32 - DER
BEFEHL
Stunden später waren wir auf dem Weg durch den Wald. Über uns zogen Fledermäuse hektisch ihre Kreise. Irgendwo schrie ein Käuzchen. Als wir den verwilderten Teil des Gebietes betraten, spürte ich sofort die Nähe meiner Schwestern. Ich hatte gelernt, ihre Signale zu empfangen, sofern sie sich nicht abschotteten. Es war wie ein dunkles Raunen, das den ganzen Urwald erfüllte. Unhörbar für menschliche Ohren, sehr deutlich für meinesgleichen. Pia sagte nichts. Entschlossen bahnte sie sich ihren Weg durchs Unterholz. »Pia«, flüsterte ich. »Ich spüre sie. Sind denn immer welche von uns hier?«
»Kommt darauf an«, antwortete Pia. »Var ist oft hier. Und wenn, dann sind immer ein paar Schwestern bei ihr und sichern das gesamte Areal. Du wirst sie gleich sehen.«
Und tatsächlich. Nach wenigen Sekunden tauchten plötzlich zwei Gestalten aus der Dunkelheit auf.
Pia sprach sofort: »Wir sind es, Pia und Ludmilla. Wir brauchen den Schutz der Schwestern.«
»Kommt«, sagte die eine der beiden Gestalten. »Var und Dinah sind im Gewölbe. Folgt euch jemand?«
»Nein, ausgeschlossen«, antwortete Pia und zog mich mit in Richtung des geheimnisvollen Hügels mit der verborgenen Tür. Die beiden Frauen blieben im Wald zurück. Wachsam, wie Hunde, die das Haus ihrer Herrin beschützen. Als wir die unterirdischen Gemäuer betraten, spürte ich sofort Vars Nähe. Angst kroch in mir hoch. Hatte ich einen unverzeihlichen Fehler begangen?
Dann, als wir der Biegung eines Gangs folgten, standen sie plötzlich vor uns: Var, die Herrin der Vampire, und Dinah, ihre grausame Generälin. Die Luft um sie herum schien zu flimmern.
»Ludmilla, Pia«, sagte Var und hob eine ihrer klauenbewehrten Hände. »Was führt euch her? Gibt es Probleme?«
»Ja«, sagte ich, um nicht Pia gänzlich die Initiative zu überlassen.
»Das dachte ich mir, dass es mit dir Probleme gibt«, sagte Dinah und lächelte kalt.
Var bedachte sie mit einem kurzen missbilligenden Blick.
»Kommt in den Versammlungsraum«, befahl sie.
Wir schritten durch die unterirdischen Gänge. Die Atmosphäre war gespenstisch und gleichzeitig seltsam beruhigend. Hier in der diffusen Dunkelheit des uralten Gewölbes galt nur das Gesetz der Vampire. Flackerndes Kerzenlicht erhellte den Versammlungsraum. Wir setzten uns an den Tisch, und ich begann zu erzählen.
Var und Dinah hörten schweigend zu. Als ich geendet hatte, flüsterte Var Dinah etwas ins Ohr. Diese stand auf und sagte: »Pia – du wirst in die Stadt gehen und herausfinden, was diese Frau den Behörden erzählt hat und wie es dem Polizisten geht. Dann kommst du zurück und berichtest. Danach entscheiden wir. Ludmilla wird solange hierbleiben.«
Var erhob sich und verließ den Raum. Ich fühlte eine Mischung aus Schmerz, Wut und Liebe, als sie an mir vorbeiging.
Dinah stand mit versteinertem Gesicht vor uns. »Du kannst froh sein, dass die Oberin einen Narren an dir gefressen hat, Ludmilla«, zischte sie. »Ich hätte dich längst für deine Dummheiten bestraft und in der Kammer verrotten lassen.«
Dann verschwand auch sie.
Pia erschauerte, nahm meine Hand und sagte: »Lass sie reden. Sie kann dir nichts tun. Noch nicht. Ich werde bald zurücksein. Komm, ich bringe dich in eines der Zimmer.«
Sie führte mich durch einen kleinen Seitengang und öffnete eine Tür.
Dahinter befand sich ein kleiner Raum mit einem Bett, Tisch und Stuhl sowie einem Regal voller Bücher. Pia zündete einen Kerzenleuchter an und sagte: »Der Morgen graut. Versuche ein wenig zu schlafen.«
Dann küsste sie mich und ging.
Als ich allein war, setzte ich mich auf das Bett und überdachte meine Situation. Zwar hatte meine Umgebung – so unheimlich und bedrückend sie auch für menschliche Wesen wirken mochte – eine beruhigende Wirkung auf mich. Aber ich sah immer wieder Michaels blutenden Körper vor mir. Er hatte sein Leben riskiert, um mich, eine Mörderin, zu schützen. Wie konnte ich ihm nur helfen?
In diesen Stunden, allein in meiner kleinen Kammer tief unter der Erde, kam mir der ungeheure Gedanke das erste Mal. Ich versuchte ihn zu verdrängen. Es war verboten. Es war unmöglich. Ich kannte das Geheimnis nicht. Michael würde es nicht wollen – und doch wurde ich den Gedanken nicht mehr los. Was wäre, wenn ich es könnte? Wenn es in meiner Macht stünde, ihn, meinen Geliebten, zu meinesgleichen zu machen? Mit ihm Jahrhunderte gemeinsam zu leben? Würde ich es tun, wenn ich dazu in der Lage wäre?
Schließlich, nach Stunden, schlief ich ein.
Ich erwachte, als sich die Zimmertür knarrend öffnete. Ich fuhr hoch. Es war Pia, die beruhigend die Hände hob und sich zu mir auf das Bett setzte.
»Was ist mit Michael?« fragte ich sofort.
»Er liegt auf der Intensivstation des Städtischen Krankenhauses. Sein Zustand ist kritisch. Er wird künstlich am Leben erhalten. Man muss abwarten. Noch kann niemand etwas sagen. Ich habe zwei von seinen Kollegen belauscht. Linda hat bisher nichts erzählt. Sie sagt, dass sie sich an nichts erinnern könne.«
Gute, alte Linda, dachte ich. Sie wollte mich schützen. Aber wie lange würde das gutgehen? Und was würde geschehen, wenn Michael wieder erwachte?
»Komm jetzt«, sagte Pia und riß mich aus meinen Gedanken. »Die Oberin will uns sehen.«
Wir gingen schweigend den Gang hinunter in den Versammlungsraum. Var und Dinah saßen am Kopfende des Tisches. Dinah bedeutete uns mit einer knappen Geste, dass wir uns setzen sollten.
»So hört, was wir entschieden haben«, sagte Dinah.
Sie funkelte mich mit ihren kalten Augen an und deutete auf mich.
»Du, Ludmilla, hast unverzeihliche Fehler begangen, die alle Schwestern gefährden. Fehler, die du selber wieder gutmachen wirst. Du musst lernen, wie eine Vampirin zu handeln. Du wirst in die Stadt zurückkehren. Dort wirst du, sobald es Gelegenheiten gibt, unverzüglich den Polizisten und die Frau töten. Sie wissen zuviel und dürfen niemals reden. Pia wird dich begleiten und darauf achten, dass du in unserem Sinne handelst. Tust du nicht wie dir befohlen, wirst du aus dem Orden der Schwestern verstoßen und dem Feuer übergeben.«
Ich stand da wie erstarrt, zu keiner Bewegung fähig. Michael und Linda töten? Ein unfassbarer Gedanke. Unmöglich! Ich wollte schreien, mich weigern, Dinah ein »Niemals« ins Gesicht schleudern. Aber ich schwieg. Fassungslos und voller Ohnmacht. Denn mir war sofort klargeworden, dass ich keine Chance hatte, Michael und Linda zu retten. Weigerte ich mich, würde ich sofort sterben, und eine der anderen Schwestern würde meinen Freunden den Tod bringen. Was sollte ich nur tun?
Schließlich nahm Pia meinen Arm.
»Wir werden euren Befehl ausführen«, sagte sie und zog mich mit hinaus. Ich folgte ihr wie hypnotisiert.
Kurz darauf verließen wir das Gewölbe durch den getarnten Ausgang. Draußen dämmerte es bereits. Ich sagte kein Wort, als Pia mich in den Wald hineinzerrte, und ließ mich von ihr wie eine Schlafwandlerin zurück zum großen Parkplatz führen.
So kehrte ich also doch noch einmal zurück in die Welt, die mir soviel bedeutete. Und dort sollte ich töten, was ich liebte.