Ocean Grove, 20. Januar 2008

 

Ein polterndes Geräusch auf der Treppe ließ Sophie hochfahren. Ihr erster Gedanke galt Judith. Ob sie hingefallen war? Schon möglich, so fertig, wie sie vorhin gewesen ist, dachte Sophie besorgt. Sie lauschte angestrengt, aber es blieb alles still. Ich habe mich wohl verhört, redete sie sich gut zu und atmete tief durch, um ihr klopfendes Herz zu beruhigen. Wahrscheinlich hat mich das Lesen so aufgeregt, dass ich schon Dinge höre, die es gar nicht gibt. Sie ließ sich auf das Kissen zurückfallen und legte Emmas Geschichte aus der Hand. Sophie spürte die Gefahr, in der sich ihre Mutter befand, beinahe körperlich. Warum merkt sie denn nicht, dass dieser Holden etwas im Schilde führt? So verhielt sich doch kein liebender Mann! Aber war sie, Sophie, nicht selbst ein Leben lang vor der Liebe davongelaufen? Hatte das Kühle und Abweisende nicht auch sie selbst stets magisch angezogen? Irgendwie konnte sie Emma verstehen, und ihr wurde schlecht bei dem Gedanken, dass sie selbst unter Umständen ebenfalls auf einen solchen Mann hätte hereinfallen können. Wie war es denn mit Jan? Ist er mir nicht all die Jahre stets ein wenig fremd geblieben? War Jans Antrag nicht auch eine völlig unromantische Angelegenheit? Er hatte an seiner Steuererklärung gesessen, aufgeblickt und unvermittelt gesagt: »Sophie, eigentlich sollten wir heiraten!« Wenn sie sich recht erinnerte, war er danach mit seiner Steuerklärung fortgefahren.

Ihre Gedanken wanderten wieder zu Judith. Sie hatten sich vorhin weinend in den Armen gelegen. Sophie, weil sie kaum ertragen konnte, dass ihre Mutter sie zeitlebens belogen hatte, und Judith, weil sie noch weniger verstand, warum Tom seine Schwester verfolgte, statt ihr offen zu begegnen.

Plötzlich glaubte Sophie, Feuer zu riechen. Sie schob es erst auf ihre überreizten Nerven, doch dann sprang sie wie ein geölter Blitz aus dem Bett. Das war keine Einbildung! Es brannte ganz in der Nähe. Außer sich vor Angst, lief sie hinaus auf den Flur. Aus Judith' Zimmer drangen Rauchwolken. Todesmutig riss Sophie die Tür auf. Flammen züngelten neben dem Bett! Mit einem Satz war Sophie bei Judith und rüttelte sie, aber die blieb liegen und hielt sich stöhnend den Kopf. Beherzt zog Sophie ihr die Bettdecke weg und schleuderte sie auf die Flammen, um das Feuer zu ersticken. Dann packte sie die Freundin, die sich langsam hochrappelte und sie verwirrt ansah, unter den Achseln und schleifte sie aus dem Zimmer.

»Was ist passiert?«, fragte Judith, aber Sophie antwortete nicht. Sie schleppte die Freundin sicher die Treppe hinunter bis ins Wohnzimmer, wo sie sie aufs Sofa bettete.

»Was ist los?«, stöhnte Judith wieder.

»Du rührst dich nicht vom Fleck!« Sophie wählte die Notfallnummer und rief einen Krankenwagen. Dann zog sie eine Decke vom Sofa und raste nach oben. Die Bettdecke war verkohlt. Sophie riss die Fenster auf, denn der Rauch brannte im Rachen. Sie atmete tief durch und hustete sich die Seele aus dem Leib. Auf dem Boden lagen verbrannte Papierreste.

In diesem Moment begriff Sophie das ganze Ausmaß der Geschichte. Es war Brandstiftung! Das Poltern auf der Treppe war keine Einbildung gewesen. Jemand war ins Haus eingedrungen und hatte neben Judith' Bett Papier in Brand gesetzt! Wer würde so etwas tun? Nach einem letzten Blick auf den Brandherd lief Sophie zurück zu ihrer Freundin. Die lag ermattet da und befühlte gerade ihren Hinterkopf.

»Sag mal, kannst du mal nachschauen, ob ich hier eine Beule habe? Es tut höllisch weh. Ich habe nicht schlafen können, und da hörte ich jemanden in mein Zimmer kommen. Ich dachte, du bist es, aber ehe ich mich umdrehen konnte, da ...«, Judith deutete auf ihren Hinterkopf.

Sophie erstarrte. Auf Judith' Kopf klaffte eine Platzwunde. »Jemand hat dir einen Schlag versetzt!«, rief sie erschüttert. »Ich muss die Polizei benachrichtigen!« In diesem Augenblick ertönte draußen eine Sirene. »Der Krankenwagen, endlich!«

»Ich will nicht ins Krankenhaus, auf keinen Fall!«

Sophie überhörte den Protest, lief dem Notarzt entgegen und führte ihn zu der Freundin.

Der junge Arzt untersuchte sie ruhig. »Ich werde Sie zur Beobachtung mitnehmen. Außerdem muss die Platzwunde genäht werden«, sagte er.

Sophie stützte Judith auf dem Weg zur Tür und half ihr in den Krankenwagen. Als die Wagentüren hinter Judith zuschlugen, sah Sophie einen jungen Mann, der in einen schwarzen Jeep sprang und davonraste. Sie spürte, wie ihr die Beine den Dienst versagten, aber der Notarzt konnte sie gerade noch rechtzeitig auffangen. »Vielleicht sollten Sie auch mitkommen. Sie sind ja leichenblass«, bemerkte er besorgt, doch Sophie erwiderte hastig: »Nein, ich habe nur zu niedrigen Blutdruck. Es geht schon wieder!«

Er bedachte sie mit einem forschenden Blick und ließ sie los, um sich auf den Beifahrersitz zu setzen.

Sophie klammerte sich an dem Verandapfosten fest. Regungslos stand sie da. Ihr war schummrig vor Augen, aber solange sie sich festhielt, würde sie nicht umkippen. Sie atmete ein paarmal tief durch und kehrte mit zitternden Knien ins Haus zurück.

Um ein Haar wären wir einem feigen Mordanschlag zum Opfer gefallen!, ging ihr durch den Kopf. Ihr wurde übel. Und wenn das dieser Tom gewesen ist? Ich habe schließlich seinen Wagen gesehen. Aber warum sollte er Judith etwas antun wollen? Wenn er etwas im Schilde führt, dann doch eher gegen mich. Sophie schnappte nach Luft. Ob er uns verwechselt hat? Fragen über Fragen wirbelten durch ihren Kopf.

In diesem Augenblick klingelte ein Handy. Sophie zuckte zusammen, doch dann sah sie Judiths Handy auf dem Tresen liegen. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es bereits kurz vor Mitternacht war. Wer sollte jetzt noch bei Judith anrufen? Mit einem Satz war sie bei dem Telefon, doch es war zu spät. Der Anrufer hatte aufgegeben. Doch in diesem Augenblick erschien im Display die Nachricht, dass jemand angerufen und auf die Mailbox gesprochen hatte. Jemand mit einer unterdrückten Nummer.

Sophie wählte, ohne zu zögern, die Mailbox an und lauschte angespannt den gehetzt klingenden Worten eines Mannes: »Judith, Liebling, ich wollte nur wissen, ob dir auch nichts passiert ist. Ich mache mir solche Sorgen um dich. Ich konnte es nicht mehr verhindern. Bitte glaube mir! Ich melde mich morgen früh noch einmal.«

Bei aller Besorgnis hat seine Stimme einen angenehmen Klang, dachte Sophie, und doch fühlte sie sich in ihrem Verdacht bestätigt. Tom hatte die falsche Person erwischt, aber wie hatte er sie mit Judith verwechseln können? Sophie versuchte sich noch einmal vor Augen zu führen, wie sie Judith vorgefunden hatte. Tief in ihre Decke eingekuschelt ... Er hat vermutlich geglaubt, dass ich da im Bett liege.

Genug der Spekulationen!, entschied sie. Ich muss die Polizei informieren. Oder doch erst noch abwarten? Sie hatte noch keinen Entschluss gefasst, als sie bereits nach ihrem Handy griff und Johns Nummer wählen wollte, aber dann ließ sie es bleiben. Erst musste sie das Ende der Geschichte erfahren. Denn nur in dieser Geschichte würde sie erfahren, warum dieser Tom ihr etwas antun wollte. Denn dass er es auf sie abgesehen hatte, daran hegte Sophie keinen Zweifel mehr. Der Gedanke ließ sie erschaudern. Das Motiv würde sich ihr allein durch Emmas Aufzeichnungen erschließen. Sie musste sie zu Ende lesen. Noch heute Nacht!

Gleich morgen früh rufe ich John und die Polizei an, nahm sich Sophie fest vor. Einen kurzen Augenblick lang befürchtete sie, der Brandstifter würde zurückkehren, jetzt, wo er sie allein im Haus wusste, aber sie schob den Gedanken fort. Sie würde sich mit Lesen wach halten. Dann konnte er sie wenigstens nicht im Schlaf überraschen. Sophie stand noch einmal auf und schob die Kommode vor die Tür. Mit dem Handy neben dem Bett und der Barriere vor ihrer Tür fühlte sie sich sicher.

Mit zitternden Händen griff sie nach dem Manuskript. Warum nur?, fragte sich Sophie, was für ein Motiv kann der Mann haben? Was hat er davon, wenn ich tot bin? Plötzlich glaubte sie zu wissen, warum er ihr nach dem Leben trachtete. Wenn sie starb, hatte sie nur einen Verwandten, der alles erben würde: ihren Bruder, Tom McLean! Ihre Hände zitterten so, dass sie nicht weiterlesen konnte. Die Angst vor dem, was sie erwartete, trieb ihr Kälteschauer durch den Körper, und sie kroch ganz tief unter die Decke.