31 - TOD

Michael blieb stumm, bis wir an der geschlossenen Haustür angelangt waren. »Und was jetzt?« fragte er. Ich spürte, dass er immer ungeduldiger wurde. »Was wollen wir hier?«

»Carl hat Linda als Geisel genommen«, sagte ich mit tonloser Stimme. »Seine Forderung lautete, dass du und ich zusammen hierherkommen. Sonst wird er sie erschießen.«

Michael griff sofort nach seiner Dienstpistole.

Ich hielt seinen Arm fest. »Michael, bitte. Er meint es ernst.«

»Ich verstehe überhaupt nichts«, knurrte er, ließ aber die Pistole stecken. »Warum ausgerechnet Linda? Und was will er hier von uns beiden?«

»Ich habe Ihnen etwas zu sagen«, ertönte plötzlich Carls Stimme von drinnen. »Über Ihre kleine Freundin und all die Toten in der Stadt. Aber vorher legen Sie Ihre Knarre auf die Türschwelle und gehen zehn Schritte zurück.«

Michael stand bewegungslos da. Ich dachte schon, er würde sich jeden Augenblick umdrehen, wegrennen und eines seiner Sondereinsatzkommandos holen. Aber dann sah er mich an, schüttelte resigniert den Kopf und legte die Pistole vor die Tür. Seine Neugier hatte gesiegt. Linda öffnete die Tür. Ihr Gesicht war aschfahl. Sie blutete aus einem Mundwinkel. Hinter ihr war, halb verdeckt, Carl zu sehen, der mit einer großkalibrigen Pistole auf ihren Hinterkopf zielte.

»Die Waffe am Lauf anfassen und langsam umdrehen«, befahl Carl.

Linda tat, was er sagte. Carl nahm die Waffe und knurrte: »Reinkommen. Haustür wieder zu.«

Sekunden später standen wir alle in Lindas Wohnzimmer.

Ich wagte es nicht, Carl anzuspringen. Er stand hinter Linda. Der Lauf der Pistole zeigte genau auf ihre Schläfe. Die Waffe war schussbereit. Ein winziger Druck auf den Abzug, und Lindas Kopf würde in einem Blutschwall zerplatzen.

Michael stand starr neben mir. Ich spürte seine Anspannung. Ich hatte ihn in eine Situation gebracht, die er seinen Vorgesetzten schwerlich würde erklären können. Allein mit einem gesuchten Mordverdächtigen, seiner seltsamen Freundin und einer ehemaligen Prostituierten – ohne seine Dienstwaffe.

Dann sprach Michael.

»Geben Sie auf, Lenkowitz. Sie haben keine Chance. Die gesamte Polizei der Stadt sucht nach Ihnen. Was immer Sie auch wollen, es bringt Ihnen nichts, hier Leute zu bedrohen. Sie machen nur alles noch schlimmer.«

»Ihnen werden gleich noch die Bullen-Sprüche vergehen«, antwortete Carl. »Spätestens, wenn ich Ihnen die Wahrheit über Ihre kleine Ludmilla erzähle.«

»Dann kommen Sie doch endlich zur Sache«, herrschte ihn Michael an. Er war so wütend, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. »Was wollen Sie mir über Ludmilla sagen?«

»Ich will Ihnen sagen, Goldstein, dass diese Frau da kein Mensch ist. Sie ist ein gottverdammtes Monster, ein Vampir. Sie bringt Leute um.«

»Was soll das Geschwätz?«

Michael sah zu mir herüber. Aber ich stand einfach nur da und weinte. Blut rann in Strömen aus meinen Augen und tropfte auf den Fußboden.

»Mein Gott«, stöhnte Michael und starrte mich fassungslos an.

»Ich hab immer gewusst, dass mit ihr was nicht stimmt«, hörte ich Carls Stimme wie durch einen Nebel. »Aber ich wusste einfach nicht, was. Dann bin ich in ihre Wohnung eingestiegen und hab all dieses Zeugs über Vampire und so gefunden.«

Carl redete mit fiebrigem Blick. Er war wild entschlossen, das Kapitel Ludmilla heute Abend abzuschließen. So oder so. Das war deutlich zu spüren. Durch den Schleier meiner Tränen sah ich, dass er die Waffe trotz seiner Erregung keinen Millimeter von Lindas Schläfe entfernt hatte. Michael stand nur da und schwieg. Er war blass und hatte seine Hände zu Fäusten geballt.

Dann sprach Carl mit gehetzter Stimme weiter: »Zuerst konnte ich mir auf all das keinen Reim machen. Vampire – was für ein Schwachsinn. Ich hab gedacht, sie wär irgend so ’ne Spinnerin. Auf dem Horror–Trip oder so. Aber heute – als sie mir die Streichhölzer gezeigt haben –, da wusste ich, dass doch was dran ist an alldem. Auf dem Briefchen sind nämlich nicht nur meine Fingerabdrücke drauf, sondern auch ihre. Ich selber hab sie ihr gestern gegeben. Und sie hat die Packung dann eingesteckt. Ihre kleine Ludmilla. Und später haben sie bei den Toten gelegen. Und einer hatte kein Blut mehr. Da war mir plötzlich alles klar. Es war die Wahrheit. Sie schläft tagsüber. Sie ist immer nachts wach. Sie mag kein helles Licht. Und manchmal verschwindet sie plötzlich in der Nacht, und hinterher sieht sie irgendwie anders aus.«

Er zeigte mit dem Finger auf mich.

»Sie ist kein Mensch. Sie ist eine Blutsaugerin. Eine Untote. Und jetzt, wo es ihr an den Kragen geht, da hätte es natürlich gut gepasst, den alten Carl als Mörder hinzustellen. Vorbestraft. Klingt immer gut für die Bullen. Aber nicht mit mir. Das hier, Goldstein, ist die Wahrheit. Sehen Sie sich die beschissene Nutte doch an, wie ihr das Blut aus der Fresse läuft. Man sollte sie einfach abknallen. Mal sehen, was passiert, wenn ich ihr ins Bein schieße.«

Er nahm die Waffe von Lindas Kopf und zielte auf mich. Ich war wie erstarrt. Sein Finger krümmte sich um den Abzug.

»Neiiiiin!«

Michael warf sich schreiend nach vorn, genau in die Schussbahn. Im gleichen Moment knallte es zweimal.

Michael schlug mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden auf. Auf seiner Brust breiteten sich sofort Blutflecken aus.

»Scheiße!« schrie Carl.

Linda ließ sich zu Boden fallen.

Endlich erwachte ich aus meiner Lethargie. Im Bruchteil einer Sekunde war ich bei Carl, schlug ihm die Pistole aus der Hand, riss ihn von Linda fort und warf ihn quer durch den Raum. Er krachte gegen die Wand und blieb benommen liegen.

Ehe er sich aufrappeln konnte, war ich schon wieder über ihm.

»Ludmilla! Nein. Tu’s nicht«, hörte ich Lindas Stimme. »Du machst alles nur noch schlimmer.«

Doch mein Hass, meine Wut waren zu groß. Ich packte Carl, zog ihn dicht an mich heran und sah sein wimmerndes, angstverzerrtes Gesicht vor mir.

Es gefiel mir, ihn so zu sehen. Ich dachte in diesem Augenblick weder an Michael, noch an Linda. Ich dachte nur noch ans Töten.

»So!« schrie ich. »Du weißt also, was ich bin. Das bin ich, Carl. Das hier!«

Ich schlug ihm ins Gesicht. Seine Lippe platzte auf. Ich brach ihm die Nase. Er hob einen Arm. Ich knickte ihn um wie einen morschen Ast. Dann packte ich Carl, riß ihn hoch und warf ihn durch das geschlossene Fenster hinaus in den Garten. Er landete in einer Wolke aus zerborstenem Glas draußen auf dem Rasen. Er wollte fortkriechen. Ich sprang hinterher und tötete ihn mit einem Fußtritt ins Genick. Dann stand ich reglos da und badete in einer warmen Welle von Genugtuung. Ich hatte ihn endlich getötet. Ihn, der alles zerstört hatte.

Dann, wie aus weiter Ferne, hörte ich Lindas Stimme: »Ludmilla, komm schnell. Michael lebt.«

Erst jetzt kam ich wieder richtig zu mir und rannte hinein.

Linda stand bereits am Telefon: »Ein Notfall!« rief sie in den Hörer. »Zwei Schwerverletzte. Kommen Sie sofort.«

Dann nannte sie ihre Adresse und legte auf.

Ich kniete neben Michael nieder und hielt seinen Kopf. Er war ohne Bewusstsein. Carl hatte ihn zweimal erwischt. Wo, konnte ich bei all dem Blut nicht erkennen. Ich hatte geglaubt, dass er tot sei. Carl hatte eine großkalibrige Pistole benutzt. Aber Michael atmete. Flach, aber er atmete.

»Er hat sich für mich geopfert«, flüsterte ich und sah Linda an. »Er hat erfahren, was ich bin, und trotzdem hat er das getan. Dabei hätte ich von diesen Schüssen schon am nächsten Morgen nichts mehr gemerkt. Was für eine Ironie.«

»Ludmilla«.

Linda berührte mich sanft an der Schulter. Aber ich spürte die Furcht in ihr. »Gleich wird die Ambulanz hier sein. Und wenn die sehen, was hier los ist, auch schnell die Polizei. Du musst verschwinden. Ich werde ihnen irgendwas erzählen. Geh, solange es noch Zeit ist.«

Ich stand auf und sah sie an. Meine gute, alte Linda. Gequält von Carl. Zeuge eines Massakers. Die Freundin eines Monsters. Und doch behielt sie einen kühlen Kopf und wusste, was zu tun war. Sie hatte recht. Ich durfte den Behörden nicht in die Hände fallen.

»Ja, Linda, ich gehe«, sagte ich, drückte kurz ihren Arm, warf einen letzten Blick auf Michael und lief hinaus in die Nacht.

Als ich ein paar hundert Meter gerannt war, hörte ich schon das Heulen der Sirenen. Hoffentlich konnten sie Michael helfen. Hoffentlich.

Zu Hause in meiner Wohnung saß ich stundenlang auf meinem Bett und dachte nach. Was sollte jetzt geschehen? Was würde Linda der Polizei erzählen?

Ich war verzweifelt. Ich brauchte dringend Hilfe. Ich rannte zum Telefon und rief Pia in der Videothek an. Ich erzählte ihr atemlos, was geschehen war.

Zehn Minuten später war sie da. Ich riss die Tür auf und fiel ihr um den Hals. Sie hielt mich fest und sagte kopfschüttelnd mit ihrer tiefen Stimme: »Du und deine Menschen.«

Sie strich mir zärtlich das Haar aus dem Gesicht, wischte mir eine blutrote Träne von der Wange und sagte: »Ich hatte dich gewarnt. Sie machen einem nur Ärger. Und manchmal brechen sie uns das Herz. Setz dich hin und erzähl mir das ganze noch mal ganz in Ruhe, meine kleine Schwester.«

Als ich geendet hatte, stand sie auf und zog mich ebenfalls hoch.

»Du musst hier weg. Bis wir nicht wissen, was die Behörden erfahren haben und ob dein Name gefallen ist, kannst du hier nicht bleiben. Wir gehen in den Wald. Ins Haus der Schwestern. Vielleicht ist Var da. Sie wird wissen, was zu tun ist. Schnell, wir müssen uns beeilen.«

Eine Minute später verließen wir gemeinsam das Gebäude. Ein zufällig vorbeikommender Passant hätte zwei junge Frauen gesehen, die schnellen, entschlossenen Schrittes die Straße hinabeilten. Vielleicht hätte er noch einen Moment hinterhergeschaut, denn schließlich sahen die beiden nicht schlecht aus. Er hätte sich wohl ziemlich gewundert, dass sich die beiden Frauen auf einmal in Luft aufzulösen schienen und nur ein paar trockene Blätter von einem plötzlichen Windstoß durcheinandergewirbelt wurden.