Ocean Grove, 17. Januar 2008
Seufzend legte Sophie die Aufzeichnungen aus der Hand. Arme Kate! Jetzt hatte sie ihre große Liebe auf so tragische Weise verloren! Warum lagen die Liebe und der Schmerz nur so nahe beieinander? Vielleicht war es doch besser, einen Mann nicht aus tiefster Seele zu lieben. Wenn ich Jan geheiratet hätte, hätte ich vermutlich nie so schrecklich leiden müssen wie Anna oder Kate, dachte sie. Ihre Gedanken wanderten zu John. Zögerte sie deshalb, sich mit ihm zu treffen? Aus Angst vor dem Schmerz? Wie sollte sie ihr Verhalten sonst deuten? Da gab es einen Mann, den sie liebte und der sie liebte ... Warum rief sie ihn nicht an und sagte: Komm! Steh mir bei! Halte mich! Die sonderbarsten Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Konnte sie sich der Liebe erst in dem Augenblick ergeben, in dem das Geheimnis gelüftet war? Was, wenn der Fluch auch ihr Schicksal bestimmte? Wenn auch ihr alles genommen würde, wenn sie sich der Liebe hingab?
Entschlossen sprang Sophie auf. Ich muss mich bewegen!, ging es ihr durch den Kopf. Sie konnte nicht länger still sitzen. Sie war furchtbar aufgeregt. Sie zog sich Joggingsachen an und rannte, ohne zu überlegen, zum Strand hinunter, am Meer entlang und dann nach oben auf den Klippenpfad.
Sie blieb erst stehen, als sie partout nicht mehr konnte. Mit Schrecken stellte sie fest, dass sie sehr weit gelaufen sein musste. Sie bekam es mit der Angst und kehrte um. Auf dem Rückweg steigerte sie ihr Lauftempo. Völlig außer Atem erreichte sie schließlich das Haus, vor dem gerade ein schwarzer Jeep davonraste. Die Angst fuhr ihr in alle Glieder. Sie schwitzte, hatte Seitenstiche und konnte sich nur mühsam auf die Veranda schleppen.
Als sie einen kleinen Stapel Papier auf dem Tisch entdeckte, wurde ihr jedoch eiskalt. Die Blätter waren mit einem Gummiband zusammengehalten. Vorsichtig zog Sophie die erste Seite hervor, der im oberen Bereich ein Drittel fehlte. Sophie lief mit dem Bündel hinein, holte die Aufzeichnungen aus dem Schlafzimmer und hielt die beschädigte Seite an das zerrissene Blatt, das sie noch besaß. Die beiden Teile passten perfekt aneinander. Nun hielt sie die erste Seite von Emmas Geschichte komplett in den Händen! Mit einem flüchtigen Blick auf die folgenden Blätter stellte Sophie fest, dass diese dicht beschrieben waren. Kein Zweifel, sie hielt den Schlüssel zu Emmas Geheimnis in den Händen. Es kribbelte ihr in den Fingern, Seite um Seite umzublättern, um nach Thomas Holden zu suchen, doch sie konnte sich gerade noch beherrschen.
Sie würde es genau so machen, wie es sich ihre Mutter gewünscht hatte. Sie würde erst Kates Geschichte zu Ende lesen. Es fiel ihr wahnsinnig schwer, aber mit zittrigen Händen trug sie die Manuskriptseiten ihrer Mutter ins Schlafzimmer und schob sie unter das Bett. Dabei stieß sie auf einen Widerstand. Überrascht kniete Sophie nieder, um nachzusehen. Ein Kasten, der über und über eingestaubt war. Hier ist offenbar ewig nicht mehr geputzt worden, dachte Sophie.
Vorsichtig pustete Sophie den Staub von der schmucklosen Kiste, die eine Reklame für Pfeifentabak zierte, und öffnete sie. Gebannt blickte sie auf ein Foto, das auf einem Stapel vergilbter Briefe lag. Es zeigte einen gut aussehenden, blond gelockten Mann mit längerem Haar. Er trug ein Polohemd und eine helle Hose und lehnte lässig am Pfeiler einer Veranda, in der Hand eine Pfeife. In seinem Blick lag etwas Überhebliches.
Wer war dieser Kerl? Sollte sie die Briefe lesen, um das Rätsel zu lösen? Nein, sie hatte genug mit Emmas Aufzeichnungen zu tun.
Entschlossen legte Sophie das Foto zurück und klappte den Deckel wieder zu. Dann schob sie die Kiste zurück unters Bett.
Noch einmal juckte es sie in den Fingern, nach Emmas Geschichte zu greifen, damit das Rätselraten endlich aufhörte. Seufzend widerstand sie der Versuchung. Der Tag war noch jung. Bis Judith zurückkam, würde sie sich in Kates weiteres Schicksal vertiefen.
Bevor sie zu lesen begann, fragte sie sich: Wer mochte Emmas Geschichte gestohlen und nun zurückgebracht haben? Steckte wirklich dieser Tom dahinter? Sophie spielte einen Moment lang mit dem Gedanken, sich John anzuvertrauen. Die schwangere Judith durfte sie auf keinen Fall beunruhigen. Kein Wort zu ihr von dem mysteriösen Fund auf der Veranda!, schwor sie sich. Und vor allem musste sie ihrer Freundin verschweigen, dass sie wieder einen schwarzen Jeep hatte davonrasen sehen.