Dunedin, April bis Mai 1941

 

An einem stürmischen Tag Anfang April 1941 verließ Bill John seine Heimatstadt. Es stand zu befürchten, dass deutsche Truppen Kreta angreifen würden, und die Briten waren dankbar über jeden neuseeländischen Freiwilligen.

Kate hatte ihn angefleht, wenigstens die Geburt seines Kindes abzuwarten, aber er hatte erklärt, dass er jetzt gebraucht werde und sein Kind noch ein ganzes langes Leben lang sehen könne.

Nun begleitete sie ihn zum Zug. Christine vermutete ihren Mann auf einer Wanderung zum Mount Cook, zumal seine beiden Freunde, Jo und Burt, mit ihm aufgebrochen waren.

Immer wieder umarmte Kate ihren Sohn, und trotz ihrer guten Vorsätze, ihm beim Abschied keine Szene zu machen, brach sie in Tränen aus und schluchzte: »Bitte, geh nicht!«

Bill John befreite sich vorsichtig aus ihrer Umklammerung, strahlte seine Mutter zuversichtlich an. Er schwor, dass ihm nichts zustoßen werde, und kletterte in den Wagen. Als er Kate aus dem Abteilfenster zuwinkte, konnte sie ihn nur schemenhaft erahnen. Ihre Augen waren vor Tränen blind. Schon setzte sich der Zug in Bewegung, und sie schluchzte laut auf. Jetzt erst bemerkte sie die vielen weinenden Frauen auf dem Bahnsteig. Sie war nicht die Einzige, die vor Sorge um ihr Kind oder ihren Mann verging. Das nahm ihr zwar nichts von ihrer Verzweiflung, schenkte ihr jedoch ein klein wenig Trost.

Kate sah dem Zug nach, bis er nur noch ein ferner Punkt am Horizont war. Ihr war übel vor Angst. Angst um ihren Sohn, aber auch Angst um Christine. Wie würde ihre Schwiegertochter die Nachricht aufnehmen? Schweren Herzens machte Kate sich auf in die Princes Street, wo die kleine Familie inzwischen allein lebte.

 

Christine war so blass und schwach, als sie ihr die Tür öffnete, dass Kate versucht war, die schlimme Nachricht noch ein paar Tage für sich zu behalten. Die junge Frau war inzwischen im achten Monat und trug schwer an dem Ungeborenen.

»Lieb, dass du mich besuchst, jetzt, wo Bill John unterwegs ist«, grüßte sie und lud ihre Schwiegermutter zum Mittagessen ein, aber Kate brachte keinen Bissen herunter. »Wie findest du es eigentlich, dass er jetzt noch auf eine Bergtour geht, obwohl er doch weiß, dass ich mich in meinem Zustand ohne ihn fürchte ...«

Kate hörte ihr gar nicht mehr zu. Wenn der Gedanke, dass er in den Bergen war, Christine schon so aufregte, wie würde sie dann erst reagieren, wenn sie erfuhr, auf welcher Reise er sich wirklich befand?

Die Stunden vergingen, ohne dass sich Kate traute, ihrer Schwiegertochter die Wahrheit zu gestehen. Doch schließlich fasste sie sich ein Herz. »Christine, mein Engel, ich muss mit dir reden.«

Die werdende Mutter erschrak.

Wie ich es auch anfange, es wird verkehrt sein, dachte Kate. Also wendete sie die Worte nicht länger, sondern berichtete Christine unumwunden, wohin Bill wirklich gefahren war.

Ihre Reaktion war ein eisiges Schweigen.

»Ihm wird bestimmt nichts geschehen. Er versieht als Arzt seinen Dienst hinter der Front«, versuchte Kate sie zu trösten.

Nach qualvollen Minuten des Schweigens presste Christine vorwurfsvoll hervor: »Du hast mich verraten, Kate. Das werde ich dir nie verzeihen.«

»Er hat es einfach nichts übers Herz gebracht, dir die Wahrheit zu sagen, Liebes. Er dachte, ich könnte es besser, aber wie du siehst, versage ich auf der ganzen Linie«, sprach Kate nun sanft auf ihre Schwiegertochter ein, doch es half nichts.

»Du hättest es verhindern müssen!«

»Glaub mir, ich habe alles versucht, Christine. Aber er ist ein erwachsener Mann, und sein Entschluss stand fest. Was meinst du, wie gern ich ihn davon abgebracht hätte, aber du kennst ihn doch. Wenn er sich etwas in den Kopf setzt ...« Kates Stimme versagte. Es überstieg ihre Kräfte, die Starke zu spielen, obwohl die Ängste um ihren Sohn seit Monaten an ihr nagten.

»Er liebt mich nicht. Ich habe es doch gewusst. Sonst hätte er mich in dieser Situation niemals alleingelassen. Kein liebender Mann verlässt seine schwangere Frau, nur um in den verdammten Krieg zu ziehen. Er wollte weg von mir. Das ist der Grund.«

»Christine, Kind, das ist doch nicht wahr. Seine besten Freunde haben sich gemeldet. Da wollte er sich nicht drücken. Und er hat mir versprochen, dass er aus Kreta zurückkehrt, sobald sie verhindert haben, dass die Deutschen die Insel besetzen.«

»Zum Teufel, was geht ihn Kreta an? Und mich lässt er hier sitzen mit dieser grässlichen Schwangerschaft, die mich Tag für Tag dicker und hässlicher macht.«

Kate war erschüttert. Sie breitete die Arme aus, doch Christine stieß sie weg.

»Du steckst mit ihm unter einer Decke und -« Sie schrie laut auf und fasste sich an den Bauch.

Kate begriff den Ernst der Lage sofort. Sie befahl Christine, sich hinzulegen, eilte zum Telefon und rief einen Krankenwagen. »Und bitte schnell, es ist eine Frühgeburt!«

 

Im Krankenhaus wich Kate ihrer Schwiegertochter nicht von der Seite. Sie hielt ihr die Hand, redete beruhigend auf sie ein und wäre auch noch mit in den Kreißsaal gekommen, wenn man sie denn gelassen hätte. Stattdessen saß sie nun, zitternd vor Angst, im Flur und zuckte jedes Mal zusammen, wenn die Tür zum Kreißsaal aufflog. Gerade, als sie ein wenig eingenickt war, wurde sie von einer männlichen Stimme geweckt.

»Sie sind über den Berg. Alle beide. Das Kind ist zum Glück kräftig, aber es muss noch ein wenig im Brutkasten bleiben. Wollen Sie es sehen?«

Kate nickte und folgte dem Arzt. Der erste Blick auf ihr Enkelkind erfolgte durch eine Glasscheibe. Und doch war Kate sicher, dass es ein starkes Kind war, das da das Licht der Welt erblickt hatte. Viel mehr Sorge als das kleine Mädchen im Brutkasten machte ihr die junge Mutter. Christine lag apathisch im Bett, den Kopf zur Wand gedreht, stumm und abweisend.

Das wird die Anstrengung sein. Sie braucht jetzt Ruhe, sagte sich Kate und verließ das Zimmer. Im Flur wäre sie beinah mit dem Arzt zusammengeprallt.

»Sie sehen so erschrocken aus. Stimmt etwas nicht mit Ihrer Schwiegertochter?«, fragte er sofort.

»Nein, nein. Sie redet nicht mit mir, aber das ist sicherlich nur die Erschöpfung.«

Der Arzt schaute sie durchdringend an. »Hoffen wir, dass ihre Niedergeschlagenheit nicht chronischer Natur ist.«

Kate nickte zustimmend. Was würde sonst aus dem kleinen Wurm? Kate nahm sich vor, ihre Schwiegertochter so oft wie möglich zu besuchen.

 

»Wie soll die Kleine heißen?«, fragte Kate ihre Schwiegertochter am dritten Tag nach der Entbindung.

Sie erhielt keine Antwort.

»Nenn sie doch nach deiner Mutter: Emma!«, schlug Kate schließlich vor.

Christine drehte sich gequält zu ihr um. »Na gut. Von mir aus.« Dann verfiel sie wieder in düsteres Schweigen. Aber wenigstens hatte die Kleine jetzt einen Namen.

 

Während ihre Mutter auch nach der Entlassung aus dem Krankenhaus weiterhin in ihrer Welt lebte, ohne das Kind wirklich wahrzunehmen, gedieh Emma prächtig. Christine lag Tag für Tag im abgedunkelten Schlafzimmer und starrte Löcher in die Decke. Sie rührte kaum Essen an und sprach nicht. Kate bemühte mehrere Ärzte, doch sie erhielt immer dieselbe Antwort. »Sie ist gemütskrank, da kann man nichts machen!«

Da Christine sich inzwischen sogar weigerte, die kleine Emma zu stillen, versorgte Kate das Kind. Diese Beschäftigung lenkte sie aber nicht von ihren Sorgen ab. Beim Aufwachen galt stets ihr erster, beim Einschlafen ihr letzter Gedanke Bill John, von dem sie noch immer nichts gehört hatte, seit sie ihm von der Geburt seiner Tochter berichtet hatten. Mittlerweile war es Ende Mai. Aus Rücksicht auf Christines schwache Konstitution behielt sie ihre Ängste für sich, Ängste, die auch ihre Träume beherrschten. Immer wieder wachte sie schweißgebadet auf, weil sie in der Nacht ihren Schwiegervater vor der Tür gesehen hatte. Jede Nacht stand er da mit irrem Blick und streckte ihr drohend den Brief mit der Todesnachricht entgegen, und es kostete sie viel Überwindung, dieses Gespenst zu vertreiben.

 

Kate gab ihrer Enkeltochter, die bald sechs Wochen alt wurde, gerade die Flasche, als der Postbote einen Brief für Christine brachte. Mit pochendem Herzen starrte Kate auf den Umschlag. Sie scherte sich nicht darum, dass er nicht an sie gerichtet war, sondern legte ihn beiseite in der festen Absicht, ihn gleich zu öffnen. Sie musste sich zwingen, das Kind zu Ende zu füttern, denn ihr Innerstes wusste längst, was dieser Brief bedeutete. Zitternd legte sie Emma ins Bettchen. Die Kleine schien zu spüren, was in ihrer Großmutter vorging. Sie schrie so erbärmlich, wie Kate innerlich schrie. Kate griff nach dem Brief. Er war zunächst an eine falsche Adresse in England gegangen. Es hilft nicht zu warten, Kate!, dachte sie. Schon hatte sie den Umschlag aufgerissen. Bill John war bereits am fünfundzwanzigsten April bei einem Angriff der Deutschen auf Kreta ums Leben gekommen. Kate stieß einen markerschütternden Schrei aus. Ihre Hände zitterten so, dass der Umschlag zu Boden fiel. Briefe fielen daraus. Benommen bückte Kate sich danach. Die Briefe an Bill John stammten von Christine und ihr und waren ungeöffnet. Er hat nicht einmal erfahren, dass er Vater geworden ist!, dachte Kate, bevor der Schmerz ihr Herz erreichte und jeden Gedanken und alle Empfindungen verdunkelte.

Viele Tage später, als sie wieder klar denken konnte, schwor Kate McDowell sich, nie wieder einen Pinsel anzurühren, denn das Leben in bunten Farben darzustellen wäre eine einzige Lüge.