Dunedin/Ocean Grove, I. Januar 2008

 

Sophie war so tief in die Lektüre versunken gewesen, dass sie sogar vergessen hatte, zum Frühstück zu gehen. Nun zeigte ihr Wecker bereits zwölf.

Ob es auch ein Tagebuch von Kate gibt?, fragte sie sich und sprang mit einem Satz aus dem Bett. Doch so sehr sie auch in der Holzkiste herumwühlte, sie fand kein Tagebuch von Kate. Dafür fiel Sophie ein Foto in die Hände. Sie erschrak. Die Ähnlichkeit mit ihr war verblüffend. Dasselbe dicke blonde Haar, der Mund, die Augen. Vor Selbstbewusstsein nur so strotzend, lehnte Kate an dem Pfeiler der Veranda in Sogi. Das Bild stammte eindeutig aus Samoa. Mit zitternden Fingern legte Sophie es zurück und griff nach dem Brief des Australisch-Neuseeländischen Armeecorps ANZAC, den sie vor wenigen Tagen in der Kanzlei bereits einmal in den Händen gehalten hatte. Sie überlegte kurz, ob sie ihn lesen sollte, aber dann entschied sie sich, ihn für später aufzuheben, wenn sie wüsste, was er zu bedeuten hatte.

In diesem Augenblick klingelte Sophies Zimmertelefon. John erkundigte sich, wann er sie abholen solle.

»In einer Stunde?«, schlug sie vor und bat ihn kleinlaut, ein Stückchen Brot mitzubringen, weil sie das Frühstück verpasst habe.

Sophie duschte flüchtig, band ihr Haar zu einem praktischen Pferdeschwanz zusammen und entschied sich für ein schwarz-weiß gepunktetes Sommerkleid mit einem schwingenden Rock und Flip Flops. In Hamburg hatte sie es stets unmöglich gefunden, wenn Frauen mit diesen Badelatschen herumliefen, aber hier erschienen sie ihr nicht unpassend zu sein. Alles roch nach Strand und Meer. Sie verzichtete darauf, sich zu schminken, denn trotz des Sonnenschirms hatte ihr Gesicht durch den Aufenthalt am Strand eine zarte Bräune angenommen.

 

Pünktlich um eins stand John in seinem schwarzen Jeep vor dem Hotel. Er trug eine beige Hose und ein weißes Hemd. Eigentlich sah er nicht so aus, als habe er die Nacht durchgefeiert. Im Gegenteil, er wirkte ausgeruht.

»Wie war es denn noch so auf der Party?«, fragte Sophie scheinbar unbeteiligt.

»Ich bin erst gegen fünf in der Früh zurückgefahren«, erwiderte John und grinste, als er ihren fragenden Blick sah.

»Es ist zwar mein Haus, aber ich glaube, mich hat keiner vermisst. Außerdem hat Judith da übernachtet und sich um die Gäste gekümmert.«

»Du bist nicht zu deiner eigenen Party zurückgefahren?«, fragte Sophie erstaunt.

»Nein, ich kam auf dem Rückweg am Büro vorbei und habe mich spontan entschieden, noch ein paar unerledigte Geschichten anzugehen. Man kann so schön ungestört arbeiten, wenn alle anderen beschäftigt sind. Und du? Hast du die ganze Nacht die Aufzeichnungen deiner Mutter gelesen?«, fragte er interessiert.

Sophie stutzte. Warum will er das wissen? Gehört er nicht auch zu denjenigen, die Zugang zu Emmas Unterlagen hatten? Oh Gott, nicht, dass ich ihn gleich frage, ob er eigentlich Thomas Holden heißt!, bremste Sophie sich. Du siehst überall Gespenster, Sophie!

Als sie durch Ocean Grove fuhren, wurde Sophie nervös. Sie kaute an ihren Fingernägeln. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie John, der nicht einen einzigen Blick auf die Karte warf, sondern durch den Ort fuhr, als wisse er genau, wo das Haus lag. Genauso sicher verließ er die Siedlung wieder, um kurz hinter dem Ortsschild in einen Schotterweg einzubiegen; mit traumwandlerischer Sicherheit fuhr er bis zum Ende und hielt. Vor ihnen breitete sich das Meer aus.

Wieso findet er den Weg so einfach?, fragte sich Sophie skeptisch.

»Da ist es!« John deutete auf ein Holzhaus zu seiner Linken.

Sophie wusste vom ersten Augenblick, dass das Haus sie an etwas erinnerte, aber es fiel ihr nicht ein, woran.

Sie stieg aus und folgte John. Er steuerte direkt auf die Veranda zu, deren Geländer mit Hängepflanzen verziert war. Auf der Veranda, die um das Haus herumführte und zum Meer geöffnet war, standen Korbmöbel.

Da fiel Sophie ein, warum ihr alles so bekannt vorkam: Das Haus war ein Abbild von Annas Haus auf Samoa! Hinter dem Gebäude breitete sich vor ihren Augen ein üppiger Garten aus. Es duftete nach den unterschiedlichsten exotischen Pflanzen. Düfte, die Sophie sofort völlig gefangen nahmen.

Mit zitternden Fingern schloss sie die Haustür auf, über der ein verwittertes Schild prangte. Haus der Pakeha. Sie traten in eine geräumige Diele. Es roch nach Holz und ein wenig stickig, so als sei länger nicht gelüftet worden. Von der Diele ging ein großes Zimmer ab. Offensichtlich das Wohnzimmer, das zwei großzügige Fenster besaß, von denen eines einen Ausblick in den Garten, das andere aufs Meer gewährte. Die Küche war nur durch einen Tresen abgetrennt. Das ist sicherlich ein großer Unterschied zum Original, dachte Sophie, und auch, dass das Haus in der zweiten Etage keinen Balkon besaß. Dort oben befanden sich ein Bad und zwei Schlafzimmer, ein großes und ein kleines. Sophie zog die Tür zum großen hastig hinter sich zu, nachdem sie einen Blick in den Raum geworfen hatte. Das Bett war ungemacht, und auf dem Boden verstreut lagen Emmas Sachen.

Sophie fragte sich immer noch fieberhaft, wieso er den Weg hierher problemlos gefunden hatte, aber sie wollte ihn auf keinen Fall fragen. Das war lächerlich, doch da hörte sie sich bereits spitz bemerken: »Du scheinst dich hier ja blendend auszukennen!«

»Natürlich! Ich habe mir die Karte vorher genau angesehen«, erwiderte er arglos. Dann trafen sich ihre Blicke.

»Sophie? Was ist eigentlich in dich gefahren? Du gibst mir glatt das Gefühl, dass ich etwas verbrochen habe. Habe ich etwas falsch gemacht? Was ist los?«

Sophie lief rot an. Sie spürte, wie ihr heiß wurde, aber sie vermied es ihn anzusehen. »Ich mache mir eben so meine Gedanken. Versetz dich doch mal in meine Lage: Du erfährst plötzlich, dass es ein Familiengeheimnis gibt. Würdest du da nicht alles hinterfragen?«

»Sophie, ich verstehe dich doch«, sagte er und legte beruhigend die Hand auf ihren Arm, während er fortfuhr: »Ich habe erst nach einem Unfall meines älteren Bruders erfahren, dass meine Eltern gar nicht meine leiblichen Eltern sind. Er war auf einem Treck am Mount Cook. Man hätte ihn mit der richtigen Blutgruppe retten können. Ich dachte, als sein Bruder wäre ich der ideale Retter, aber ich hatte eine andere Blutgruppe. Leider. Und da erst haben sie es mir gesagt. Das ist der Horror eines jeden Heranwachsenden. Eines Tages von den Eltern zu hören, dass man nur adoptiert ist. Aber ich fühlte mich glücklicherweise von meinen Eltern, die immer meine Eltern bleiben werden, über alles geliebt. Und es stellte sich dann später heraus, dass wir wirklich verwandt sind. Deshalb war der Schock nur halb so groß!«

Sophie schluckte trocken. In ihrer Fantasie malte sie sich sofort die ungeheuerlichsten Dinge aus. Er war also ein Adoptivkind! Wenn ihn das nicht verdächtig machte. Trotzdem war es schade, dass er seine Hand nun von ihrem Arm zurückzog.

»Und wo sind deine richtigen Eltern?«, fragte sie scheinbar beiläufig.

»Tot!«, erwiderte John lakonisch.

Sophie atmete tief durch. Sollte sie es wagen, ihm trotzdem noch eine Frage zu stellen?

»Ich kenne das nur allzu gut. Das mit den Familiengeheimnissen«, seufzte er nun und ließ den Blick über das Meer schweifen. In seinen Augen lag plötzlich eine tiefe Sehnsucht. Sophie vergaß ihr Misstrauen für einen Moment und spürte, wie ein zärtliches Gefühl von ihr Besitz ergriff. Sanft legte sie ihre Hand auf seine und drückte sie. Er nahm daraufhin ihre Hand und hielt sie ganz fest. Sein Blick war immer noch starr auf das Meer gerichtet. »Wilson hat übrigens eine Liste sämtlicher verfügbarer Thomas Holden Neuseelands gemacht, aber es ist nicht der richtige dabei. Noch nicht!«, erklärte er nun sachlich.

Sophie zog abrupt ihre Hand weg. Die romantische Stimmung war verflogen. »Woher willst du das wissen?«

»Weil ich sie gestern Nacht mit der Liste verglichen habe, die deine Mutter mir überlassen hat. Die hatte sie während ihres Aufenthaltes selber durchtelefoniert, aber ohne Erfolg!«

»Verdammt, warum hast du mir nicht von der Liste erzählt?«, fauchte Sophie vorwurfsvoll.

»Weil ich dir das ersparen wollte. Es reicht doch, dass Wilson und ich fieberhaft nach dem Kerl suchen. Ich wollte dich nicht damit belasten. Deshalb habe ich die Liste nicht erwähnt und auch nicht, dass deine Mutter völlig verzweifelt war, weil sie noch nicht die geringste Spur von ihm hatte.«

»Aber es muss doch irgendwelche Hinweise geben. Der Mann muss doch irgendwo zu finden sein!« Sophie klang aufgebracht.

»Deine Mutter hat sich bedeckt gehalten, um mir keine Hinweise zu geben, wer dieser Mann sein könnte, damit ich es dir nicht verraten kann. Und ich gebe zu, das hat sie gut vorausgesehen. Wenn ich auch nur ahnen würde, wo und wer dieser Kerl ist, würde ich ihn dir auf dem Silbertablett servieren«, erklärte John mit Nachdruck.

»Ob er ein Liebhaber meiner Mutter gewesen sein könnte?«

John runzelte die Stirn. »Keine Ahnung!«

»Hast du denn schon alle Einwohnermeldeämter durchforstet?«

John lachte. »Sophie, die Meldepflicht gibt es noch nicht so lange, und außerdem hat mir deine Mutter noch einen Hinweis gegeben. Sie sagte wortwörtlich: ›Er ist in Dunedin geboren, aber seine Geburt wurde den Behörden nicht gemeldet. Da werden Sie also nicht fündig.‹ Mehr möchte ich dir aber nicht verraten.«

»Was hat sie sich nur dabei gedacht? Dass ich Spaß daran habe, ihre Vergangenheit wie ein Puzzle zusammenzusetzen?« Sophie spürte wieder diese Wut in sich aufsteigen. »Meine Mutter sagte doch, ich solle es nicht aus schnöden Papieren erfahren, wer dieser Mann ist, sondern es fühlen. Und das könne ich nur, wenn ich ihre Geschichte in Ruhe lesen würde. Oder?«

John nickte gedankenverloren. »So etwas in der Art hat sie gesagt. Ja, ich erinnere mich.«

Sophies Augen begannen aufgeregt zu funkeln. »Und weißt du, was das bedeutet?«

»Nein!« John schaute sie fragend an.

»Das heißt, dass Emma ihre Geschichte aufgeschrieben hatte, bevor sie dir die Aufzeichnungen gebracht hat! Und dass in eurer Kanzlei die beschriebenen Seiten gegen leere ausgetauscht wurden. Verstehst du?«

»Ich gebe dir in einem Punkt recht. Ich glaube auch, dass deine Mutter ihre eigene Lebensgeschichte niedergeschrieben hat, aber wäre es nicht möglich, dass sie die woanders hinterlegt hat? Weil sie wusste, dass du versucht sein würdest, das Pferd vom Schwanz aufzuzäumen?«

»Du meinst, sie hat gewusst, dass ich die ganze Zeit wie eine Irre nach diesem Holden fahnde?«

John lächelte: »Ja! Glaubst du, ich merke nicht, dass du sogar mich verdächtigst? Ich habe den Eindruck, deine Mutter hat dich über alles geliebt und wollte dir noch etwas mitgeben für deinen Lebensweg. Sei also nicht allzu hart in deinem Urteil. Ich vermute, sie wollte, dass du es zum rechten Zeitpunkt erfährst.«

»Und was rätst du mir?« Sophie war knallrot angelaufen.

»Ehrlich?«

»Ja, ehrlich.«

John zögerte, aber dann sagte er, während er sie mit ernstem Blick ansah: »Ich würde dir raten, die Anweisung deiner Mutter zu befolgen und alles geduldig zu lesen. Dann wird sich sicher auch das letzte Geheimnis lüften. Glaub mir!«

»Okay, morgen rufe ich meinen Vorgesetzten an und bitte um Sonderurlaub. Um meinen Lebensunterhalt muss ich mir ja keine Sorgen mehr machen.« Dann fragte sie John unvermittelt: »Hat man dir damals verraten, wer deine leiblichen Eltern sind?«

»Oh nein, sie haben mir weismachen wollen, sie wüssten es nicht. Man hätte mich als Baby angenommen. Und ich habe alles versucht, um es herauszufinden. Jeden habe ich verdächtigt, meine Mutter zu sein. Eine Zeitlang habe ich mir sogar eingebildet, dass eine durchgedrehte Mandantin meine Mutter sei. Es war furchtbar. Das bekam mein Vater mit, und er sagte eines Tages, kurz bevor er starb: ›Mach dich nicht verrückt, mein Junge. Du wirst es noch früh genug erfahren. Großes Ehrenwort! Die Lösung liegt näher, als du denkst.‹«

»Und? Hast du es erfahren?«

John holte tief Luft. »Ja, am Abend von Vaters Beerdigung. Da hat meine Mutter es mir gesagt. Er hätte es zu Lebzeiten nicht ertragen, dass ich es erfuhr. Dabei war es ganz einfach und erklärte meine große Verbundenheit mit meinen Eltern und die frappierende Ähnlichkeit zwischen meinem Vater und mir. Ich war der Sohn ihrer drogenabhängigen Tochter. Ich war also ihr Enkelkind, nicht ihr Sohn. Gehörte also irgendwie schon zur Familie.«

Mit diesen Worten sprang der Anwalt von seinem Korbsessel auf, zog auch Sophie von ihrem empor und sagte: »Und jetzt wollen wir mal schauen, was das Leben uns heute zu bieten hat! Die Vergangenheit ist nicht mehr zu ändern, aber dieser Tag ist noch jung.«

Sie wanderten erst am Meer, dann auf dem Klippenweg entlang, jeder in eigene Gedanken versunken, bis unter ihnen ein menschenleerer Strand auftauchte.

»Schau nur!«, rief Sophie entzückt aus, als sie dort eine Pinguinfamilie erblickte. Über einen Wanderweg gelangten sie hinunter ans Wasser, aber von den Pinguinen keine Spur.

»Wer als Erstes im Wasser ist!«, rief John übermütig, während er sich bereits das Hemd aufknöpfte.

»Das ist unfair!«, protestierte Sophie. Dennoch zog sie, ohne zu zögern, ihr dünnes Sommerkleid aus. Juchzend hüpfte sie in die leichten Wellen. Es war ein Schock. Das Meer war erbärmlich kalt, aber sie verzog keine Miene, sondern schwamm neben John her, als wäre sie in einen warmen Pool gesprungen. Zurück am Strand, legten sie sich nass und spärlich bekleidet, wie sie waren, nebeneinander in den Sand.

»Wir dürfen hier nicht verbrutzeln«, warnte John, als Sophie sich gerade wünschte, er würde sich über sie beugen und sie küssen. Er sprang auf und zog sich wieder an. Sophie ließ sich mehr Zeit, vor allem, weil sie in der Ferne eine Pinguinkolonie zu erkennen glaubte.

»Komm, wir gehen etwas essen!«, schlug John nun vor, und da erst spürte Sophie ihren leeren Magen.

 

Im Pub in St Kilda war der Teufel los. Sophie und John setzten sich nach draußen unter eine Markise. Die Besitzerin, eine grauhaarige alte Frau, die schon etwas gebückt ging, schlurfte missmutig an den Tisch, nahm mürrisch die Bestellung entgegen, aber dann blieb ihr Blick an Sophie hängen, und ihr Gesicht hellte sich auf.

Mit krächzender Stimme murmelte sie: »Entschuldigen Sie, dass ich Sie einfach anspreche, aber Sie sind Kate wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie sind doch bestimmt eine McLean, nicht wahr?«

Sophie nickte schwach, und ehe sie sich versah, stammelte die alte Frau gerührt: »Wir haben ja alle von Emma gehört, und es tut uns so leid ...«

»Haben Sie meine Mutter gekannt?«, fragte Sophie heiser.

Ein Leuchten huschte über das Gesicht der Alten. »Aber natürlich, seit sie ein kleines Mädchen war. Ich habe auf sie aufgepasst, wenn sie im Sommer hier war. Ich war so geschockt, als das Unfassbare geschah. Sie muss wirklich sehr krank gewesen sein, um so etwas zu tun ... Ach, wir sprechen besser nicht davon! Lassen wir die Vergangenheit ruhen.«

Sophie wurde kreideweiß. Diese Frau wusste anscheinend etwas über Emma. Kannte sie gar ihr Geheimnis? Sie musste also nur fragen: Dann kennen Sie sicher auch Thomas Holden? Es lag ihr schon auf der Zunge, aber da traf sie ein warnender Blick von John, der ihr abzuraten schien. Sophie kämpfte mit sich. Es wäre so einfach, doch da zupfte John sie am Ärmel und raunte: »Ich habe doch keinen Appetit. Lass uns gehen!«

Hastig verabschiedeten sie sich von der alten Dame.

»Ich bin sehr stolz auf dich!«, bemerkte er und ergänzte: »Und ich glaube, deine Mutter wäre das auch.«

»John!«, bat sie nun, während sie zum Strandhaus zurückfuhren. »Ob du mir meine Sachen aus dem Hotel herbringen würdest? Ich habe das Gefühl, ich muss die Aufzeichnungen meiner Mutter in Pakeha zu Ende lesen.«

»Wird erledigt!«, erwiderte John prompt und hielt vor dem Haus an. Etwas in ihr hätte ihn gern mit ins Haus genommen, aber ein anderer Teil scheute sich vor Komplikationen. Für die Liebe war im Moment kein Platz in ihrem Leben.

John erlöste sie von weiteren Gewissensqualen. »Ich fahre dann mal. Morgen schaue ich mit deinen Sachen vorbei. Genügt das, oder soll ich lieber nachher noch einmal wiederkommen?«

Nachher!, verlangte ihr Körper, aber ihr Verstand wollte das Gegenteil.

»Nein, nein, das genügt. Bis morgen, John! Und danke fürs Bringen«, erwiderte sie schnell. Ihr Herz klopfte bis zum Halse, als sie ausstieg.

Sie wollte gerade die Beifahrertür hinter sich zuschlagen, als John rief: »Oh, bevor ich es vergesse. Ich habe gestern Nacht im Archiv gestöbert und den Fall Philipp McLean tatsächlich gefunden.«

Sophie ging zur Fahrertür hinüber. »Und, warum hat er so wenig bekommen?«

John runzelte die Stirn. »Ein fragwürdiges Urteil, in der Tat. Man hat dem Angeklagten Glauben geschenkt. Er hat behauptet, er habe den Lampenfuß in dem Augenblick zufällig in der Hand gehalten. Er habe niemals zuschlagen wollen, aber seine Frau habe ihn provoziert. Angeblich ist sie unflätig geworden, weil sie unter dem Einfluss eines obskuren Frauenkreises stand, der sie gegen ihren Mann aufgehetzt hat und in der widernatürliche Beziehungen gepflegt wurden ...«

»Blödsinn!«, entfuhr es Sophie empört. »Anna und die anderen konnten doch nichts für Melanies Tod! Und sie hatten nichts miteinander. Das war Mord! Begangen von ihrem eigenen Mann!«

John sah sie erstaunt an. »Du scheinst den Fall ja bestens zu kennen.«

»Anna ist eine meiner Vorfahrinnen, und Melanie war ihre beste Freundin, die von ihrem Ehemann misshandelt worden war. Der muss einen Verbrecher zum Anwalt gehabt haben, der Mistkerl.«

John räusperte sich verlegen. »Ich muss zu meiner Schande gestehen, der Verbrecher war ein Cousin meines Urururgroßvaters mütterlicherseits. Soll ein übler Bursche gewesen sein, dieser Albert McDowell, erzählt man sich. Der hat ja sogar geschafft, dem Gericht weiszumachen, dass es quasi ein Unfall gewesen ist. Und er ihr den Schädel versehentlich mit dem Lampenfuß gespalten hat ...« John unterbrach sich.

Sophie sah ihn an, als sähe sie Gespenster. »Sag das bitte noch mal! Albert McDowell?« Alles drehte sich vor ihren Augen.

»Sophie, was ist los?« John sprang aus dem Wagen und fing sie im letzten Augenblick auf. »Verdammt, du hast ja immer noch nichts gegessen!«

Mit diesen Worten angelte er mit der freien Hand aus dem Inneren des Wagens einen Kanten Weißbrot und forderte Sophie, die schon wieder auf ihren eigenen Beinen stehen konnte, streng auf hineinzubeißen.

Sophie tat, was er von ihr verlangte, und zermarterte sich das Hirn mit der Frage, ob sie ihm offenbaren sollte, warum ihr schwindlig geworden war. Albert McDowell, Johns verbitterter Bruder! Und wenn John Franklin mit Albert verwandt war, dann war er es ja auch mit Annas John!

»Sagt dir denn auch der Name John McDowell etwas?«, fragte sie vorsichtig.

John überlegte. »Da fragst du mich zu viel. Ich vergesse so etwas immer wieder. Ich weiß nur, dass die McDowells alle Anwälte waren. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich heute Morgen erst meine Mutter am Telefon fragen musste, ob dieser Albert wohl zu unserer Sippe gehörte. Ich kenne mich da gar nicht aus. Meine Ma - also ich nenne sie immer noch so - wusste sofort, wer er war. Sie konnte mir auch gleich sagen, dass er nicht zu den beliebteren McDowells gehörte. Im Gegenteil, er war wohl ein verschrobener Junggeselle. Sie hat zu Hause eine Ahnentafel und weiß zu jedem etwas zu sagen. Vielleicht hast du ja mal Lust, meine Ma kennenzulernen. Sie freut sich immer über Besuch, zumal ein Zweig ihrer väterlichen Linie deutschstämmig ist und sie sogar Deutsch spricht. Vielleicht fragst du meine Mutter nach meinem Namensvetter.«

Plötzlich war es Sophie zu viel. Der charmante Anwalt mitsamt seiner Verwandtschaftsverhältnisse und Fürsorge. »Ich werde darauf zurückkommen«, entgegnete sie förmlich. »Wir sehen uns morgen!« Mit diesen Worten reichte sie ihm ihre Hand, die er kräftig schüttelte.

»Ach, bevor ich es vergesse, mein windiger Vorfahre hatte allerdings auch leichtes Spiel, weil es einen Zeugen gab. Den zwanzigjährigen Sohn der Ermordeten. Paul McLean. Der hat die Tat angeblich beobachtet und behauptete, gesehen zu haben, wie sein Vater auf seine Mutter zu getreten sei, nachdem sie ihn angeblich schwer beleidigt hat. Sie soll ihn einen ›jämmerlichen Schlappschwanz‹ genannt haben. Und dann erst sei sein Vater auf sie zu und mit dem Lampenfuß in der Hand gestolpert. Unter uns, damit könnte ein Zeuge heute keinen Blumentopf mehr gewinnen. Das hat sogar der Richter damals im Urteil bemerkt. Die Aussagen des Sohnes seien zweifelhaft, aber das Gegenteil nicht zu beweisen. Wenn du mich fragst, hat der Vater ihn zu der Aussage gezwungen.«

»Davon bin ich überzeugt!«

»Ja, dann fahre ich mal!«, entgegnete John. Ihm war deutlich anzumerken, dass er viel lieber geblieben wäre.

»Auf Wiedersehen«, sagte Sophie knapp.

Sie sah den steinigen Weg entlang, nachdem sein Jeep schon lange verschwunden war, bevor sie gedankenverloren das Haus betrat. In der Diele blieb sie abrupt stehen. Eine Zeichnung fesselte ihre Aufmerksamkeit. Die Zeichnung eines hochgewachsenen Mannes mit krausem Haar, einer Nase, wie sie typisch für Polynesier war, und mit tätowierten Beinen, die unter einem Hüfttuch hervorlugten.

Manono!

Sophie verspürte beim Anblick des Bildes eine tiefe Sehnsucht danach, weiter zu lesen. Zunächst jedoch musste sie sich der Gegenwart stellen. Sie konnte unmöglich hier leben, umgeben von Emmas persönlichen Dingen, so als würde ihre Mutter jeden Augenblick zur Tür hereinkommen. Sophie begann im Bad. Sie sammelte das Duschgel, das Shampoo, benutzte Handtücher sowie den Kulturbeutel und die Zahnbürste ihrer Mutter zusammen und ließ alles in einer Plastiktüte verschwinden. Sie wollte sich in dem Zimmer einrichten, in dem Emma geschlafen hatte. Es war der schönere von beiden Schlafräumen. Es kostete sie sehr viel Überwindung, die am Boden liegende Kleidung, die Sachen aus dem Schrank und sogar das Foto auf dem Nachttisch, das sie, Sophie, mit achtzehn zeigte, zusammenzuraffen und alles nebenan im Kleiderschrank zu verstauen. Den Mut, alles wegzuwerfen oder nach Hinweisen zu durchsuchen, hatte Sophie nicht.

Schließlich riss sie das Fenster auf, ließ die frische Meeresluft hinein und putzte das Zimmer. Erst jetzt fiel Sophie auf, dass auch die Wände des Schlafzimmers mit gerahmten Zeichnungen geschmückt waren. Sophie hielt mit dem Saubermachen inne und betrachtete eine nach der anderen. Besonders eine Zeichnung, die offenbar Anna in einem Schaukelstuhl zeigte, faszinierte sie. Sie musste an den Spruch von Kates Freundin an deren zwölftem Geburtstag denken: »Sie sieht aus wie eine alte Krähe!« Da war etwas dran. Sie wirkte verhärmt und von Schicksalsschlägen gezeichnet.

Arme Anna!, dachte Sophie und konnte die Fortsetzung nicht mehr erwarten. Sie ließ den Besen einfach fallen und durchsuchte die Küchenschränke nach etwas Essbarem. Sie fand eine Tüte Chips. Mit ihrer Beute in der einen, dem Manuskript in der anderen Hand setzte sie sich auf die Veranda. Gierig riss sie die Tüte auf und griff hinein, bevor sie da weiterlas, wo sie am Morgen schweren Herzens aufgehört hatte.