Apia, Oktober 1908
Vier Wochen waren seit der heimlichen Liebesnacht vergangen, und Kate fühlte sich bestätigt. Die Welt drehte sich noch. Sie fühlte sich rundherum gesund und so lebenshungrig wie selten zuvor. Abgesehen davon, dass sie sich Tag und Nacht nach Manono sehnte und Maria sie ständig neckte, da sie ja wohl eine Träumerin geworden sei, ging es ihr wunderbar. Vor ihr auf dem Tisch lag ein Brief, den sie noch keines Blickes gewürdigt hatte.
»Ist es deswegen?«, fragte Maria neugierig und deutete auf den Umschlag.
Kate lachte laut auf. »Oh, nein, ganz bestimmt nicht.« Mit diesen Worten riss sie ihn auf und las: »Ich möchte dich heute Nachmittag am Hafen treffen ...« Sie unterbrach sich kichernd und sagte: »In dem kleinen Satz zwei Fehler. Au weia! Aber schau, was der Max noch geschrieben hat!«
»Das will ich gar nicht wissen. Und ich finde es nicht gut, wie du dich über ihn lustig machst. Merkst du denn nicht, dass er dich heiraten will?«
Kate stutzte. Maria schaute verdrießlich drein.
»Kann es sein, dass du dich in ihn verliebt hast?«
»Und, wenn schon, er hat ja nur Augen für dich!«
Kate sah die Freundin nun ernst an. »Ich will ihn aber nicht! Auf keinen Fall, aber ich habe eine Idee. Vielleicht gehst du heute Nachmittag zum Hafen.«
»Aber er erwartet dich!«
»Sag ihm, dass ich krank bin, und vertraue ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit an, dass ich ihn unerträglich finde.«
»Aber ich würde dich doch niemals verraten!«
»Und wenn ich dich ausdrücklich darum bitte?«
»Das verstehe ich nicht!«
Kate stöhnte auf. Das war das Problem mit Maria. Sie brauchte manchmal etwas länger, um Zusammenhänge zu begreifen. »Das ist die Gelegenheit, ihn für dich zu gewinnen. Tröste ihn! Du wirst schon sehen. Den Antrag macht er dir!«
Maria lief rot an. »Du meinst, er würde mich fragen, ob ...«
»Natürlich. Er ist gekränkt, weil ich ihn nicht mag, und du bist zur Stelle. Willst du ihn denn?«
»Ja, nichts lieber als das.«
Kate gab Maria einen ermunternden Stups. »Wenn dem so ist, worauf wartest du noch? Komm, wir suchen das passende Kleid aus.« Mit diesen Worten verschwanden sie kichernd im Haus.
Kaum hatte sich Maria aufgeregt zu dem Treffen mit Max Schomberger verabschiedet, als Granny sich die Treppen zur Veranda hinaufschleppte. Sie wirkte alt und gebrechlich, und in ihrem Gesicht stand nichts als Sorge geschrieben.
Kate erschrak. »Granny, was ist geschehen?«, fragte sie ängstlich.
Ihre Großmutter ließ sich ächzend auf einen Stuhl fallen. »Ach, Kind, der gesamte Kakao ist vom Kanker bedroht. Einige Rinden sind schon angefault. Vetter Hans hat nämlich nur die Sorte Criollo angebaut, die besonders anfällig ist. Nun werden Brenner und Manono versuchen, alle Stämme, die noch nicht befallen sind mit Kalk zu bestreichen; und vor allem muss unbedingt Forastero gepflanzt werden. Den erwischt die Rindenfäule nicht.«
»Werden da nicht alle Hände gebraucht? Soll ich helfen?«, bot Kate nicht ohne Hintergedanken an.
»Das ist lieb, aber Manono hat einen Haufen Helfer zusammengetrommelt. Das wird die beiden ein wenig entlasten, denn der arme Junge arbeitet bis zum Umfallen.«
Kate hielt den Atem an. Sie wollte am liebsten sofort zu ihm.
»Und noch etwas: Maria wird auch oben gebraucht, bis wir den Kanker besiegt haben. Sie muss für die Helfer kochen. Das heißt, dass du hier unten den Haushalt machen wirst. Ich werde bestimmt ein paar Tage dort oben verbringen müssen. Es geht um unsere Existenz. Sieh zu, dass Paula gut versorgt wird! Ich werde gleich fahren. Sag mal, wo steckt Maria überhaupt?«
Kate zuckte zusammen. »Die ist noch einkaufen und kommt erst gegen Abend zurück. Soll ich dich begleiten?«, bot Kate ihrer Großmutter mit belegter Stimme an.
Granny schüttelte energisch mit dem Kopf. »Kate, Kind, ich sagte, sie soll die hungrigen Mäuler versorgen. Ich glaube kaum, dass sie das essen würden, was du zusammenrührst.«
Kate stöhnte laut auf. Großmutter hatte recht. Zum Kochen war sie in der Tat nicht die Richtige. »Aber ich könnte doch beim Pflanzen helfen!«
Granny aber war bereits von ihrem Stuhl aufgestanden und befahl streng: »Brenner wird Maria morgen in aller Frühe abholen. Das Kind kann ja nicht reiten. Bitte, richte ihr das aus! Ich muss los!«
Kate blieb unzufrieden zurück. Ob Manono in dieser Situation wirklich um meine Hand anhalten wird?, fragte sie sich. Sie bezweifelte es.
»Kind, du bist so blass!«, bemerkte Paula, als sie Kate an diesem Tag das Mittagessen servierte. »Geht es dir nicht gut? Wollen wir Doktor Wohlrabe holen?«
»Nein, wozu?«, erwiderte sie mit Nachdruck. »Ich habe gar keine Zeit, mich ins Bett zu legen. Ich muss die Korrespondenz erledigen und dem Onkel versichern, dass hier alles bestens läuft.«
»Ja, gut, tu das bloß!«, bekräftigte Paula. »Seit er weiß, dass Anna das Handelshaus führt, hat er ja ständig Sorge, dass es den Bach hinuntergeht.«
»Er ist eben ein Dummkopf!«, entgegnete Kate schroff.
»Kate, wo warst du eigentlich neulich Nacht?«, fragte Paula nach einer Weile des Schweigens plötzlich.
»Welche Nacht meinst du?« Kate bemühte sich, ganz ruhig zu klingen, aber das Zittern in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
»Ich meine, in jener Nacht vor ungefähr vier Wochen, als du fortgeschlichen und erst am frühen Morgen zurückgekehrt bist?«
»Du hast mich gehört?«
»Ja, und ich habe kein Auge zugetan, bis ich dich sicher in deinem Bett wusste. Ist es in jener Nacht geschehen?« Paula hatte aufgehört zu essen und musterte Kate durchdringend.
»Wovon redest du?« Kate ahnte bereits, dass Paula sich damit nicht würde abspeisen lassen.
»Ich rede davon, dass du mit einem Mann zusammen warst! Kate, mir kannst du nichts vormachen. Kann es sein, dass du ein Kind erwartest?«
»Nein, da kann ich dich beruhigen. Ich werde erst Kinder kriegen, wenn ich mit ihm verheiratet bin!«, erwiderte Kate forsch.
»Ich werde diesem Lehrerlümmel eigenhändig den Hosenboden versohlen. Was denkt der sich dabei, sich mit dir am Strand herumzutreiben und ... Nicht auszudenken, aber ich werde dafür sorgen, dass Granny euch ihren Segen gibt, und zwar schnell! Bevor ganz Apia sehen kann, dass der dumme Kerl seine Hose nicht anbehalten kann.«
Kate blickte Paula entgeistert an. »Es ist nicht Max!«
»Wer dann? Sag mir sofort, wer es ist!« Die Stimme der alten Frau bebte vor Entrüstung.
»Manono!«, flüsterte Kate tonlos.
Paula wurde weiß wie eine Wand. »Nein, nein, sag, dass das nicht wahr ist!«, stammelte sie.
»Ich werde ihn heiraten!«
»Das wirst du nicht!«, widersprach Paula ihr heftig. »Kennst du auch nur eine weiße Frau, die einen Einheimischen geheiratet hat?«
»Das liegt an dem Überschuss der weißen Männer«, entgegnete Kate trotzig.
»Nein, mein Kind, das liegt daran, dass so eine Liebe nicht sein darf. Glaube mir, ich weiß, wovon ich spreche. Ich war noch jung. Da habe ich mich in einen Maori verliebt, aber meine Eltern kamen dahinter und bestimmten, dass wir uns niemals wiedersehen durften. Mich haben sie am nächsten Tag weit weg von zu Hause auf die Südinsel nach Dunedin geschickt. Zu den McDowells, also zu deinen Großeltern väterlicherseits. Ich habe ihn nie wiedergesehen.«
»Aber ich werde nicht zulassen, dass man uns trennt. Manono wird heute oder morgen bei Granny um meine Hand anhalten!«
»Mein Gott, Kind! Das darf er nicht! Das überlebt sie nicht. Das-«
Sie schwieg, weil Maria auf die Veranda trat. In ihren Augen funkelten Sternchen, und sie lächelte selig.
Kate wollte gerade aufspringen und sie umarmen, als sie Max bemerkte, der ihr zögernd folgte. Er blickte Kate finster an.
»Ach, Paula, Kate, ihr sollt die Ersten sein, die es erfahren. Max hat um meine Hand angehalten. Jetzt müssen wir nur noch Großmutter fragen«, offenbarte Maria strahlend, während ihr Verlobter betreten zu Boden sah.
»Das ist ja mal eine gute Nachricht«, bemerkte Paula mit einem strafenden Seitenblick auf Kate.
»Wo ist Granny denn? Wir waren schon im Kontor. Da war sie auch nicht«, erklärte Maria.
In Kates Kopf arbeitete es fieberhaft. Das war die Gelegenheit!
»Granny ist oben auf der Plantage. Sie hat mir aufgetragen, dir mitzuteilen, dass du unbedingt heute noch nachkommen sollst. Max, du hast doch eine Kutsche, nicht?«
Max Schomberger nickte schwach.
»Was haltet ihr davon, wenn wir alle zusammen hinfahren? Granny kann bestimmt eine erfreuliche Abwechslung gebrauchen.«
»Ein wunderbarer Vorschlag, Kate. Was meinst du, Max?«, fragte Maria. Sie sprühte nur so vor Glück. Ihr frischgebackener Verlobter zögerte. »Ich weiß nicht, ob wir nicht warten sollten, bis sie wieder in Sogi ist.«
»Richtig, mein Junge. Du bringst Maria nur dorthin. Und Kate bleibt bei mir«, bemerkte Paula hastig.
»Wir fahren!«, entgegnete Kate scharf. »Komm, lass uns packen, Maria! Und du holst schon mal die Kutsche!«
Max schien der Befehlston gar nicht zu gefallen, doch er tat, was Kate von ihm verlangte. Auch Paulas böse Blicke konnten sie nicht von ihrem Vorhaben abbringen. Die Angelegenheit duldete keinen Aufschub mehr. Granny musste endlich ihre Zustimmung zu dieser Ehe geben. Kate konnte nicht länger warten. Alles in ihr drängte mit Macht zu ihm hin.
Ach, Manono, Liebster, ich vermisse dich!, dachte sie, als sich der zweirädrige Buggy in Bewegung setzte.
Die Plantage lag östlich von Apia, kurz vor der ältesten Pflanzung Vailele. Der Weg, der ungefähr anderthalb Stunden dauern würde, führte über Serpentinen durch eine liebliche Landschaft. Kate genoss den Ausblick auf die malerischen grünen Hügel, die sie stark an Neuseeland erinnerten.
Als sie an einem kleinen Wasserfall vorbeikamen, schallte lautes Juchzen hinüber zur Kutsche. Max rümpfte die Nase. »Sie planschen im Wasserfall wie die Kinder«, bemerkte er griesgrämig. Mit einem Seitenblick auf Maria stellte Kate fest, dass diese die schlechte Laune ihres Verlobten nicht im Geringsten störte. Sie strahlte immer noch. »Die schämen sich wohl gar nicht«, knurrte er nun und deutete auf einen jungen Samoaner, der, nur mit einem tropfnassen Lava-Lava bekleidet, aus dem Wasser stieg. »Und wie die aussehen! Die Nase wie zu Brei geschlagen und dann diese wulstigen Lippen. So eine Frau würde ich nicht mit spitzen Fingern anfassen.«
Kate lief vor Wut rot an. »Das musst du gerade sagen. Du trägst den Bauch ja jetzt schon vor dir her wie ein Alter!«, gab sie erbost zurück. Das brachte ihr einen strafenden Blick der Freundin ein.
In diesem Augenblick überkamen Kate die ersten Zweifel, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, Maria mit diesem Burschen zu verkuppeln. Sie wandte den Blick ab. Sie wollte die Gedanken lieber auf ihre eigene Zukunft lenken. Ob Manono ihren Kindern beibringen würde, wie man Wasserfälle hinunterrutschte?
Als sie wenig später durch ein Dorf fuhren, wurden sie Zeugen, wie eine berittene Truppe einheimischer Polizisten eine Hütte stürmte. Es folgten Schüsse aus dem Inneren.
»Wir müssen helfen. Lasst uns halten!«, befahl Kate, Max jedoch trieb das Pferd zur Eile an und sagte verächtlich: »Sie suchen Aufständische. Du willst doch nicht etwa einem Mau zu Hilfe eilen?«
Maria pflichtete ihm bei: »Die Aufständischen wollen uns aus dem Land treiben und töten! Da sollten wir uns auf keinen Fall einmischen, Kate.«
Kate schwieg nachdenklich. Sie hatte eine Freundin verloren. Wie soll ich je wieder offen mit Maria sprechen?, fragte sie sich. Bei ihr gilt doch nur noch das Wort ihres Verlobten, und der ist ein größerer Dummkopf, als ich vermutet habe.
Nun tauchte vor ihnen die Plantage auf. Wie sehr hatte sie sich doch danach gesehnt, sie endlich wiederzusehen! Die Palmen dominierten das Bild. Die Erhabenheit der unzähligen schlanken Stämme, deren Kronen sich in schwindelnder Höhe im Wind wiegten, raubte ihr beinahe den Atem.
Als sie das Verwalterhaus erreichten, sprang Kate behände von der Kutsche und ließ ihren Blick schweifen. Alles leuchtete in verschiedenen Schattierungen von Grün. Dazwischen grasten Dutzende von Rindern, die den Boden von Unkraut freihielten.
Die Kakaopflanzen am anderen Ende der Plantage sehen bestimmt höchst merkwürdig aus mit ihren weiß gekalkten Stämmen, dachte Kate. Am liebsten hätte sie sofort einen Rundgang unternommen, aber sie durfte ihr Ziel, das sie hergeführt hatte, nicht aus den Augen verlieren. In diesem Augenblick trat Granny auf die Veranda und blickte die drei Ankömmlinge erstaunt an. Nachdem sie Maria und Max höflich begrüßt und gebeten hatte, in das Haus zu kommen, trat sie auf Kate zu und zischelte: »Was willst du hier? Habe ich dir nicht ausdrücklich verboten herzukommen?«
»Granny, hör zu. Ich bin neunzehn und kein Kind mehr. Ich möchte zu meinem Verlobten.«
Anna schnappte nach Luft: »Von wem in Teufels Namen sprichst du?«
»Tu doch nicht so! Du weißt, dass ich Manono meine. Er wird um meine Hand anhalten, und ich möchte dabei sein! Wo ist er überhaupt?«
»Niemals!«, erwiderte Anna drohend. »Und du wirst umgehend mit diesem Burschen zurückfahren. Was will der überhaupt hier?«
»Er will Maria heiraten. Und jetzt sag mir, wo ich Manono finde.«
»Kate, ich sage es zum letzten Mal: Fahr sofort nach Sogi zurück! Manono ist in seiner Hütte. Er hat Tag und Nacht durchgearbeitet und braucht seinen Schlaf.«
»Über meinen Besuch wird er sich bestimmt freuen!«, erwiderte Kate trotzig und baute sich kämpferisch vor ihrer Großmutter auf.
Da ertönte lautes Pferdegetrappel. Einheimische Polizisten ritten in den Hof.
Kate erschrak. Es waren dieselben, die vorhin im Dorf die Hütte gestürmt hatten. In holprigem Deutsch erkundigte der Anführer sich nach den Unterkünften der Pflanzer.
»Wozu wollt ihr das wissen?«, fragte Granny.
»Wir suchen einen Mauführer. Im Dorf hat man uns gesagt, dass er hier zu finden ist. Also, wo sind sie?«
Granny zog es vor zu schweigen, aber da preschten die vier Reiter bereits über die Plantage davon.
Kate brauchte nur einen Wimpernschlag, um zu begreifen, wen sie suchten. »Wo ist er?«, schrie sie.
Granny zeigte auf eine Hütte, deren Palmendach hinter den mächtigen Stämmen hervorlugte, und Kate rannte los. »Kind, bleib hier! Du wirst ihn nicht heiraten. Niemals. Lass ihn in Ruhe!«, schrie sie.
Außer Atem erreichte Kate den Eingang der Hütte. »Es sind Polizisten auf der Plantage. Sie suchen einen Mau. Wenn du es bist, lauf!«, keuchte sie. Nun hatte auch Anna japsend die Hütte erreicht.
»Großmutter, sie suchen ihn. Er muss fort!«, schrie Kate.
Manono blieb ganz ruhig. Mit einem einzigen Griff nahm er ein blau-weißes Tuch von seinem Lager, als die Polizisten die Hütte erstürmten. Einer zielte mit einem Gewehr auf Manono und rief in seiner Heimatsprache: »Er ist es. Das Zeichen. Er hat ihre Fahne in der Hand!«
Kate verstand ihn und machte einen Satz auf Manono zu. Sie baute sich vor ihm auf und brüllte: »Wenn ihr ihn erschießen wollt, müsst ihr erst mich töten!«, doch da stürzte sich Anna mit ausgebreiteten Armen vor die beiden und stieß einen unmenschlichen Schrei aus. Ein Schuss fiel, und Kate spürte nur noch einen stechenden Schmerz am Arm.