das Geringste auszumachen, dass sein Vater ihn dafür einsperrte und mit Nahrungsentzug bestrafte. Steven schlug ihn nicht mehr, aber Kate wusste: Die Nichtbeachtung traf Walter nicht weniger hart.

Immer häufiger trieb der Junge sich allein am Hafen herum. Manchmal wünschte ich mir, er würde auf einem der Schiffe anheuern und niemals wiederkommen, dachte Kate und schämte sich dafür. Sie fühlte sich als Versagerin. Fast vier Jahre waren vergangen, ohne dass es ihr gelungen wäre, ihm in irgendeiner Weise näherzukommen. Auch Bill John, der Walter anfangs bewundert hatte, zog sich immer mehr von seinem Cousin zurück. Er hatte andere Freunde.

Kate wandte sich wieder den Büchern zu. Es half alles nichts. Wenn sie weitermachen wollte, benötigte sie einen Kredit. Die Reserven waren aufgebraucht, und die Firma schrieb rote Zahlen. Heute würde sie ernsthaft mit Steven darüber reden müssen.

Niedergeschlagen schlug sie die Rechnungsbücher zu und ging nach Hause. Manchmal bedauerte sie es, dass sie gar nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teilnahm, aber ihr blieb einfach keine Zeit dazu. Wenn sie nicht für die Plantage schuftete, dann kümmerte sie sich um die Kinder. Nicht ein einziges Bild hatte sie seit ihrer Ankunft gemalt.

Zu Hause ließ sich Kate erschöpft auf einen Stuhl fallen und ihren Blick einmal über den Hafen schweifen. Das war immer noch so bezaubernd schön wie eh und je. Wenn die Plantage nicht mehr zu retten ist, werde ich unseren Lebensunterhalt mit Malen verdienen, tröstete sie sich.

»Wo ist Onkel Steven?«, fragte sie ihren Sohn mit der Betonung auf »Onkel«. Sie wollte auf keinen Fall, dass er ihn »Daddy« nannte, wie Steven es gern hätte.

»Er ist zur Plantage gefahren, aber ich durfte nicht mit«, erklärte Bill John sichtlich schmollend.

»Und wo ist Walter?«

»Keine Ahnung!«

»Und Kea?« Kea war Brenners zweitjüngste Tochter, die inzwischen bei ihnen im Haushalt arbeitete. Kea war eine liebreizende Person, wenngleich sie nichts von Loanas exotischer Schönheit geerbt hatte. Mit ihren herben Gesichtszügen ähnelte sie eher ihrem Vater. Sie war hellhäutig und übergewichtig, aber der freundlichste Mensch, den sich Kate nur vorstellen konnte. Und Kea liebte und beschützte ihre bildschöne jüngere Schwester Sina wie eine Glucke ihr Küken.

»Sie ist mit zur Plantage gefahren, weil sie nach ihrem Vater und ihrer Schwester sehen möchte.«

»Das verstehe ich gut«, erwiderte Kate. »Und was machen wir? Soll ich uns etwas kochen?«

Bill John grinste: »Lieber nicht, Mom!«

Kate seufzte. Sie war keine gute Köchin. Sie tischte frische Früchte auf und versuchte sich ihre Existenzsorgen auf keinen Fall anmerken zu lassen.

Nachdem sie Bill John noch eine Gutenachtgeschichte vorgelesen hatte, richtete Kate sich auf eine ruhige Nacht ein. Wie sie Steven kannte, würde er sich auf der Plantage betrinken, seinen Rausch dort ausschlafen und erst morgen Mittag zurückkehren.

 

Mitten in der Nacht wurde Kate von einem polternden Geräusch geweckt. Als sie erfasste, dass jemand in ihrem Schlafzimmer war, spürte sie auch schon eine Hand auf dem Mund.

»Missis Kate, ich bin's, bitte erschrecken Sie nicht! Ich habe etwas Furchtbares getan.« Mit diesen Worten ließ Otto Brenner die Hand sinken.

Kate drehte sich abrupt zu ihm um. Im Mondlicht sah sie sein verzerrtes, aschfahles Gesicht.

»Was ist passiert?«, brachte sie heraus. Ihr war übel. Es roch nach Blut.

»Ich habe ihn erschlagen wie einen räudigen Hund. Wie einen räudigen Hund!«, stieß Brenner hervor und wiederholte es immerzu. Erst als Kate ihn bei den Schultern packte und schüttelte, hörte er damit auf.

»Wen haben Sie erschlagen?«

»Dieses Schwein!«, murmelte er. »Dieses besoffene Schwein!«

»Brenner, was ist passiert?«, brüllte Kate erneut. Das half.

»Ich hörte Kea schreien und bin zu ihrer Hütte gerannt. Sie schrie und jammerte zum Gotterbarmen: ›Sina, er hat Sina fortgeschleppt!‹ Ich hab mein Gewehr geholt und nach Sina gerufen. Da hörte ich jemanden wimmern. Ich schlich mich näher ran. Da sah ich meine Kleine. Sie lag im Gebüsch. Mit zerrissenem Kleid. Geschändet. Er schaute auf sie herab und höhnte betrunken: ›Dein Vater kommt nicht. Du gehörst mir!‹ Da habe ich ihm den Gewehrkolben von hinten auf den Kopf gehauen, bis er vor ihr zusammenbrach und in seinem Blut verreckt ist. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, aber das Gesicht meiner Tochter werde ich nie vergessen, solange ich lebe.« Brenner brach in hemmungsloses Schluchzen aus: »Verdammt, sie ist doch noch ein Kind!«

Obwohl Kate längst wusste, wer der Mann war, der Brenners Tochter vergewaltigt hatte, fragte sie heiser: »Wen haben Sie erschlagen?«

»Ihren Mann, Missis Kate! Und jetzt werde ich mich selber richten, bevor sie mich ein Leben lang einsperren. Bitte, sorgen Sie für meine armen Kinder!« Mit diesen Worten richtete er den Lauf auf sich selbst, aber Kate riss ihm entschlossen das Gewehr aus der Hand.

»Machen Sie keinen Unsinn, Brenner! Ihre Kinder brauchen Sie. Und ich auch! Wir gehen jetzt zusammen zur Polizei. Ich besorge Ihnen den besten Anwalt der Insel. Ich werde dafür kämpfen, dass Sie bald wieder frei sind.«

Wie betäubt begleitete Kate Brenner zur Polizeistation. Träumte sie, oder hatte Brenner ihren Mann wirklich erschlagen? Vielleicht wache ich gleich auf, und alles war nur ein Spuk, dachte sie.

Aber im Licht der Wache schwand diese Hoffnung. Kate sank auf eine harte Bank, während Brenner stockend seine Aussage machte.

Der diensthabende Polizist zeigte offene Sympathie für den armen Kerl. Brenner war ein angesehener Mann in der kleinen Gemeinde; jeder wusste, dass die Plantage ohne seine Zuverlässigkeit und seinen Arbeitseifer schon längst hätte aufgegeben werden müssen. Auch Steven McLean war bekannt. Bekannt wie ein bunter, räudiger Hund, dem jeder möglichst aus dem Weg ging, weil er unberechenbar war. Besonders wenn er zu viel Alkohol getrunken hatte.

Als sich die Zellentür hinter Brenner schloss, rief er: »Missis Kate, das werde ich Ihnen nie vergessen!«

Kate seufzte, als sie die Wache verließ und in diesen unwirklichen Morgen hinaustrat. Wie sollte es weitergehen ohne Brennerlein? Sie erschrak, als sie realisierte, dass sie noch keinen einzigen Gedanken an ihren Mann verschwendet hatte. Wie würden die Kinder Stevens Tod aufnehmen? Vor allem Walter, der weit mehr an seinem Vater hing, als er jemals zugeben würde. Fast instinktiv lenkte sie die Kutsche zu Wohlrabes Haus. Dabei störte sie nur ungern seinen Schlaf, aber sie wusste sich keinen anderen Rat.

Der Arzt versprach ihr, sofort zur Plantage zu fahren, um sich um Sina zu kümmern. »Ich werde auch alles für die Beerdigung in die Wege leiten, aber ich nehme an, dass die Polizei ihn erst einmal gründlich untersuchen wird. Wie dem auch immer sei, Kate, ich erledige alles. Sehen Sie zu, dass Sie es seinem Sohn möglichst schonend beibringen.«

»Danke, Doktor!«, murmelte sie. »Finden Sie es verwerflich, dass ich über seinen Tod erleichtert bin, weil ich ihn für das, was er Sina angetan hat, sonst eigenhändig erwürgt hätte?«

»Nein, liebe Freundin«, erwiderte Johannes Wohlrabe. »Jeder von uns, der ein bisschen Anstand besitzt, hätte ihn dafür umbringen mögen.«

 

Die Kinder nahmen die Nachricht von Stevens Tod unterschiedlich auf. Natürlich erzählte Kate ihnen nicht, wer ihm den Schädel zertrümmert hatte und warum. Walter zeigte keine Regung, während Bill John in Tränen ausbrach.

Nur der beiden Jungen wegen ging Kate schließlich zu Stevens Beerdigung. Sie hätte ihm diese letzte Ehre ansonsten verweigert. Sina Brenner hatte schwere Verletzungen davongetragen und würde niemals eigene Kinder haben. Otto Brenner war inzwischen wieder auf freiem Fuß. Wohlrabe hatte in Apia gesammelt und eine stattliche Summe für seine Kaution zusammengetragen. Keiner glaubte daran, dass man ihn verurteilen würde. Ganz Apia war auf seiner Seite.

Schon am Tag der Beerdigung ahnte Kate, dass ihre Tage auf Samoa gezählt waren. Nicht nur wegen der wirtschaftlichen Situation der Plantage, sondern auch, um Walter zu schützen. Wenn sie überhaupt etwas für ihn tun konnte, dann musste sie ihn schnellstens von hier fortbringen.

 

Kate saß auf der Veranda und schrieb eine Liste, was vor ihrer Abreise alles zu erledigen war, als Johannes Wohlrabe sie besuchte.

»Kate, ich bedaure es zutiefst, dass Sie für immer fortgehen, denn ein drittes Mal wird es sicher nicht geben!«, seufzte er.

»Ach, Doktor, ich muss an Walter denken. Er darf nicht hierbleiben. Man wird ihn immer spüren lassen, was für ein Verbrechen sein Vater begangen hat. Ich will nicht, dass er erfährt, was sich wirklich zugetragen hat, aber vermutlich ist es längst zu ihm durchgesickert.«

»Er wird es Ihnen sicher nicht danken!«, wandte der Arzt ein.

»Wahrscheinlich nicht. Trotzdem muss ich es tun!«

»Aber wohin wollen Sie? Und wovon wollen Sie leben? Jeder weiß doch, dass Steven die Plantage in Grund und Boden gewirtschaftet hat!«

»Ich werde dieses Haus verkaufen, von dem Erlös die Überfahrt nach Neuseeland bezahlen und damit die ersten Jahre über die Runden kommen. In meinem Strandhaus fange ich wieder zu malen an. Damit kann ich die Kinder und mich vielleicht über Wasser halten. Es hört sich vielleicht verwegen an, aber ich glaube fest daran!«

»Sie sind eine tapfere Frau!«, raunte er, als ein finster dreinblickender Walter sie unterbrach. Er hielt einen Brief in der Hand, den er ihr stumm reichte.

Kate stutzte. Er kam von Jane aus Dunedin. Kate hatte Paul McLean vom Tod seines Sohnes unterrichtet. Das Fieber habe ihn dahingerafft!, hatte sie geschrieben. Mit einer Antwort hatte sie nicht gerechnet. Nachdem Wohlrabe sich sichtlich bewegt verabschiedet hatte, riss sie ungeduldig den Umschlag auf.

Kate,

wie Sie sich denken können, schreibe ich Ihnen ungern, aber Vater verlangt es von mir. Er liegt seit Wochen danieder. Sein Herz. Er wird sterben und möchte, dass Sie umgehend mit Ihrem Kind nach Opoho reisen. Wie Sie sich denken können, würde ich gern auf ein Wiedersehen verzichten, aber Vater hat mich genötigt, Ihnen zu übermitteln, dass es sein größter Wunsch wäre, wenn Sie ihm verzeihen könnten. Jane.

P.S. Was haben Sie ihm eigentlich zu verzeihen?, frage ich mich.

Kate wurde heiß und kalt. Es schockierte sie, dass der Alte weder Stevens Tod noch seinen Enkel Walter auch nur mit einem einzigen Satz erwähnt hatte.

 

Otto Brenner suchte Kate gleich nach seinem Freispruch auf. Erleichtert weihte Kate den Pflanzer in ihre Pläne ein. Sie würde ihm die Plantage überschreiben. Sie verhehlte nicht, dass Steven sie heruntergewirtschaftet hatte. Brenner jedoch setzte große Hoffnungen in seine erwachsenen Söhne und wusste nicht, wie er ihr danken sollte.

»Das ist das Mindeste, was ich für Ihre Familie tun kann, Brennerlein«, versicherte Kate ihm. Bei dem Gedanken an die bevorstehende Reise wurde ihr Herz schwer. Sie bat ihn, nicht zum Schiff zu kommen. Noch einen Abschied würden sie beide nicht verkraften.

»Nun werden wir uns wohl wirklich niemals wiedersehen«, sagte er unter Tränen.

»Hier werden Sie immer einen Platz haben, Brennerlein«, antwortete Kate schniefend und deutete auf ihr Herz.