Dunedin/Otago, Januar 1863
Anna Peters weinte stumm in sich hinein. Ihr Ehemann Christian, der neben ihr im Bett laut schnarchte, durfte es auf keinen Fall mitbekommen. Wenn er aufwachte, würde er sie bestimmt für ein undankbares, dummes Ding halten und sie dafür mit groben Worten bestrafen.
Anna empfand es ja selbst so, dass sie eigentlich keinen Grund zum Klagen hatte. Sie wusste durchaus zu schätzen, was er auf sich genommen hatte, aber sie fühlte sich so entsetzlich einsam an diesem Ort am Ende der Welt, der ihr im Gegensatz zu Hamburg wie die Wildnis vorkam. Für Christian jedoch bedeutete er die Chance, es zu Ansehen und Reichtum zu bringen. Er war nun der Chef der neuen Handelsniederlassung Wortemann in Otago.
Annas Tränen waren versiegt, aber die Traurigkeit blieb. Für sie war das hier nur der Beginn eines weiteren Lebensabschnitts, den andere für sie vorgesehen hatten. Seit ihrer frühen Kindheit hatten ihr Onkel Rasmus Wortemann und seine Frau Margarete über sie, das arme Waisenkind, bestimmt. Sie hatten ihr das kleinste Zimmer in der Sommervilla der Familie an der Elbe zugewiesen, nachdem sie sie bei sich aufgenommen hatten. Sie hatten auch entschieden, wie das Erbe ihrer Eltern angelegt werden solle - mit dem Ergebnis, dass angeblich nichts mehr davon übriggeblieben war. Und sie hatten beschlossen, dass ihre Ziehtochter, kaum achtzehnjährig, dem zehn Jahre älteren Christian Peters, der rechten Hand ihres Onkels in der Handelsgesellschaft Wortemann, zur Frau gegeben wurde.
Anna atmete schwer bei dem Gedanken. Sie wusste, dass ihr Unrecht widerfahren war, nachdem ihre Eltern kurz nacheinander den Pocken zum Opfer gefallen waren, an denen sich ihr Vater auf einem Wortmann'schen Schiff nach Übersee angesteckt hatte. Andererseits hatten Onkel und Tante ihr ein neues Zuhause gegeben. Man hatte sie niemals schlecht behandelt. In einem Waisenhaus wäre es mir bestimmt schlimmer ergangen, tröstete Anna sich einmal mehr und merkte, wie weit weg Europa war. Wieder spürte sie, wie ihre Augen feucht wurden bei dem Gedanken an das ferne Hamburg.
Es sind die Strapazen der Überfahrt, redete sich die junge Frau ein. Aber das würde Christian niemals als Entschuldigung gelten lassen. Sie war schließlich auf der Margarete gereist, einem Handelsschiff der Familie Wortemann. Der reine Luxus, wie Christian behauptet hatte, zumal er Monate zuvor auf einem einfachen Auswandererschiff nach Neuseeland gekommen war. Vier Monate hatte seine Überfahrt gedauert. Das sind kaum vorstellbare Strapazen gewesen, würde er ihr vorhalten, während sie wie eine Prinzessin gereist sei. Es würde wenig nützen, ihm zu erklären, dass es auch für sie eine einzige Qual gewesen war, hatte sie doch volle drei Monate unter Seekrankheit gelitten. Er würde ihr entgegenhalten, er habe die Menschen wie Vieh unter Deck sterben sehen und sei einer um sich greifenden Seuche nur knapp entronnen. Vor allem würde er ihr in Erinnerung rufen, dass er Tag und Nacht geschuftet hatte, um diese Handelsvertretung im vom Goldrausch profitierenden Otago aufzubauen, damit er ihr, dem verwöhnten Hamburger Mädchen, ein gutes Leben bereiten könne. Nein, es war besser, ihm nicht zu zeigen, wie elend ihr zumute war.
Er durfte vor allem niemals erfahren, dass es einen viel tieferen Grund für ihre Tränen gab. Sie war keine gute Ehefrau, und sie würde es niemals werden, denn sie hasste das, was er ihr soeben hatte antun wollen. Wie ein Tier hatte er sich auf sie gewälzt, sie mit seinem Gewicht fast zerquetscht, und sie hatte ihn schließlich angefleht, sie heute noch nicht anzurühren. Sie hatte seit ihrer Ankunft vor zwei Tagen nur blass und erschöpft im Bett gelegen. In der vergangenen Nacht hatte er sie in Ruhe gelassen, aber nun hatte er versucht, ihre ehelichen Pflichten einzufordern, und sie dabei mit seinem ekelhaft stinkenden Atem angehaucht. Er hat Schnaps getrunken, vermutete Anna. Sie spürte immer noch die groben Hände auf ihren Schenkeln, die ihr Nachthemd immer höher schoben. »Bitte, nicht!«, hatte sie gefleht. »Mir ist nicht gut!« Und das war die reine Wahrheit gewesen, war ihr doch beim Geruch seines widerlichen Atems speiübel geworden.
Mit einem brummigen »Morgen ist die Schonfrist vorüber!« hatte er die Pranken von ihren Schenkeln genommen, sein Schlafhemd mit einem Ruck hinuntergezogen und sich wütend auf die andere Seite gerollt. Bald danach hatte er laut zu schnarchen angefangen.
In diesem Augenblick hörte Anna ein pfeifendes Geräusch, erst leise, dann immer lauter. Sie vermutete, dass es ein einheimisches Tier war, eines von diesen vielen unbekannten Wesen dort draußen, die ihr Angst einjagten.
Das Pfeifen wurde immer lauter und ging in ein Zischen über. In diesem Augenblick schreckte ihr Mann hoch. Anna schloss die Augen und wagte kaum zu atmen, damit er nicht merkte, dass sie noch wach lag. Der Mond beleuchtete das Zimmer so hell, dass man alles deutlich erkennen konnte. Das schlichte Eisenbett, die Kommode, den Schrank, die Nachttische und zwei Stühle für ihre Kleidung. Dazwischen ihre riesigen Überseekoffer.
Anna hielt die Augen fest zusammengekniffen, als das Geräusch noch einmal ertönte. Täuschte sie sich, oder ging das Zischen in einen menschlichen Ruf über? Annas Herz klopfte bis zum Hals. Sie hoffte, er würde es nicht hören und damit erraten, dass sie noch nicht schlief. Zu groß war ihre Angst, dass er seinen massigen Körper noch einmal auf sie wälzen würde. Sie konnte nicht garantieren, dass sie bei dem nächsten Versuch nicht vor Ekel würgen würde. Es war ja nicht nur der Schnaps, es war ja auch der Geruch nach erkaltetem Schweiß, der in seinem Nachthemd saß und den er bei jeder Bewegung ausdünstete.
Hat er eigentlich immer schon solche übel riechenden Schwaden ausgestoßen?, fragte sich Anna und versuchte sich zu erinnern. Sie hatte ihn ja schließlich schon über ein Jahr nicht mehr gesehen.
Doch statt sich an seinen Geruch zu erinnern, fiel ihr plötzlich die erste Begegnung mit ihrem Mann ein. Auf dem Sofa des Onkels in der Sommervilla an der Elbe.
»Das ist Christian. Er hat um deine Hand angehalten.« Mit diesen Worten hatte der Onkel ihr den linkisch wirkenden Mann vorgestellt.
Sie war zu Tode erschrocken, als Christian ihr eine Hand entgegenstreckte, die sie an die Pranke des Braunbären erinnerte, den sie einmal in einem Wanderzirkus bewundert hatte. Dieser Mann war das Gegenteil von Frederik Goldhammer, ihrem schöngeistigen Klavierlehrer, den sie lange heimlich verehrt hatte. Bis zu dem Tag, an dem er beim vierhändigen Spiel ihre Hände berührt hatte. Bei dem Gedanken, was dann geschehen war, konnte Anna ein Zittern nicht unterdrücken. Sie hatten sich angesehen, bis ihre Münder einander gefunden hatten.
»Ich halte gleich morgen um deine Hand an, Liebste«, hatte Frederik ihr nach diesem Kuss hoch und heilig versprochen. Und sie hatte ihn nie wiedergesehen! Sie wusste nur, dass er dem Onkel tatsächlich seine Aufwartung gemacht und dieser ihn hochkantig hinausgeworfen hatte.
»Wir haben andere Pläne mit dir«, hatten Onkel Rasmus und seine Frau Margarete ihr wenig später ungerührt mitgeteilt. »Es kommt gar nicht in Frage, dass du so einen brotlosen Künstler nimmst!«
Und dann saß plötzlich dieser grobschlächtige Kerl auf dem Sofa und blickte sie hoffnungsvoll an. Anna war wie erstarrt gewesen. Diese erste Begegnung mit Christian Peters lag inzwischen mehr als drei Jahre zurück. Nachdem Anna dem Heiratskandidaten die Hand gereicht hatte, war sie damals einfach aus dem Zimmer gerannt, aber die Tante hatte sie zurückgeholt und ihr befohlen, seinen Antrag anzunehmen. »Sonst geben wir dich in das Damenstift.«
Das war eine schlimme Drohung, denn Anna kannte zwei alte Tanten, die dort lebten, und etwas Verknöcherteres als diese beiden schwarz gekleideten, frömmelnden Krähen war ihr nie zuvor begegnet. Anna hatte sich in ihrer Verzweiflung Bedenkzeit ausgebeten in der stillen Hoffnung, dass Frederik sie retten würde. Wochenlang hatte sie Abend für Abend in die Kissen geweint und gebetet, dass Frederik sie entführen möge. Ja, sie hatte sogar ein Köfferchen gepackt für den Fall, dass er sie eines Nachts abholen würde, aber der Klavierlehrer war niemals gekommen. Ja, sie wäre sogar zu ihm gegangen, doch sie kannte ja nicht einmal seine Adresse.
Und nach einem Monat hatte der grobe Geselle wieder auf dem Sofa ihres Onkels gesessen. Anna sah alles vor ihrem inneren Auge ablaufen, als wäre es erst gestern gewesen: wie sie sich brav neben den Gehilfen ihres Onkels gesetzt und mit den Tränen gekämpft hatte. Sie fand ihn schrecklich. Seine ungelenken Bewegungen, sein verlegenes Lächeln, das gelbliche Zähne preisgab, seine ungeschickt formulierten Sätze. All das hatte sie abgestoßen.
Ein erneutes Pfeifen riss Anna aus ihren Erinnerungen.
Christian schien sich jetzt leise, ganz leise zu erheben: das Rascheln seiner Bettdecke, tapsende Schritte auf den Holzdielen. Eins, zwei, drei, bis zum Schemel. Aber was war das? Warum zog er seine Hosen an, wenn er doch nur seine Notdurft verrichten wollte? Und die Stiefel. Wieder Schritte; die Tür klappte. Die schweren Schritte seiner Stiefel auf der Stiege. Dann war alles ruhig.
Vorsichtig öffnete Anna die Augen und setzte sich im Bett auf. Sie seufzte. Überall im Zimmer standen noch die Koffer, die sie mitgebracht hatte. Zum Auspacken war sie viel zu erschöpft gewesen. Und dann all das Neue, das sie hier erwartete! Am meisten schockierte sie, dass sie vorerst in einem Holzhaus leben sollte. Gut, man hatte sie in Hamburg mit dem kleinsten Zimmer der Villa abgespeist, aber gegen diese Hütte war es der reinste Palast gewesen. Und überall zwischen den eilig hochgezogenen Holzbehausungen führten sandige Wege hindurch, die der Regen in Schlamm verwandelt hatte. Die Kutsche war mehrmals stecken geblieben. Dazu der plötzliche Sommer. Als sie in Hamburg an Bord gegangen war, hatte Schnee gelegen.
Erschrocken merkte Anna, wie ihr allein bei dem Gedanken an ihre Ankunft im Hafen von Otago wieder eine Träne über das Gesicht rollte. Hastig wischte sie die Spur ihres Kummers fort.
»Hör auf zu heulen!«, hatte Christian gebrüllt, als sie beim Anblick der kargen Behausung in Tränen ausgebrochen war. »Stell dich nicht so an! Du hast keinen Grund dazu! Wir werden bald das prachtvollste Haus vor Ort haben. Ich habe schon mit dem Baumeister gesprochen.«
Alles war so fremd. Nicht nur das Land, sondern auch ihr Mann. Er hatte sie noch nie zuvor angebrüllt. Bis auf die Tatsache, dass er ihr einmal wöchentlich große Schmerzen bereitete, hatte sie sich in den ersten beiden Ehejahren fast ein wenig an ihn gewöhnt. Wenn er auch grob wirkte, war er in seinem Wesen ihr gegenüber stets sanftmütig gewesen. Nur manchmal, da hatte er sie merkwürdig angesehen und lauernd gefragt: »Und, bist du endlich in anderen Umständen?« Nein, sie war in den beiden ersten Ehejahren zu ihrem eigenen Kummer nicht schwanger geworden. Ein Kind, ja, das war ihre große Sehnsucht. Obwohl er jedes Mal enttäuscht gewesen war, weil sie es verneinen musste, war er nie wirklich böse geworden. Im Gegenteil, er hatte sie sogar getröstet und ihr Mut gemacht. »Warte nur ab, eines Tages haben wir einen ganzen Stall voller Kinder!« Christian hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er sich mindestens sechs Nachkommen wünschte. Er war immer freundlich zu ihr gewesen, ja, mehr noch, er hatte ihr eigentlich jeden Wunsch von den Augen abgelesen. Was hatte ihre beste Freundin Gertrud ihr noch bei der Hochzeit zugeflüstert? »Er ist ein stattlicher Mann, und er liebt dich!« Daran, dass er sie auf seine Weise liebte, hatte es nie einen Zweifel gegeben. Jedenfalls nicht bis vor einem Jahr, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Bevor er zu diesem Ort an der neuseeländischen Ostküste aufgebrochen war, der über Nacht zum Ziel vieler Glückssucher geworden war.
Hier in der Fremde schien Christian ein völlig anderer Mensch geworden zu sein. Ein Tyrann, der sich nicht wirklich über ihre Ankunft zu freuen schien. Gut, er hatte sie vom Schiff abgeholt, aber zwischen ihnen herrschte Fremdheit. Sie hatten bislang nur wenige Worte gewechselt, und das nur, weil Anna ihren Mann mit Fragen überhäuft hatte. Sie hatte das Gefühl, als betrachte er sie nicht mehr mit den Augen der Liebe, sondern beinahe wie einen Eindringling. Anna hatte sich natürlich vorgestellt, den Mann vorzufinden, von dem sie sich vor einem Jahr getrennt hatte. Die Aussicht, von diesem Mann auf Händen getragen zu werden, das war ihr einziger Trost gewesen, als sie Hamburg verlassen hatte. Jetzt benimmt er sich genauso grob, wie er aussieht, dachte sie seufzend. Ob er sich zu sehr an ein Junggesellendasein gewöhnt hat?
Mit einem Ruck erhob sich Anna und zog verschämt das Nachthemd herunter. Auf Zehenspitzen schlich sie zum Fenster. Christian konnte jeden Moment zurück in das Zimmer treten und sie wach sehen, dennoch konnte Anna dem Wunsch nicht widerstehen, das Fenster zu öffnen und die frische Nachtluft in die stickige Kammer zu lassen. Sie atmete einmal tief durch und wandte den Blick zum Himmel. Sie liebte die Gestirne. Frederik hatte ihr an einem klaren Winterabend, als er mit ihr nach dem Unterricht einen Spaziergang in den Wortemann'schen Garten gemacht hatte, einmal die Sterne am Firmament gezeigt und viele Sternbilder erklärt. Anna seufzte bei der süßen Erinnerung.
Sie beugte sich aus dem Fenster und suchte den Großen Wagen. Zunächst erkannte sie ihn nicht, aber dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Er stand verkehrt herum. Am Himmel der Südhalbkugel war einfach alles genau andersherum. Während sie sich das klarzumachen versuchte, schweifte ihr Blick hinunter auf die Straße.
Es gab in dieser Siedlung aus Holzhäusern in Hafennähe noch keine Gaslaternen wie in Hamburg, aber der Mond schien so hell, dass sie erkennen konnte, was sich dort unten bewegte. Komisch, das war doch Christian, der da auf ein Haus auf der anderen Straßenseite zuschlich! Anna konnte gerade noch rechtzeitig in das Dunkel des Zimmers zurückspringen, bevor er sie womöglich entdeckte. Ihr Herz klopfte wie verrückt. Das Fenster, dachte sie, er wird das offene Fenster sehen. Ich sollte jetzt schnell zurück ins Bett schlüpfen, ermahnte sie sich, aber ihre Neugier siegte.
Ganz leise trat sie erneut zum Fenster, um noch einen Blick auf ihren Mann zu erhaschen. Christian lehnte an einem Verandapfeiler des gegenüberliegenden Hauses, aber er war nicht allein. Neben ihm tauchte eine kleinere Gestalt auf. Ihr schwarzes Haar leuchtete im Silbermond wie das Gefieder eines Raben. Anna erschrak. Das war ja Hine, Christians fremdartig aussehende Bedienstete! Bei Annas Ankunft hatte die sie nur aus dunklen Augen finster angestarrt. Anna hatte Christian gleich auf den unheimlichen Blick des jungen Mädchens angesprochen und ihn gefragt, was es hier im Haus zu schaffen habe. Er hatte ihr unwirsch geantwortet, dass Hine seine Hausangestellte sei und die Maori allen Weißen gegenüber Vorsicht walten ließen. Zu viele ihrer Eltern und Geschwister seien getötet worden. »Vor allem von den Briten auf der Nordinsel«, hatte Christian hinzugefügt.
Nun stand Hine neben ihm. Ganz nahe. Kerzengerade. Ja, sie kam sogar noch näher, und Anna musste mit ansehen, wie Christian die schmalen Hüften der jungen Frau umfasste. Anna schluckte trocken. Dann zog Christian Hine einfach mit sich fort.
Anna zögerte nicht eine einzige Sekunde. Sie eilte zu ihrem Schemel, schlüpfte in ihr Reisekleid, schnürte ihre Stiefeletten und verließ das Haus. Plötzlich hatte sie keine Angst mehr vor der Fremde. Zu groß war ihre Neugier herauszufinden, ob Hine der Grund dafür war, dass ihr Mann sich ihr gegenüber plötzlich so schroff verhielt. »Was bedeutet Hine?«, hatte Anna ihn gefragt.
»Was weiß ich?«, hatte er geantwortet. »Ich glaube, es kommt von Hinepukohurangi. Das heißt so viel wie Nebelfee.«
Anna hatte ihn bewundernd angesehen. »Sprichst du ihre Sprache?«
»Nein«, hatte er unfreundlich geknurrt, »nur ein paar Worte.«
Nun war er Arm in Arm mit Hine in der Dunkelheit verschwunden.
Als Anna in die warme Nacht hinaustrat, wusste sie nicht, in welche Richtung sie gehen sollte, aber dann kitzelte ein vertrauter Duft ihre Nase. Der Duft nach Meer. In einem Gefühl von Glückseligkeit breitete Anna die Arme aus und sog die Seeluft tief in ihre Lungen ein. Intuitiv folgte sie dem salzigen Geruch zum Hafen von Otago, wo sie vor zwei Tagen von Bord gegangen war.
Bald schon hatte sie die Siedlung verlassen, in der man fieberhaft Haus an Haus gebaut hatte, seit man unweit von hier, im Landesinneren, auf Gold gestoßen war. Ein schwacher Wind wehte ihr entgegen, doch das gefiel ihr, denn er erinnerte sie an zu Hause. Die Elbe roch zwar anders, aber an windigen Tagen war dieser erfrischende Hauch von Seeluft auch in Hamburg von der Nordsee herübergeweht.
Nach einer halben Ewigkeit, nachdem sie einen steinigen Weg verlassen hatte, sah sie das Meer im Mondlicht schimmern. Suchend blickte sie um sich, aber sie konnte ihren Mann nicht entdecken. Außer dem Meeresrauschen war auch nichts zu hören. Wenn sie sich recht orientierte, musste irgendwo das Schiff der Handelsgesellschaft Wortemann liegen, das darauf wartete, mit Gold und Wolle beladen zu werden, um nach Deutschland zurückzukehren. Bei dem Gedanken schluckte Anna trocken. Was würde sie darum geben, auf der Margarete zurück nach Hamburg zu reisen!
Anna entschloss sich, zur anderen Seite zu gehen. Dort erstreckte sich nur ein karger Strand, auf dem verstreut einige Fischerboote lagen. Sie hielt inne, zog die Reisestiefel aus, nahm sie in die Hand und setzte vorsichtig Fuß vor Fuß. Plötzlich erblickte sie ein paar Meter voraus zwei Menschen, die im Sand miteinander zu ringen schienen. Da es weit und breit nichts gab, wo Anna sich hätte verstecken können, ließ sie sich der Länge nach in den weichen Sand fallen. Vorsichtig robbte sie zu einem der Boote zurück, hinter dem sie sich zitternd verkroch.
Aus der Deckung heraus konnte sie die beiden Gestalten sehen und hören. Sie ahnte sofort, wem diese verknäulten Leiber gehörten, die sich hemmungslos auf dem Boden wälzten. Christians tierisches Stöhnen würde sie aus Hunderten von Geräuschen heraushören. Sie hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, aber sie wollte es wissen. Alles, was hier zwischen ihrem Mann und der jungen Frau geschah. Hine richtete sich gerade auf, schüttelte ihr langes schwarzes Haar und lief ein Stück den Strand entlang. Christian erhob sich schnaufend, holte sie ein, brachte sie zu Fall und begrub das zarte Geschöpf unter seinem schweren Körper, aber Hine schien es zu gefallen. Sie stöhnte laut auf, aber sie stöhnte nicht vor Schmerz. Das konnte Anna sehr wohl unterscheiden. Als Christian einen letzten langen Schrei ausstieß, hielt Anna sich die Ohren zu. So hatte sie ihn noch nie zuvor seine Leidenschaft herausbrüllen hören - wie ein wildes Tier. Dann war alles still.
Annas Herz klopfte immer noch bis zum Hals. Fieberhaft überlegte sie, ob sie nicht lieber heimkehren sollte, bevor sie womöglich entdeckt wurde, aber sie konnte sich nicht von dem Anblick des ungleichen Liebespaares lösen. Die beiden hatten sich inzwischen erhoben. Hine, deren nackter schlanker Körper im Mondlicht leuchtete, hielt Christian, dem sie knapp bis zur Brust reichte und der bis auf die Hose, die ihm um die Fußgelenke schlackerte, angezogen war, von hinten umfasst. Anna musste den Kopf abwenden. Nicht, weil sie diese zärtliche Geste der Maorifrau unangenehm berührte, sondern weil es sie anwiderte, dass sein Geschlechtsteil noch immer halb aufgerichtet war.
Nun vernahm Anna den leisen Singsang einer Stimme. Hines Worte klangen zärtlich und werbend, aber Anna konnte sein Gesicht sehen, das plötzlich versteinerte. Christian hatte die Zähne fest zusammengebissen. Anna glaubte, das Knirschen seiner Zähne bis zu ihrem Versteck zu hören. Plötzlich drehte er sich zu der jungen Frau um und stieß sie ohne Vorwarnung mit voller Wucht von sich weg. Es war ein solch gewaltiger Stoß, dass die Maori rückwärts in den Sand fiel. Sie schrie etwas in einer Sprache, die Anna nicht verstand, aber immerhin begriff sie, dass es nicht mehr Teil des Liebesspieles sein konnte, denn Hines Worte klangen wütend und anklagend. Christian antwortete mit groben Worten, deren Heftigkeit Anna erschreckten: »Geh weg! Lass mich in Ruhe! Jetzt ist meine Frau da. Weg! Du sollst weggehen, hab ich dir doch gesagt!«
Dabei machte Christian ein eindeutiges Zeichen. Weg! Geh weg! Und er schien die Worte nun in ihrer Sprache zu wiederholen. Die Maori rappelte sich langsam auf, zeigte auf ihren Bauch und umfasste ihn zärtlich. Jetzt erst bemerkte Anna, dass er leicht gewölbt war. Die junge Maori erwartete ein Kind. Sein Kind?
Anna wurde schwindlig, und sie krallte ihre Finger in den kalten Sand.