35 - BLUT

Wir fuhren, so schnell es ging, aus der Stadt hinaus. Sobald Michaels Verschwinden bekannt werden würde, mussten wir mit Straßensperren rechnen. Doch wir kamen problemlos bis zu einer der großen Ausfallstraßen in nördlicher Richtung. Es herrschte wenig Verkehr. Die Straße war nur spärlich beleuchtet. Michael lag auf dem Rücksitz wie ein Toter. Er bewegte sich nicht. Immer wieder beugte ich mich nach hinten und berührte ihn sanft mit einer Hand. Ich spürte sein noch unruhig flackerndes Leben, wusste aber nicht, ob er den Weg bis zu dem geheimnisvollen Felsen überleben würde. Linda schlief tief und fest.

Noch fast hundert Kilometer.

Die Fahrt durch die Dunkelheit war bedrückend monoton. Ich hatte Angst. Ich zweifelte. Es war Zeit für mich, Bilanz zu ziehen.

Ich hatte geglaubt, dass ich mit Leib und Seele ein Wesen der Nacht geworden war, nicht ohne Moral, aber letztendlich weit von dem entfernt, was ich früher gefühlt oder gedacht hatte. Aber das war Unsinn. Ich war anders geworden. Brutaler, geschickter, härter. Aber der Mensch in mir, das Wesen, das lieben und geliebt werden wollte, hatte doch gesiegt. Ich war bereit, alles für Michael zu opfern. Auch an Pia und ihren Verrat musste ich denken. Sie hatte mich tief enttäuscht, und doch konnte ich sie nicht hassen. Ich hätte ahnen müssen, für welche Seite sie sich entscheiden würde.

Nach zwei Stunden endlich kamen wir in die Nähe unseres Ziels. Der Felsen des Vlad lag inmitten eines ausgedehnten Waldgebietes. Wir folgten einem Schild und fuhren schließlich auf einer holprigen, nicht asphaltierten Straße mitten in die Wildnis hinein. Aus Gregors Erzählungen wusste ich, dass die bizarre Felsformation eine beliebte Sehenswürdigkeit war, die bei gutem Wetter gern als Ziel ausgedehnter Waldspaziergänge diente. Er hatte aber auch berichtet, dass sich zahlreiche Gerüchte um den Felsen rankten. Es hieß, er sei ein uralter heidnischer Begräbnisplatz und dass nächtliche Spaziergänger dort schon seltsame Dinge gesehen hätten. Was allerdings stets als Spinnerei und Wichtigtuerei einzelner abgetan wurde. Ein idealer Platz für meine Spezies! Der Fels überdauerte als Naturdenkmal unverändert Jahrhunderte, war leicht zu erreichen und dennoch zu den meisten Zeiten einsam und verschwiegen. Und selbst wenn jemand Zeuge merkwürdiger Vorkommnisse werden sollte, bestand wenig Gefahr. Unheimliche, mythische Orte regten eben die Phantasie an.

Wir fuhren etwa zwanzig Minuten durch die Dunkelheit. Dann lichtete sich der Wald, und schließlich sahen wir ihn vor uns: den Felsen des Vlad. Die zwei steil aufragenden Steinmassen wirkten tatsächlich wie ein von Riesenhand in den Boden gerammtes V. Sie erhoben sich auf einem Hügel, der zuerst sanft anstieg und dann immer steiler wurde. Im Mondlicht erkannte ich Zäune, die den Weg zur Hügelspitze versperrten. Ich erinnerte mich, dass Gregor irgend etwas von seltenen Pflanzen und Tieren gesagt hatte. Und tatsächlich. Der untere Bereich der beiden Felsen war zum Teil dicht bewachsen. Ich sah verschiedene Sträucher, Bäume, Vogelnester und Erdlöcher.

Eine merkwürdige Stille lag in der Luft.

Wir starrten aus dem Autofenster. Wie es schien, waren wir noch rechtzeitig gekommen. Von Var, Dinah und den anderen war weit und breit nichts zu sehen.

Schließlich stiegen Gregor und ich aus dem Auto. Es war kalt.

Hier war er also, der Platz, an dem wir neues untotes Leben erschaffen wollten. Aber warum spürte ich nichts? Auch Gregor blickte etwas verwirrt umher.

Mein Blick wanderte von der Spitze der beiden Felsen hinunter zu dem Punkt, wo beide am Erdboden zusammentrafen. Und dann begann es. Ich glaubte, plötzlich ein undeutliches Schimmern zu sehen. Und tatsächlich: da war es. Ein pulsierendes Licht, anfangs so schwach, dass ich es kaum erkennen konnte, und dann immer deutlicher wahrnehmbar vor dem Hintergrund der schwarzen Steinmassen.

Wir gingen auf den Hügel zu und stiegen langsam hinauf. Das Leuchten schien uns zu rufen. Kein akustisches Signal, eher so etwas wie eine Schwingung, die mich bis ins Innerste traf. Schließlich standen wir vor dem Zaun, der den Zugang zum eigentlichen Berg versperrte. Ein Verbotsschild erklärte die Notwendigkeit, diesen Bereich im Interesse des Naturschutzes unangetastet zu lassen. Die beiden Steinsäulen waren noch etwa fünfzig Meter entfernt. Jetzt erkannte ich, dass das Leuchten aus drei verschiedenen Quellen zu stammen schien. Es kam aus dem Innern jedes Felsens, etwa einen Meter über dem Boden, und außerdem direkt aus der Erde, am Schnittpunkt beider Steinsäulen. Zusammen bildeten die übernatürlichen Strahlenquellen eine Art Lichthof.

»Dorthin«, flüsterte Gregor. »Dorthin müssen wir Michael schaffen.«

Ich rannte zurück zum Auto, zog Michael heraus und trug ihn auf meinen Armen den Hügel hinauf. Gregor wartete am Zaun und riss mit bloßen Händen eine Lücke in den Stacheldraht, um Platz für Michael und mich zu schaffen.

Noch lebte Michael. Mich schauderte bei dem Gedanken, dass ich von diesem menschlichen Wrack trinken sollte. Wie um alles in der Welt sollte nur aus ihm, einem Sterbenden, ein Vampir werden?

Wir gingen den Hügel hinauf. Gregor wollte mir helfen, Michael zu tragen. Aber ich lehnte ab. Ich wollte ihn ganz allein spüren. Vielleicht das letzte Mal in meinem Leben.

Jetzt wurde das Leuchten stärker. Es war ein sonderbares blaues Licht. Schöner als alles, was ich bisher in meinem Leben gesehen hatte. Klar, rein und voller Kraft.

Ich schöpfte Hoffnung. Hier würde Michael neu geboren werden.

Doch dann geriet die Luft um uns herum in Bewegung.

Sie kamen hinter den Felsen hervor. Lautlos und schnell: Var, Dinah und die anderen. Ehe wir auch nur reagieren konnten, waren wir eingekreist. Sie hatten uns aufgelauert. Ich sah das grausame Lächeln in Dinahs Gesicht. Es war bestimmt ihre Idee gewesen, uns so kurz vor dem Ziel abzufangen.

Niemand bewegte sich. Die »Dunklen Schwestern« standen um uns herum. Dicht an dicht. In Gregors Gesicht war keine Regung zu erkennen. Er wirkte seltsam gefasst.

Dann sprach Dinah: »Wie gut, dass deine kleine Freundin Pia sich doch noch erinnert hat, wo ihr Platz ist, Ludmilla. Es wäre sonst eine lange Jagd geworden. So haben wir jetzt alle zusammen hier an dem Ort, an dem du geboren wurdest. Und es wird der Ort sein, an dem du auch wieder sterben wirst. Aber diesmal gibt es kein Erbarmen. Es sei denn in der Hölle.«

Ich legte Michael vorsichtig auf den Boden. Dinah belauerte jede meiner Bewegungen wie eine Raubkatze. Mein Mund war trocken. Ich hatte Angst. Dann hörte ich Vars heisere Stimme. Sie sah Gregor an. »So gibt es dich also wirklich noch«, sagte sie mit ihrer heiseren Stimme. »Ich habe geglaubt, du seist längst tot. Eine uralte Legende.«

Gregors Körper straffte sich.

»Ja, Var. Es gibt mich. Ich habe lange durchgehalten. Jetzt kommt, was kommen musste. Ich will nicht mehr allein sein. Dann lieber sterben. Ich habe nicht darum gebeten, erschaffen zu werden. Es war jemand wie du. Gunda, eine Oberin, die mich mit anderen Vampiren zu der Zeit zeugte, als sich die Schwestern in diesem Gebiet der Welt aufteilten. Ich war Gundas menschlicher Bruder. Sie sah mich altern. Sie wollte mich nicht sterben lassen. Also verstieß sie gegen das Gesetz und verdammte mich zu einem Leben in ewiger Einsamkeit. Sie zeugte mich, schrieb mir auf, was ich nach ihrer Meinung wissen musste, und brachte mich weit fort von ihr. Als Gunda verraten wurde, war die Jagd eröffnet. Aber ich lernte schnell, als Ausgestoßener zu leben. Ich habe keine Angst vor dem Ende. Ich werde auch nicht kämpfen. Tut, was ihr glaubt, tun zu müssen.«

Var schwieg. Sie drehte den Kopf und sah mich an. Plötzlich spürte ich Unruhe hinter uns. Zwei junge Vampirinnen hatten Linda aus dem Auto geholt und in den Kreis gelegt. Sie war noch immer nicht ganz Herr ihrer Sinne und konnte sich kaum auf den Beinen halten, als die beiden Schwestern sie schließlich losließen.

Dinah trat vor, und ehe ich auch nur reagieren konnte, war sie schon bei Linda, ließ ihre Hand nach vorn schnellen und brach ihr mit einem gewaltigen Hieb das Genick. Linda war tot, bevor ihr Körper den Boden berührte.

In meinem Kopf schien etwas zu explodieren. Hass, reiner, purer Hass packte mich mit unglaublicher Gewalt, und ich stürzte mich schreiend auf Dinah. Die Schwestern stoben entsetzt auseinander, als wir beide zu Boden gingen. Ich schlug auf Dinah ein. Kreischend und irrsinnig vor Wut über den Mord an Linda. Ich wollte sie zerstören, zerfetzen, aus der Welt tilgen. Wir prügelten wie wahnsinnig aufeinander ein. Knochen brachen. Haut platzte. Kein Mensch hätte auch nur einen dieser Schläge überlebt.

Schließlich stieß mich Dinah mit gewaltiger Kraftanstrengung von sich und verschaffte sich so für einen kurzen Augenblick Luft. Ihr Gesicht war vor Entsetzen verzerrt. Sie blutete aus zahlreichen Wunden, die ich ihr mit meinen Fingernägeln gerissen hatte. Eines ihrer Ohren hing nur noch an ein paar Hautfetzen. Ich wollte mich wieder auf sie stürzen, aber plötzlich geschah etwas sehr Sonderbares.

Dinah drehte sich mit wutverzerrtem Gesicht zu Var um und schrie: »Wie kann das sein? Niemand in ihrem Alter kann so stark sein. Ich hätte sie wie eine Fliege zerquetschen müssen. Was hast du getan, Var?«

Die Oberin straffte sich.

»Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig, Dinah. Noch habe ich das Sagen. Schweig jetzt.«

»Du hast ihr dein Blut gegeben!« schrie Dinah. »In deinem Gemach. Ich habe es geahnt. Mein Vorrecht. Mein Privileg. Du hast nicht mehr verdient zu herrschen, Var. Du bist alt. Und du bist schwach geworden, weil sie deiner dummen, kleinen Menschentochter ähnlich sieht. Ich werde…«

Weiter kam Dinah nicht. Ihre Stimme brach.

Var schien sich kaum bewegt zu haben. Ihr Gesicht war wutverzerrt. Sie stand auf einmal dicht vor Dinah. Ihr rechter Arm war bis zum Ellbogen in Dinahs Körper eingedrungen.

»Niemand«, zischte sie. »Niemand spricht so mit mir. Auch du nicht, Dinah.«

Mit einem gewaltigen Ruck zog Var ihren Arm wieder hervor. In ihrer Hand hielt sie Dinahs Herz. Einen blutigen Klumpen Fleisch. Die anderen Schwestern schrien entsetzt auf. Dinah brach, ohne einen Laut von sich zu geben, zusammen. Ihr Körper zuckte noch einmal und fiel dann in Sekunden zu einer formlosen Masse zusammen. Nach ein paar Augenblicken war nichts mehr von ihr zu erkennen. Die Vampirin hatte sich buchstäblich aufgelöst.

Var stand lange Zeit einfach nur da und starrte zu Boden. Dann hob sie den Kopf, sah uns alle an und ließ ihren Blick schließlich auf mir ruhen: »Nun, Ludmilla, was soll jetzt geschehen? Alles bricht zusammen. Was Jahrhunderte galt, gilt nicht mehr. Dort steht ein männlicher Vampir. Du wolltest einen weiteren erschaffen. Dinah war im Begriff, die Hand gegen mich zu erheben. Was geschieht mit uns?«

Blutige Tränen schossen aus ihren Augen. Die anderen Schwestern blickten sie angsterfüllt an. Sie spürten, dass etwas Ungeheures geschah. Var hatte ihre Nachfolgerin getötet und schien plötzlich nur noch ein Schatten ihrer selbst zu sein.

»Var. Ich flehe dich an. Beende das Töten«, sagte ich. »Auch Gesetze können sich ändern. Lass es zu, dass Gregor existiert. Lass es zu, dass wir Michael zu einem der unseren machen. Wir können weiter existieren. Das Geheimnis wird gewahrt bleiben.«

Var schüttelte den Kopf.

»Ich kann die Gesetze nicht brechen. Nicht nach all den Jahren. Ich habe meine Nachfolgerin getötet. Ich kann nicht mehr über diesen Orden herrschen und will es auch nicht. Solveigh hat die Macht nie gewollt. Dinah war schlecht, aber stark. Auch du bist stark, mein Kind. Das Gesetz will, dass die Stärkste unter uns herrscht. Du, Ludmilla, bist die Stärkste, wenn ich gehe. Und ich werde gehen und den Tod suchen. Noch heute Nacht. Und dann sollst du meine Last, meine Bürde tragen. Du, Ludmilla, meine Tochter. Solveigh wird dir helfen zu verstehen.«

Dann drehte sie sich um und stieg langsam den Hügel hinab. Wir alle blickten ihr gebannt hinterher und sahen, wie ihre hochgewachsene Gestalt langsam in der Dunkelheit verschwand.

Niemand von uns hat sie jemals wiedergesehen.

Die »Dunklen Schwestern« sahen Gregor und mich schweigend an. Ohne eine Führung, ohne Vars und Dinahs Autorität schienen sie auf einmal vollkommen hilflos.

Ich warf einen letzten, verzweifelten Blick auf Lindas Leiche und hob Michael auf. »Jetzt«, dachte ich nur. »Tu es jetzt!«

Dann trat ich mit ihm in den Lichthof zwischen den Felsen. Gregor folgte mir.

Die Energie traf mich wie ein Schlag. Alles in mir vibrierte. Ich ging in die Knie und ließ Michael vor mir in den Staub fallen. Auch Gregor brach zusammen. Bewegungslos kauerte ich inmitten eines Feldes von ungeheurer Kraft und war ein paar Sekunden unfähig, mich zu bewegen. Dann endlich spürte ich, wie ich die Kontrolle über meinen Körper zurückgewann. Ich sah, wie Gregor sich langsam erhob und auf Michael deutete. Dann geschah alles, ohne dass ich willentlich handelte. Ich zog Michael zu mir heran, grub meine Zähne in seinen Hals und trank. Er starb – geschwächt wie er war – schnell und ohne einen Laut. Als ich seinen Tod spürte, war ich sofort wieder bei Sinnen und ließ seinen Körper entsetzt zu Boden fallen. Ich schrie. Laut, verzweifelt. Sein Blut rann mir am Kinn herunter und besudelte meine Kleider.

Was hatte ich nur getan? Ihn aus den Händen seiner Ärzte zu reißen, um ihn hier in der Wildnis zu schlachten wie ein Lamm. Aber Gregor hob beschwichtigend die Hände. Fassungslos sah ich mit an, wie nun auch er das Blut meines toten Geliebten trank. Ich wollte mich schon auf ihn stürzen. Aber dann registrierte ich das Unglaubliche: Michael bewegte sich. Das blaue Licht umfing ihn wie ein Kraftfeld. Es pulsierte, dehnte sich aus und zog sich wieder zusammen. Und Michael öffnete seinen Mund. Wie ein Verdurstender. Flehentlich, verzweifelt. Seine Augen waren geschlossen, aber seine Hände tasteten suchend auf dem Boden.

Und ich hörte Gregors Worte wieder in meinem Gedächtnis:

Lasst wachsen aus dunklen Tiefen

Mit Eurem Blut die alte Macht

Zu neuem Leben.

Nähret das Neue von Euch und gebäret!

Ich kniete mich vor Michael hin, öffnete meine Jacke, riß die oberen Knöpfe meiner Bluse auf und ritzte mir mit einem Fingernagel die Haut unter meinem Brustbein auf. Blut quoll hervor. Und diesmal schloss sich die Wunde nicht. Michael wimmerte. Ich nahm seinen Kopf in meine Hände und zog ihn sanft an meine Brust. Und dann trank er. Wie ein Kind. Gierig und mit jedem Schluck zufriedener. Ich empfand ein ungeheures Glücksgefühl.

Aber plötzlich spürte ich, welchen Preis ich dafür zu zahlen hatte. Mir wurde schwarz vor Augen. Eine bleierne Schwere befiel mich. Meine Kräfte schwanden. Doch Michael trank weiter. Ich erkannte, dass er im Begriff war, mich zu töten. Aber ich reagierte nicht. Meine Empfindungen waren widersprüchlich. Endlich Ruhe finden, sterben als Nahrung meiner großen Liebe? Mit ihm, was immer die Zukunft auch bringen mochte?

Dann trat Gregor heran und löste Michael mit sanfter Gewalt von mir. Ich fiel zu Boden, unfähig, mich zu bewegen, aber noch bei Bewusstsein. Ich sah, wie Gregor sich eine Wunde in den Arm ritzte und Michael das Blut, das aus seiner Wunde schoss, trinken ließ. Er schluckte es in gierigen Zügen, bis Gregor ihn zurückstieß. Der Kreis hatte sich geschlossen. Das Licht um uns herum erlosch. Michael fiel zu Boden. Mit glasigen Augen, den Mund voller Blut. Plötzlich aber klärte sich sein Blick. Er sah mich an. Ich hob eine Hand.

»Michael.«

Meine Stimme war nur noch ein Krächzen.

Aber in seinem Blick lag keine Liebe. Nur Zorn und tiefe Trauer.

»Du!« Seine Stimme war schneidend. »Du hast diese ganzen Menschen umgebracht! Und jetzt… machst du mich zum Mörder. Zum Mörder!«

Ich wollte ihm etwas entgegnen, aber ich war zu schwach. Kein Laut kam über meine Lippen. Mein Herz wurde unendlich schwer. Ich sah ihn an. Der Ausdruck seiner Augen veränderte sich. Jetzt lag darin blanker Hass. Ich war zutiefst entsetzt.

Dann schwanden mir die Sinne. Das Wort »Mörder« hallte wie ein düsteres Echo durch meine dunklen Träume.

Ich erwachte in Vars Zimmer im unterirdischen Gewölbe der »Dunklen Schwestern«. Vor dem Bett, auf dem ich lag, saß eine Gestalt. Ich fuhr hoch. Michael?

Aber es war Solveigh, die sich sofort zu mir kniete und mich sanft auf das Bett zurückdrückte. »Du hast lange geschlafen, Ludmilla. Sehr lange. Du brauchst Ruhe. Die Erschaffung deines Geliebten hat dich fast umgebracht.«

»Michael«, flüsterte ich. »Wo ist er?«

Solveigh blickte zu Boden. Ich spürte Unsicherheit und Angst.

»Wo ist er? Sag es mir! Sofort!«

»Sie sind weg, Ludmilla. Michael und Gregor. Als das Licht am Felsen erlosch, war Gregor plötzlich mit ihm verschwunden. Irgendwo im Wald. Wir haben sie nicht gesucht. Wir wussten nicht, was wir tun sollten. Also brachten wir dich ins Gewölbe und warteten.«

Ihre Worte trafen mich wie Keulenschläge.

»Du lügst«, schrie ich. »Was habt ihr mit ihnen gemacht?«

»Ludmilla«, sagte Solveigh. »Töte mich, wenn du mir nicht glaubst, aber es ist die Wahrheit. Sie sind beide weg.«

Ich sah sie an und wusste, dass sie nicht log.

»Lass mich allein«, bat ich und drehte mich von ihr weg.

Sie ging hinaus.

Ich lag stundenlang allein in Vars Zimmer und dachte über das Geschehene nach. Was hatte Gregor Michael erzählt, als er erwachte? Wollte er mich nicht wiedersehen? Durfte er es nicht? Wann würde ich darauf eine Antwort finden?

Ich verbrachte den nächsten Tag im Gewölbe. Man brachte mir Blut in Weingläsern, um mich zu stärken. Ich trank es und fühlte mich mit jedem Tag besser. Zumindest körperlich. Solveigh schickte auf meine Bitte ein paar Schwestern los, die in Barkers Haus und Michaels Wohnung nachsahen, ob es irgendeine Spur von den beiden gab.

Aber sie fanden weder die beiden, noch irgendeinen Hinweis, dass sie noch einmal in eines der Häuser zurückgekehrt waren. Dafür brachten sie mir eine Zeitung mit. Die Titelzeilen sprangen mich förmlich an:

Mysteriöse Morde
Marian Goldstein, die Gattin des verschwundenen Chefs der Mordkommission, wurde vor zwei Tagen ermordet in der Wohnung des bekannten Regisseurs Morton Went aufgefunden. Wents Leiche fand die Polizei zerstückelt im Keller seines Hauses. Beide Körper sollen Zeugenaussagen zufolge nahezu blutleer gewesen sein.

Michael hatte sich also seine ersten Opfer gesucht: Marian, seine eigene Frau, und ihren Liebhaber. Sie, die ihn gedemütigt hatten.

Ich ließ meine Wohnung und Gregors Haus beschatten, um, wenn möglich, Kontakt mit Michael aufzunehmen, aber weder er noch Gregor ließen sich sehen. Es gab keine Anrufe im Club und auch keine auf meinem Anrufbeantworter in meiner Wohnung. Ich musste mich schließlich mit der Tatsache abfinden, dass Michael mich offensichtlich nicht wiedersehen wollte. Er und Gregor waren und blieben verschwunden. Zwei dunkle Brüder, die irgendwo auf der Welt ihren Mordgelüsten nachgingen.

Ich verließ das Gewölbe mehrere Tage nicht, sondern saß in Vars Zimmer, brütete dumpf vor mich hin und ließ Solveigh Entscheidungen treffen, die den Orden betrafen. Mir war klar, dass alles für meine Schwestern auf einmal anders war. Die starre, strenge Ordnung war zusammengebrochen. Und sie hatten zum ersten Mal gesehen, wie sie selber erschaffen wurden. Erst später wurde mir klar, was sich noch geändert hatte. Jede der Schwestern wusste jetzt, wie man untotes Leben schaffte. Und ich hatte, ohne es zu wollen, die Verantwortung für sie übernommen. Ich würde dafür sorgen müssen, dass sie nicht außer Kontrolle gerieten. Vielleicht hatte Var dies alles geplant und deshalb alle Schwestern mit zum Felsen genommen. Vielleicht wollte sie mir auf diese Weise zeigen, was ich angerichtet hatte.

Eines Abends ließ ich Pia zu mir kommen. Sie weinte, als sie mein Zimmer betrat, und blickte ängstlich zu Boden.

»Weine nicht, Pia«, sagte ich und legte meinen Arm um sie. »Ich bin dir nicht mehr böse. Vielleicht musstest du so handeln. Sie sind deine Schwestern. Schon so lange. Du musstest dich zwischen ihnen und mir entscheiden. Wir vergessen es, es geht jetzt um etwas ganz anderes.«

Dann rief ich Solveigh herein und bat sie, alle Schwestern für die Nacht zusammenzurufen. Ich wollte, dass wir zusammen darüber berieten, was nun geschehen sollte, wie wir weiter zusammenleben wollten.

Zwei Stunden später betrat ich den großen Versammlungsraum. Das flackernde Kerzenlicht beleuchtete die am Boden knienden Schwestern. Solveigh saß am großen Tisch. Vars Stuhl war leer. Ich ging auf ihn zu und setzte mich. Meine Schwestern blickten mich erwartungsvoll an. Ich war ihre Herrin. Die neue Autorität. Und auf einmal kamen mir Vars Abschiedsworte wieder in den Sinn, und jetzt wurde mir klar, was sie wirklich bedeuteten:

»Und dann, Ludmilla, sollst du meine Last, meine Bürde tragen.«