3 -
GEBURT
Dunkelheit. Und Stille. Lautloses Schwimmen im Nichts. Ich war tot. Und doch dachte ich. Fühlte ich. Einen seltsamen Druck, der immer stärker wurde. Als ob etwas in mir wuchs und nach draußen drängte. Etwas Fremdes, Unheimliches. Ich fühlte Schmerzen. Ungeheure Schmerzen. Und Wut. Und Kraft.
Ich schlug die Augen auf und blickte in den wolkenlosen Sternenhimmel. Mit verdrehtem Körper lag ich auf einer Wiese. Irgend etwas musste mich mit ungeheurer Gewalt verletzt und zu Boden geschleudert haben. Dann kam die Erinnerung zurück. Der Hund, meine Flucht und schließlich die seltsame Frau mit den grauenhaften Augen und der bleichen Haut. Irgend etwas Sonderbares war mit mir geschehen. Alles um mich herum war anders. Ich sah klarer, weiter, roch die Umgebung mit sonderbarer Intensität, spürte das Leben im Wald, neben mir, unter mir. In der warmen Erde. Ich stand auf. Noch etwas wackelig auf den Beinen, aber mit jeder Sekunde kraftvoller und energiegeladener. Als ich den Kopf drehte, spürte ich einen stechenden Schmerz an meinem Hals. Meine Hand fuhr an meine Kehle, und ich fühlte eine bereits vernarbte Wunde.
In diesem Moment kam der Hunger. So machtvoll und brutal, wie ich noch nie zuvor irgend etwas empfunden hatte. Ich brach zusammen, kroch wimmernd über den Boden und schlug meine Zähne ins Gras. Das Gefühl war unerträglich. Ich wusste nicht, wie ich den ungeheuren Drang nach Nahrung befriedigen konnte. Schließlich lag ich bewegungslos auf dem Boden und wimmerte. Bilder schossen mir durch den Kopf. Ein Raubtiergebiss. Rohes Fleisch. Blut. Ströme von Blut. Aus zerfetzten Adern hervorschießend. Kraftvoll, im Rhythmus eines schlagenden Herzens. Speichel sammelte sich in meinem Mund. Schließlich konnte ich noch nicht einmal mehr stöhnen und blickte bewegungslos in die Dunkelheit.
Etwa drei Meter vor mir auf dem Boden sah ich ein Kaninchen, das neugierig in meine Richtung blickte. Ich spürte das Blut in ihm, und ehe ich auch nur einen weiteren Gedanken formen konnte, warf ich mich mit aller Macht auf das Tier. Nur einen Augenblick später hatte ich meine Zähne in das warme Fleisch des Kaninchens geschlagen und saugte gierig sein Blut. In meinem Kopf explodierte ein grelles Licht. Eine ungeheure Wonne paarte sich mit ebenso ungeheurem Entsetzen. Ich fühlte, wie mich das Blut stärkte, wie gut es schmeckte, und ekelte mich gleichzeitig vor der Ungeheuerlichkeit meines Tuns. Entsetzt sprang ich auf, schleuderte den Leichnam des Tieres mit einem Fauchen von mir und rannte wie besessen los. Hinein in die Finsternis des Waldes. Ich lief und lief, stolperte aber nie. Äste und andere Hindernisse sah ich schon von weitem und übersprang sie ohne Anstrengung. Trotz meiner Panik registrierte ich, dass ich in der Dunkelheit so gut sehen konnte wie mit einer hochentwickelten Nachtsichtbrille. Nach einer Zeit, die mir wie eine kleine Ewigkeit vorkam, wurde ich wieder schwächer. Wieder packte mich Übelkeit. Mein Körper schien sich plötzlich gegen das Blut zu wehren. Nach wenigen Metern brach ich keuchend zusammen, und eine gnädige Ohnmacht erlöste mich von den Schmerzen und der Übelkeit. Mein letzter Gedanke war, dass ich wohl unter Schock stand und deshalb seltsame Dinge getan hatte. Alles würde wieder gut werden, dachte ich. Alles, wenn ich nur wieder aus dem Wald herauskäme und Hilfe fände.
Als ich wieder erwachte, dämmerte der Morgen. Es war die Stunde, in der dieses seltsame, diffuse Zwielicht alles mit dem Anschein des Unwirklichen umgibt. Aber der nahende Morgen gab mir Hoffnung. Ich fühlte mich etwas besser, aber immer noch sehr schwach.
Einige Meter entfernt stand eine kleine Jagdhütte. Es erfüllte mich mit einer kindlichen Freude, auf ein Zeichen von Menschen, von Zivilisation zu stoßen. Doch gleichzeitig spürte ich auch eine sonderbare Unruhe. So als müsste ich auf einmal wachsam sein.
Ich wankte auf die Hütte zu. Sie war mit einem Vorhängeschloss gesichert. Enttäuscht riss ich am Bügel des Schlosses. Wie durch ein Wunder sprang es auf. Ich hatte noch keine Vorstellung von meiner ungeheuren Körperkraft. Ich trat ein. Die Fensterläden waren geschlossen, aber ich erkannte einen groben Stuhl, einen kleinen Schreibtisch und eine Liege mit einer Decke. »Ein Bett«, dachte ich erleichtert, ließ mich darauf fallen und fiel sofort in einen tiefen, todesähnlichen Schlaf. Nach kurzer Zeit fing ich an zu träumen. Ich sah eine unwirkliche, karge Landschaft, knorrige Bäume, zwischen denen dichter Nebel auf und ab wogte. Plötzlich schoss ein seltsames Wesen aus dem diesigen Himmel herab. Es ähnelte einer Fledermaus, war aber ungleich größer und schwerer. Ich hörte das Geräusch lederartiger Schwingen, als das Geschöpf an mir vorüberflog, und sah einen kurzen Augenblick in sein Gesicht. Es war ein grotesker Anblick. Ich sah ein Tier, das menschliche Züge trug. Dann verschwand das menschengroße Ungetüm mit einem heiseren Schrei aus meinem Gesichtsfeld. Der Nebel lichtete sich und gab schließlich den Blick auf einen Kreis aus großen Steinen frei. Im Hintergrund erhob sich eine bizarre Felsformation. Im Steinkreis standen zehn Frauen in dunklen Gewändern, die Gesichter von Kapuzen bedeckt. Ich lief auf die Gruppe zu, doch die Entfernung wurde nicht geringer. Schließlich trat eine weitere Frau hinter einem Felsen hervor. Sie war groß und schlank. Die anderen Frauen wichen ehrfürchtig zur Seite. Die hochgewachsene Gestalt strich sich die Kapuze vom Kopf und…
Eine laute, zornige Stimme weckte mich. »Verdammtes Pack. Was treibst du dich in meiner Hütte rum?« Ich fuhr hoch und sah die Silhouette eines Mannes. Draußen war es stockdunkel. Ich musste den ganzen Tag geschlafen haben. Der Mann leuchtete mir mit einer Taschenlampe ins Gesicht und schrie unaufhörlich weiter.
»Du kleine, verlotterte Diebin. Brichst hier ein und legst dich frech auf mein Bett. Dir werd ich’s zeigen.«
Er schwenkte seine Taschenlampe in der Hütte herum. »Wo steht nur die verdammte Kerze?«
Jetzt sah ich, dass er ein Gewehr auf mich gerichtet hielt. »Lassen Sie mich doch erklären«, krächzte ich mit heiserer Stimme. »Ich brauche Hilfe. Ich bin überfallen…«
»Halts Maul, Flittchen!« schrie er, hob die Hand und machte einen Schritt auf mich zu.
An das Folgende erinnere ich mich nur noch schemenhaft. Vielleicht habe ich es verdrängt, weil er der erste Mensch war, den ich getötet hatte. Weil ich in dieser Nacht mit allen Konsequenzen endgültig zu dem Wesen wurde, das ich heute bin. Ich erinnere mich nur noch an sein ungläubiges Gesicht, meine plötzliche Wut, das Krachen berstender Knochen und die ungeheure Wonne, als ich sein Blut trank.
Ich blieb eine Woche im Wald. Ich brauchte Zeit, um mich damit abzufinden, dass ich kein Mensch mehr war, und um die Kette dieser ganzen unheimlichen und angsteinflößenden Ereignisse in eine innere Logik zu bringen. Doch es gab keinen Zweifel. Meine übernatürliche Kraft, meine Fähigkeit, im Dunkeln zu sehen. Die erschreckende Tatsache, dass mich das Blut des Jägers über mehrere Tage hinweg satt und zufrieden machte, mich euphorisiert, begeistert hatte. Das Kaninchen war nur eine schlechte, unbekömmliche Vorspeise gewesen. Menschenblut war es, das ich brauchte.
»Ich schenke dir die Ewigkeit«, hatte meine seltsame Retterin gesagt. Und auf einmal wusste ich, dass sie mir etwas Furchtbares angetan hatte. Etwas Unwiderrufliches, Endgültiges. Sie hatte mich getötet und mir ein neues, unheimliches Leben geschenkt. Ich war ein Vampir geworden. Ein Wesen der Nacht. Eine Untote. Eine Blutsaugerin.
Aber ich verstand längst nicht alles. Der Jäger, den ich getötet hatte, blieb tot. Ich konnte offensichtlich keine neuen Vampire schaffen. Das Licht der Sonne war mir unangenehm, aber es brachte mich nicht um. Und ich atmete wie ein lebender Mensch. Manchmal zweifelte ich deshalb und glaubte, mir alles nur einzubilden. Aber dann wieder sah ich, wie eine Wunde, die ich mir an einem spitzen Ast gerissen hatte, in ein paar Minuten heilte. Dann spürte ich das Wogen einer uralten Macht in mir. Eine Macht, die verhinderte, dass ich angesichts der erschreckenden Erkenntnis, ein untoter Blutsauger zu sein, wahnsinnig wurde. Ich haderte zwar mit meinem Schicksal, hatte Gewissensbisse wegen des Jägers, aber ich blieb gefasst und schmiedete sogar Zukunftspläne.
Die Zeit verrann wie im Flug. Tagsüber schlief ich im Unterholz, döste im Schatten der Bäume und überdachte meine Lage. Nachts schlich ich durch die Dunkelheit und erprobte meine Fähigkeiten. Ich wurde eins mit der Finsternis und genoss es, ein Tier zu sein. Hunger hatte ich anfangs nicht. Doch nach acht Tagen kam das nagende Gefühl zurück, das beständig stärker und unangenehmer wurde. Ich wusste, es war soweit. Ich brauchte Blut. Menschenblut. Aber ich wollte auf keinen Fall noch einmal töten.