Dunedin, im Februar 1889

 

Es gab keinen einzigen Tag, an dem Anna John nicht vermisste. Selbst in diesem Augenblick nicht, als sie an Klaras Bett saß und ihre friedlich schlafende Tochter betrachtete. Sanft strich Anna ihr über das blasse Gesicht. Seit Klara im dritten Monat ihrer Schwangerschaft Blutungen bekommen hatte, musste sie strenge Bettruhe einhalten, wenn sie ein gesundes Kind zur Welt bringen wollte. Ach, John, dachte Anna, es wäre unser gemeinsames Enkelkind!

Die Freude war groß gewesen, als sich endlich Nachwuchs angekündigt hatte. Fünf Jahre waren Timothy und Klara bereits verheiratet gewesen, und sie hatten den Wunsch auf ein Kind beinahe aufgegeben.

Anna hatte den Eindruck, als habe Timothy viel mehr unter der Kinderlosigkeit gelitten. Klara schien das weniger auszumachen. Sie ging voll darin auf, Timothy in der Kanzlei eine unverzichtbare Stütze zu sein. Sie hatte zwar selber nicht studieren dürfen, aber sie hatte sich aus eigener Energie so viel Fachwissen erarbeitet, dass sie Timothy eine gleichwertige Partnerin war. Timothys Onkel Albert hatte anfangs gegen »den Weiberrock in der Kanzlei« gewettert, aber Klara hatte sich durch den grimmigen alten Mann nicht von ihrem Plan abbringen lassen, es auch ohne Studium zu einer wahren Meisterin der Rechtswissenschaft zu bringen.

Seit sie tatenlos im Bett lag, wurde sie von Tag zu Tag unleidlicher. Deshalb war Anna froh, dass Klara im Schlaf ein wenig Ruhe fand, doch sie hatte sich zu früh gefreut. Ihre Tochter schlug die Augen auf und blickte sie unzufrieden an.

»Was kann ich für dich tun, mein Kind?«, fragte Anna.

»Warum hat er mir bloß keine Fälle aus der Kanzlei mitgebracht, wie ich es ihm aufgetragen hatte?«, beschwerte sie sich.

»Weil du dich schonen sollst«, entgegnete Anna streng.

Klara rollte mit den Augen. »Kannst du nicht wenigstens die Frauen einladen? Dann können wir an meinem Bett über die letzte Rede von Kate Sheppard sprechen.«

»Klara, sei vernünftig!«, erwiderte Anna sanft, obgleich sie insgeheim befürchtete, dass der Elan ihrer Tochter nicht so leicht zu bremsen war. Seit Anna und ihre Freundinnen sich der WCTU, der Woman's Christian Temperance Union, angeschlossen hatten, war auch Klara eine von ihnen geworden. Sie schwärmte geradezu von der Anführerin Kate Sheppard und war der Meinung, über das Frauenwahlrecht sei genug geredet worden. Nun müssten Taten folgen.

Trotzig schob Klara die Unterlippe vor. Anna überlegte. Da ihre Tochter nun ohnehin schon schlechte Laune hatte, sollte sie vielleicht endlich etwas ansprechen, was ihr auf dem Herzen lag, seit Klara schwanger war.

»Wollen wir nicht doch deinen Vater benachrichtigen?«, fragte sie zaghaft.

Klaras Augen verengten sich zu Schlitzen. »Ich habe keinen Vater mehr. Hast du das schon vergessen?«

So leicht wollte Anna jedoch nicht aufgeben. »Ich denke nur, er sollte vielleicht wissen, dass du ein Kind erwartest.«

»Fang nicht schon wieder damit an! Du hast uns damit schon vor der Hochzeit in den Ohren gelegen. Und ich sage: Nein! Und du weißt genau, warum. Was meinst du, wie ich mich damals gefühlt habe, als wir ihn in Sarau überrascht haben? Er mit einer fremden deutschen Frau unter einem Dach. Und getrunken hat er. Diese Frau herumgeschubst hat er. Du hast niemals darüber sprechen wollen, aber ich bin sicher, er hat dich auch geschlagen. Ich kämpfe doch nicht mit euch gegen die Gewalt der rohen, betrunkenen Kerle und heiße meinen Vater, den Säufer, willkommen. Mutter, gib es endlich zu: Er hat dich misshandelt, nicht?«

Anna atmete einmal tief durch. »Verzeih, dass ich es angesprochen habe. Ich akzeptiere deine Haltung.«

»Und hast du vergessen, dass er dir seit Jahren keinen Cent mehr zukommen lässt? Dass wir von Johns Erbe und Timothys Einkünften leben?«

Anna wandte den Blick ab. Der harte Zug um den Mund ihrer Tochter missfiel ihr. Dabei hatte sie ja recht. Wieder schweiften ihre Gedanken zu John ab. Wehmütig stellte sie sich vor, wie er ihr in dieser Situation beistehen würde. Wenn uns vergönnt gewesen wäre, zusammen alt zu werden, hätte ich auf einer Scheidung von Christian bestanden. Nun aber waren sie nach dem Gesetz immer noch ein Ehepaar.

Anna schreckte aus ihren Gedanken auf, als sie hinter sich leise Schritte vernahm. Es war Timothy, der aus der Kanzlei kam und als Erstes nach seiner Frau sah. Anna hatte stets das Gefühl, ihm mitten ins Herz zu blicken, wenn sie ihn dabei beobachtete, wie er Klara anschaute.

»Soll Paula dir etwas Warmes zu essen zubereiten?«, fragte Anna ihren Schwiegersohn mit der Fürsorge einer Mutter.

»Nein, danke, ich bleibe hier bei Klara. Vielleicht kannst du Paula bitten, uns eine Kleinigkeit zu bringen, die wir am Bett zu uns nehmen können?« Mit diesen Worten streckte er seine Hand nach seiner Frau aus und fuhr ihr sanft durch das verschwitzte Haar.

»Mein Herz!«, murmelte er. »Mein armes Herz.«

Anna erhob sich, um die beiden ein wenig allein zu lassen. Im Hinausgehen hörte sie Klara anklagend seufzen: »Du bist schon wieder viel zu früh zu Hause. Denk doch an die Menschen, die auf dich setzen! Die brauchen dich und keinen Anwalt, der sich ans Bett seiner Frau flüchtet.«

Anna drehte sich der Magen um, weil sie nun erleben musste, wie dieser gestandene, beruflich überaus erfolgreiche junge Mann Klara wie ein geprügelter Hund ansah. Mit gerunzelter Stirn verließ sie das Schlafzimmer. Manchmal konnte sie Klara nicht verstehen.

Was Anna jedoch mehr Sorge bereitete als Klaras ruppige Art war ihre körperliche Konstitution. Sie war auch als Erwachsene noch sehr zart. Das Äußere täuscht, und außerdem dauert es bis zur Entbindung nicht mehr lange, redete Anna sich ein, um sich zu beruhigen. Der Arzt hatte errechnet, dass es in der nächsten Woche endlich losgehen würde. Ein Februarkind wie ich, dachte Anna. Es erfüllte sie mit Stolz, bald ein Enkelkind im Arm halten zu dürfen. Wie hatte Klara gesagt? Wenn es ein Junge wird, soll er John heißen. Nach Timothys Vater. Ein Mädchen sollte nach ihrem Idol Katherine Sheppard heißen. Kate!

 

Je näher der Entbindungstermin rückte, desto weniger traute sich Anna, das Haus zu verlassen. Doch nun wollte sie auf Klaras erklärten Wunsch frisches Obst besorgen. Es grenzte für Anna immer wieder an ein Wunder, was für köstliche und frische Früchte es an diesem Ende der Welt gab. Gar kein Vergleich zu denen, die man in Hamburg kannte.

Begierig atmete Anna die frische Brise ein, die an diesem sonnigen Sommertag vom Meer herüberwehte. Salzig und würzig. Balsam für ihre Lungen. Über ihr in der Luft kreisten riesige Möwen. In den Vorgärten der Häuser blühte es bunt und üppig.

Beschwingt schlug Anna den Weg zur George Street ein. Ihre Gedanken schweiften in die Zukunft. Sie stellte sich vor, wie sie in diesem Jahr endlich wieder Weihnachten feiern würden. So festlich, wie sie es früher stets getan hatten. Mit dem Kind würde es wieder echte Freude bereiten. Und dann Klaras sechsundzwanzigster Geburtstag. Auch den würden sie fröhlich begehen. Ein Kind, ja, dieses Kind würde alles wieder zum Leben erwecken. John würde es von ihnen erwarten, dass sie das Kind in Freude, statt im Schatten des Todes aufwachsen ließen. Anna wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel und überlegte, ob sie die Straßenbahn nehmen sollte, aber den Gedanken verwarf sie gleich wieder. Dieses Monstrum, das seit ein paar Jahren zischend durch die Straßen glitt, war ihr ganz und gar nicht geheuer.

Am Octagon legte sie eine kleine Pause ein und betrachtete gedankenverloren die Statue, die erst zwei Jahre zuvor mit großem Tamtam eingeweiht worden war. Sie war zu Ehren des Dichters Robert Burns dort aufgestellt worden, dessen Gedichte und Lieder Anna sehr liebte. Ihr fiel sofort Auld lang syne ein, das schottische Neujahrslied, bei dem man der Toten des vergangenen Jahres gedachte und das John jeden ersten Januar voller Inbrunst geschmettert hatte. Anna fing ganz leise zu singen an. »Should auld acquaintance be forgot ...«

Sie stockte, als sie einen alten, zerlumpten Mann bemerkte, der am Fuß der Statue auf dem Boden kauerte. Mit leerem Blick starrte er ins Nichts. Nach einer Schrecksekunde wandte Anna sich hastig ab. Christian war kaum wiederzuerkennen. Sein Gesicht war schwer vom Alkohol gezeichnet. Sie trat hastig einen Schritt zurück hinter die Statue. In ihr arbeitete es fieberhaft. Was sollte sie tun? Ihm ihre helfende Hand reichen und ihn mit nach Hause nehmen? Oder ihn seinem Elend überlassen? Sie schwankte, aber dann dachte sie an Klara und dass sie ihr das nicht zumuten dürfe. Wie hatte sie doch gesagt? Ich habe keinen Vater mehr! Annas Herz klopfte bis zum Halse. Aber was will ich?, fragte sie sich. Möchte ich mit ihm bis ans Ende meiner Tage unter einem Dach leben? Habe ich ihm wirklich alles verziehen? Vor ihrem inneren Auge sah sie nun in schnellem Wechsel seinen glänzenden Stiefel im Mondschein, Hines weißen Bauch, dann sich selber vor Angst schlotternd, die Treppe, die Tiefe, den Fall ...

Ohne sich noch einmal umzudrehen, lief Anna nach Hause zurück. Sie bat Paula mit bebender Stimme, das Obst zu besorgen.

Die treue Haushälterin sah Anna prüfend an. »Was ist geschehen?«, fragte sie.

Anna holte tief Luft, bevor sie leise erwiderte. »Ich habe am Octagon meinen Mann gesehen. Wenn er es wirklich war, wird es nicht mehr lange dauern, bis der Alkohol ihn dahinrafft.«

»Wird er uns aufsuchen?«, fragte Paula zögernd.

»Ich hoffe nicht!« Anna schämte sich beinahe für ihre Herzlosigkeit.

In diesem Augenblick drang ein gellender Schrei aus dem Schlafzimmer. Anna hetzte die Treppen hinauf. Klara stand vor ihrem Bett und stierte entsetzt auf das Wasser, das in einem Schwall aus ihrem Körper floss.

»Es ist nicht schlimm!«, versuchte Anna ihre Tochter zu beruhigen, aber es nützte nichts.

Klara war völlig außer sich und schrie: »Was ist das? Was ist das?«

»Paula, hol die Hebamme. Es geht los!«, brüllte Anna nach unten und half ihrer Tochter, sich wieder hinzulegen. Klara wand sich vor Schmerz. Anna stand mit einem Mal das ganze Szenario von Marys Tod vor Augen. Ob dieses Kind auch verkehrt herum lag?, fragte sie sich voller Panik, während sie ihrer Tochter den Schweiß von der Stirn tupfte.

Endlich kam Agatha, die Tochter der alten Ginsbury, herbeigeeilt. An ihrem Blick, als sie Klara untersuchte, war unschwer zu erkennen, dass es Komplikationen gab.

»Liegt es verkehrt herum?«, raunte Anna ihr zu.

Die Hebamme nickte unmerklich, bevor sie fieberhaft versuchte, das Ungeborene im Mutterleib zu drehen.

Klara schrie vor Schmerz, setzte sich jedoch energisch auf und brüllte: »Retten Sie das Kind. Bitte!«

Agatha Ginsbury wurde bleich. Sie wusste, was Klara da von ihr verlangte. Einen Schnitt. Ein paarmal hatte sich die Hebamme bereits an dieser neuen Methode versucht mit dem Ergebnis, dass ihr dabei einige der jungen Frauen unter den Händen weggestorben waren.

»Tun Sie es!«, befahl Klara, bevor sie einen weiteren Schrei ausstieß, der Anna bis ins Mark erzittern ließ.

Anna wusste, was sie zu tun hatte. Heißes Wasser und Tücher bereithalten, Stirn abtupfen. Anna agierte wie in Trance. Doch die Hebamme schaute sie unentschlossen an.

»Tun Sie, was meine Tochter sagt!«, befahl sie ihr.

»Aber die Gefahr, dass sie stirbt, ist groß!«, flüsterte die Hebamme.

»Und wenn Sie es nicht tun?«

»Dann sterben beide!«

Anna wusste, dass sie gewonnen hatte. Die Hebamme atmete tief durch und machte ihr Werkzeug für einen Kaiserschnitt bereit.

In diesem Augenblick schrie Klara laut auf; ihr Kopf sackte leblos zur Seite.

Die Hebamme hielt inne, aber Anna flehte: »Machen Sie endlich, was meine Tochter verlangt!«

Klara lag mit weit aufgerissenen Augen leblos da. Anna erlaubte sich keine Regung. Weder den Schmerz noch die Verzweiflung, noch das Aufbegehren gegen den Tod, der längst zwischen ihnen weilte; sie hielt sich fest an Klaras eisernem Willen. Das Kind sollte leben!

Agatha machte einen sauberen Schnitt in Klaras Unterleib. Anna strich Klara derweilen über die Stirn. Der Schweiß war kalt. Ihre Tochter rührte sich nicht mehr. Anna suchte Klaras Puls. Vergeblich. Das Herz ihrer Tochter hatte aufgehört zu schlagen. Wenigstens wird sie nicht verbluten, schoss es Anna durch den Kopf, während sie die Zähne fest zusammenbiss, um nicht zu weinen.

»Ich schaffe es nicht. Verdammt. Ich schaffe es nicht!«, jammerte die Hebamme. Doch was war das?

Der durchdringende Schrei eines Neugeborenen!

Anna stand zögernd auf. Ihre Knie wackelten. Alles war voller Blut, doch das kleine Wesen lebte. Es schrie noch immer.

Anna war der Ohnmacht nahe, als die Hebamme ihr das kleine Wesen in den Arm drückte. Es ist so schwer, dachte sie, bestimmt ein Junge! Dann erkannte sie, dass es ein Mädchen war. Kate, die große, kräftige Kate! Tränen des Glücks und der Trauer rannen Anna über das Gesicht, als sie sich erschöpft auf die Bettkante fallen ließ. Meine geliebte Klara! Dich habe ich verloren, aber du hast mir eine Enkeltochter geschenkt! Und von diesem Moment an wusste Anna, dass sie dieses Kind immer lieben und wie ihren Augapfel hüten würde, obwohl ihre Tochter gestorben war, damit es leben durfte.

Behutsam stand Anna auf; sie musste Kate baden und in warme Tücher wickeln. Da stürmte Timothy ins Zimmer. Fassungslos warf er sich über seine Frau. »Ich kann nicht ohne dich leben, Klara!«, schluchzte er erstickt. »Hörst du mich, mein Liebling! Du darfst mich nicht allein lassen!«

Anna entfernte sich still.

 

Erst Stunden später, als Kate endlich in Klaras alter Wiege schlief, kehrte Anna in das Schlafzimmer zurück. Klara lag immer noch da. Anna küsste sie wieder und wieder auf die Wangen. Tief in ihrem Herzen begriff sie noch nicht, dass ihre Tochter sie für immer verlassen hatte. Da hörte sie das Baby lauthals schreien. Sie eilte von Klaras Totenbett fort, um das Kind zu holen.

Mit dem Säugling im Arm betrachtete Anna die Tote. Sie fühlte sich wie in einem bösen Traum, den man nicht anhalten konnte, in dem man aber die winzige Hoffnung hegte, rechtzeitig aufzuwachen. Nachdem das Baby in ihrem Arm wieder eingeschlafen war, brachte Anna es zurück in Klaras Wiege. Dann ließ sie sich erschöpft auf ihr Bett fallen und döste ein.

Sie schreckte hoch, als Paulas markerschütternder Schrei durch das ganze Haus schallte. Dann stand Paula auch schon in Annas Tür - bleich wie eine Tote.

Wortlos nahm Paula Anna bei der Hand. Am ganzen Körper zitternd, führte sie Anna in den Salon.

Annas Bewusstsein weigerte sich, das grausame Bild, das sich ihnen dort bot, aufzunehmen. An einem Seil vom Kronleuchter baumelte Timothys lebloser Körper. Ein Fenster war geöffnet. Ein Windstoß fegte hinein, der mit dem Toten spielte. Timothy McDowell, Klaras treu ergebener Freund und Ehemann, den ich geliebt habe wie meinen Sohn, das waren die Gedanken, die Anna bei diesem gespenstischen Anblick durch den Kopf gingen. Warum hat der Leuchter nicht unter dem Gewicht des Jungen nachgegeben? Woher hatte er die Leiter? Wie soll ich das bloß Klara beibringen? Und, John, was wird John erst dazu sagen? Dann begann sich alles um sie herum zu drehen, Blitze leuchteten auf, und sie sank zu Boden.

 

Als Anna aufwachte, sah sie als Erstes das besorgte Gesicht von Doktor Warren. Was war geschehen? Sie erinnerte sich nur noch an Klara und ihre mörderischen Schreie.

Sie wollte sich aufsetzen, aber Paula hielt sie davon ab. Der Anblick ihrer von Tränen geröteten Augen weckte eine grauenvolle Erinnerung, die Anna schmerzte.

»Warum hat er das getan?«, murmelte sie. »Warum?«

Der Arzt reichte ihr wortlos einen Brief. Es waren nur wenige Zeilen, aber die las Anna immer und immer wieder, bis ihre Augen vor Tränen blind waren. Doch da hatte sich bereits jedes Wort in ihr Herz eingebrannt.

Tante Anna,

bitte verzeih mir, ich weiß, dass ich eine Sünde begehe, aber ich kann ohne Klara nicht leben. Sie war mein Leben. Bitte sorge für unser Kind! Du sollst mein ganzes Geld haben. Ich weiß nicht, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist. Wenn ich es auch nur ein einziges Mal angesehen hätte, wäre ich unfähig gewesen, das zu tun.

Ich danke dir.

Timothy

»Wir werden sie gemeinsam begraben!«, sagte Anna tonlos und verfiel in ein langes Schweigen. In ihrem Inneren tobte ein Vulkan. Sie sah plötzlich alles vor sich, als wäre es gestern gewesen. Die martialisch wirkenden Männer mit ihren Tätowierungen, der Tritt des im Mondschein glänzenden Stiefels, die zeternde Hine. Der Fluch! Der verdammte Fluch, der mich meiner Kinder beraubt hat. Bei diesem Gedanken warf Anna die Arme in die Luft und schrie mit angstverzerrter Stimme: »Wo ist das Kind? Wo ist das Kind?«

Paula blickte sie erschrocken an und wollte ihr erklären, dass das Baby neben ihr in der Wiege schlafe, aber Anna hörte nicht auf zu schreien. »Kate wird sie nicht bekommen. Niemals!« Dabei funkelte sie Paula und den alten Arzt mit wirrem Blick an.

»Wer wird Kate nicht bekommen?«, fragte Paula ängstlich, aber da hatte Anna bereits die Hände zum Gebet gefaltet und den Blick zur Decke erhoben. »Wenn es dich da oben wirklich gibt, dann beschütze das Kind. Hörst du? Dann lasse es nicht zu, dass der Fluch mir auch dieses Wesen nimmt! Brich den Fluch der Maorifrau! Brich ihn!«

Der alte Doktor Warren und Paula sahen dem Ganzen fassungslos zu. Schließlich griff der Arzt in seine Tasche und holte eine Spritze hervor. Anna wiederholte ihr Gebet. Doktor Warren nahm vorsichtig ihren Arm. »Sie werden Kate nicht bekommen! Sie nicht!«, murmelte Anna.

Sie schien nicht einmal zu bemerken, dass der Doktor ihr eine Injektion gab. Die Augen immer noch starr zur Decke gerichtet, wiederholte sie in einem fort: »Ich bin schuld. Ich habe nicht an den Fluch geglaubt. Ich bin schuld! Die Maorifrau ist stärker als ich!«, bis ihre Stimme immer schwächer wurde. Endlich fielen ihr die Augen zu, und sie dämmerte hinüber in einen traumlosen Schlaf.

Paula wachte die ganze Nacht an ihrem Bett. Immer wieder fragte sie sich, was bloß in Anna gefahren war. Ein Fluch? Was für ein Fluch? Doch dann fiel ihr ein, was Klara ihr einst anvertraut hatte. Dass sie einer unheimlichen dunkelhäutigen Frau begegnet sei, die ihr komische Dinge zugeraunt hatte. Sie nahm sich vor, Anna danach zu fragen, sobald sie wieder bei Sinnen war.

Während Paula sich um die Lebenden kümmerte, sorgte sich der alte Doktor Warren um die Toten. Er veranlasste, dass man Särge für Klara und Timothy McDowell herbeischaffte, damit sie ihre letzte Ruhe fanden.

 

Als Anna am nächsten Morgen aufwachte und Paula mit dem Kind im Arm an ihrem Bett sitzen sah, erklärte sie mit fester Stimme: »Das werden wir schon schaffen mit der kleinen Kate, nicht?«

»Gibt es irgendetwas, was ich wissen sollte?«, fragte Paula vorsichtig.

Anna schüttelte entschieden den Kopf und streckte die Arme nach Kate aus. »Was hat das zu bedeuten mit dem Fluch?«, beharrte Paula.

»Was redest du da für einen Unsinn?«, fauchte Anna. In einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, fuhr sie fort: »Fluch? Es gibt keinen Fluch!«

»Du hast ihn aber gestern selber erwähnt. Und Klara hat mir einmal von einer Frau erzählt, die ihr merkwürdige Dinge in einer fremden Sprache zugezischelt hat«, widersprach Paula.

»Ach, diese Geschichte! Das war eine Maorifrau, die offensichtlich den Verstand verloren hatte. Und nun verschon mich mit diesen dummen Sachen, die ich in meinem Schmerz dahergeredet haben soll, und bringe mir lieber mein schwarzes Kleid!«

Kaum dass Paula das Zimmer verlassen hatte, holte Anna klopfenden Herzens ein in schwarzes Leder eingebundenes Tagebuch aus der Lade ihres Nachtschrankes. Seit ihrer langen Überfahrt nach Neuseeland schrieb sie immer wieder hinein, was sie erlebte und was sie bewegte.

Mit zitternder Hand notierte sie:

Der Fluch hat uns besiegt. Unsere Familie wird aussterben, aber Kate, die Letzte der Unsrigen, wird ein langes, glückliches Leben haben. Dafür verbürge ich mich. Ich werde alles dafür tun, damit sie nicht so ein grausames Schicksal wie ich erleiden muss. Sie wird - dafür werde ich von nun an täglich beten - niemals heiraten. Ihr soll der Schmerz erspart bleiben, der einer Mutter das Herz bricht, wenn sie die eigenen Kinder überlebt.