10 – KAMPF

Langsam näherte ich mich der Hintertür. Sie war einen Spalt geöffnet. Mit meinen übernatürlichen Sinnen registrierte ich einen Menschen. Er wartete. Es handelte sich offensichtlich um eine Wache, die verhindern sollte, dass irgend jemand von hinten in die Clubräume eindrang. Mein Herz pochte wie wild. Lindas Schrei war mir wie ein Schwerthieb in den Kopf gefahren. Jetzt aber war es sehr still im Club. Zu still. Ich stieß die Tür mit der Hand auf. Sofort löste sich eine bullige Gestalt aus der Dunkelheit, hielt mir eine Pistole ins Gesicht und sagte: »Feierabend, Schätzchen. Leg dich auf den Boden.«

Mein Arm ruckte nach vorn. Ich entriss dem Mann die Pistole und zog ihn mit der anderen Hand zu mir heran. Das Ganze war fast geräuschlos über die Bühne gegangen. Der Mann keuchte in meinem Würgegriff, versuchte sich mit wuchtigen Schlägen zu befreien, konnte aber nicht schreien.

»Sei still«, zischte ich, »oder ich breche dir das Genick.« Schließlich gab er auf und bewegte sich nicht mehr. In seinen Augen sah ich die nackte Angst. Er war einen Kopf größer als ich und breit wie ein Möbelpacker, aber ich hielt ihn mit einer Hand fest wie einen ungezogenen Fünfjährigen.

»Was passiert da drinnen?« fauchte ich ihn mit zusammen gepressten Zähnen an und lockerte meinen Griff etwas.

»Schutzgeld«, flüsterte er mit brüchiger Stimme. »Das Viertel hier gehört jetzt zu Serges Gebiet, und er will sich von Grant seinen Anteil holen.«

»Wie viele von deinen Leuten sind da drinnen?« fragte ich und zog ihn dichter zu mir heran.

»Serge und noch sechs.«

»Bewaffnet?«

»Ja, Pistolen, Schnellfeuergewehre und Messer.«

»Ich lasse dich jetzt los«, sagte ich. »Du hast nur eine Chance. Du gehst sofort durch diese Tür hier und verschwindest, oder du bist tot.«

Ich wusste, dass er es nicht tun würde. Er nickte, und ich ließ ihn los. Sofort sprang er zurück und griff in seiner Jacke nach einer zweiten Waffe. Blitzschnell für einen Menschen. Viel zu langsam für einen Vampir. Eine Sekunde später lag er ohnmächtig am Boden. Ich horchte reglos. Hatte drinnen jemand etwas gehört? Dann riss mich ein leises Wimmern aus meiner Erstarrung. Linda!

Langsam und ohne einen Laut näherte ich mich dem großen Saal des Clubs und sondierte, geschützt durch eine Steinsäule, die Lage. Ich sah Grant mit blassem Gesicht an einem der Tische sitzen. Vor ihm stand ein schlanker, großer Mann in einem teuren Anzug. Er lächelte und sprach leise auf Grant ein. Auf seinem Vorderzahn blitzte ein kleiner Diamant auf. Etwas weiter hinten befanden sich vier Männer und hielten Carl und die anderen Angestellten mit großkalibrigen Waffen in Schach. Ein fünfter Mann stand hinter Linda und drückte ihr ein Messer an die Kehle. Gäste waren keine mehr zu sehen.

Ich spürte, wie die Angst in mir hochkroch. Dies war das erste Mal in meinem Leben als Vampir, dass ich mit einer Situation konfrontiert wurde, die mich überforderte. Sechs schwerbewaffnete Männer, die meine Freunde bedrohten und zudem noch an drei relativ weit voneinander entfernten Orten standen. Hier würde mir auch meine übermenschliche Schnelligkeit nicht helfen. Selbst wenn ich die Hälfte der Bande unschädlich machen könnte – die anderen würden mich mit ihren Kugeln zerfetzen.

Ich beschloss zu warten und konzentrierte mich auf das Gespräch zwischen Grant und dem schlanken Mann.

»Serge«, sagte Grant mit müder Stimme. »Du forderst Summen, die ich nicht zahlen kann. Lucas hat immer…«

»Lucas ist tot«, unterbrach ihn der Mann namens Serge. »Mag sein, dass du dich mit dem Alten arrangiert hast. Großväter unter sich. Aber damit ist jetzt Schluss. Der Laden hier läuft prima, und ich will einen höheren Anteil, Grant. So einfach ist das.«

Grant schwieg. Serge stand langsam auf und ging auf Linda zu. »Vielleicht muss ich dir erst mal klarmachen, dass ich das Ganze hier verdammt ernst meine.«

Er trat dicht neben Linda und riss ihren Kopf an den Haaren zu sich heran. Linda wimmerte.

»Lass sie!« rief Grant und sprang auf. Aber sofort richtete einer der Bewaffneten seine Pistole auf ihn und zwang ihn, sich wieder zu setzen.

»Zu spät, alter Mann«, sagte Serge. »Ich werde deiner alten Freundin ein klein wenig das Gesicht zerschneiden. Damit du dich erinnerst, dass ich hier war.«

Er nahm dem Mann hinter Linda das Messer aus der Hand und hielt die Klinge direkt an ihre linke Wange.

Meine Angst wich ungeheurer Wut. Jetzt musste ich reagieren. Serge, der andere Mann und Linda standen etwa acht Meter von mir entfernt. Alle im Saal sahen in ihre Richtung. Grant schlug die Hände vors Gesicht.

Ich konzentrierte mich, spannte alle Muskeln an und sprang los. Der Raum wurde seltsam konturlos – und im Bruchteil einer Sekunde war ich auf Serges Höhe, entriss ihm das Messer und hielt es ihm von hinten an die Kehle.

Alles war unglaublich schnell gegangen, und alle Anwesenden brauchten ein paar Sekunden, um überhaupt zu registrieren, was passiert war. Im Raum war es totenstill. Selbst Linda hatte aufgehört zu wimmern und starrte mich mit ungläubigem Gesicht an. Die Bewaffneten wurden nervös, blieben aber an ihren Plätzen. »Verdammt«, keuchte Serge. »Wie zum Teufel…?«

Der Mann, der Linda zuerst festgehalten hatte, bewegte sich hinter mir.

»Zehn Schritte zurück«, fauchte ich. »Sonst stirbt dein Boss hier vor deinen Augen wie ein abgestochenes Schwein. Was nicht unpassend wäre, denn er scheint ja auch eines zu sein.«

»Bleib weg«, keuchte Serge. »Jeder tut, was sie sagt.«

»Zuerst alle Waffen auf den Boden«, forderte ich.

Sie legten die Waffen nieder, und sofort sprangen Carl, Matti und die anderen herbei und packten die Gewehre und Pistolen.

»Ruhig bleiben«, rief Grant und sprang auf. »Keiner soll jetzt durchdrehen. Es ist schon genug passiert. Ich will einfach nur, dass ihr verschwindet, Serge. Ludmilla, bitte lass ihn los.«

Ich zögerte, sah aber das Flehen in Grants Augen und stieß Serge schließlich von mir. Er strauchelte, fiel hin und fasste sich an seinen Hals. Das Messer hatte die Haut verletzt und ein paar Blutstropfen verfärbten den weißen Kragen seines Hemdes. Er sah mich mit hasserfülltem Blick an, stand auf und ging langsam auf den Ausgang zu. Seine Leute folgten ihm.

»Beim Hinterausgang liegt noch einer von euch Pennern«, sagte ich. »Den müsst ihr wohl nach Hause tragen.«

Serge verließ den Club als letzter. In der Tür drehte er sich noch einmal um, sah mich lange an und sagte: »Ludmilla. Den Namen werde ich mir merken.«

Dann verschwand er.

Anschließend herrschte eine merkwürdige Ruhe im Club. Ich rührte mich nicht von der Stelle. Matti sprach leise auf Linda ein. Carl stapelte wortlos die Waffen der Gangster auf einen Tisch, und Grant sah mich kopfschüttelnd an.

»Ludmilla, wie bist du so schnell an den Mann herangekommen?« fragte er. »Du warst… auf einmal hinter ihm.«

Er hielt inne, machte eine unwirsche Handbewegung und sagte dann: »Egal. Hauptsache, du warst da, als es wirklich brenzlig wurde.«

»Du weißt doch, dass ich schnell reagiere«, antwortete ich und versuchte zu lächeln.

Dann spürte ich plötzlich Lindas Arme, die mich umschlangen. Sie sagte nichts, sondern schluchzte nur und zitterte am ganzen Körper. Ich streichelte ihren Kopf und fühlte mich wie eine Mutter, die ihr kleines Kind tröstet. Wie viel Macht mich doch von den Menschen trennte.

»Mann, Ludmilla«, sagte Matti schließlich und kam auf uns zu. »Das war ’ne reife Leistung. Ich habe Serge noch nie so dämlich aus der Wäsche gucken sehen.«

Alle lachten, doch ich sah die Angst in ihren Gesichtern. Wir hatten zwar eine Schlacht gewonnen. Aber einen Krieg am Hals. Vorsichtig löste ich mich von Linda und setzte mich zu Grant.

»Was hat das alles zu bedeuten?« fragte ich.

»Das ganze Viertel wird von verschiedenen Mafia-Familien kontrolliert«, antwortete Grant mit müder Stimme. »Bisher hatte hier Lucas das Sagen – ein Mafioso der alten Schule. Hart, aber fair. Ich zahlte, wie jeder hier, eine feste Summe und hatte keinen Ärger. Wie es scheint, hat Lucas einen Machtkampf mit Serge und seiner Bande verloren. Serge verlangt nun das Dreifache.«

Er zögerte, sah mich an und murmelte: »Ich werde zahlen, wenn er mich jetzt noch lässt.«

Plötzlich ging die Eingangstür auf. Alle fuhren erschreckt herum. Waren Serge und seine Leute zurück? Matti und Carl griffen zu den Waffen.

»Immer mit der Ruhe«, ertönte eine herrische Stimme. »Polizei! Finger weg von den Waffen.« Die Stimme kam aus dem Munde eines verdammt gutaussehenden Mannes, der von zwei anderen begleitet wurde. Matti und Carl wichen sofort zurück. Sie schienen den Mann zu kennen.

»Goldstein«, hörte ich Grants Stimme. Sie klang belegt. »Was treibt Sie hierher?«

»Ein Funkspruch aus der Zentrale. Einer ihrer Gäste hat bei uns angerufen und irgendwas von einem Überfall erzählt. Wir waren gerade in der Nähe, und da dachten wir: Schauen wir doch mal rein in Mr. Grants hübschen Club. Nun, der angebliche Überfall scheint vorbei zu sein, nicht wahr?«

Er lächelte. Aber seine Augen blieben eiskalt. Er sah uns nacheinander an. Als mich sein Blick traf, lief mir ein Schauer über den Rücken. Ich spürte sofort: dieser Mann war anders als alle, die ich bisher in meinem neuen Leben getroffen hatte. Er war ein Jäger wie ich. Unerbittlich und gefährlich. Auch Serge und seine Leute hatten bedrohlich gewirkt. Aber Goldstein hatte noch etwas anderes, Tiefgründigeres an sich. Er war etwa Ende Dreißig, mittelgroß, schlank, hatte dunkelbraune Augen und volles, schwarzes Haar, trug einen modischen Anzug und teure Schuhe. Langsam ging er zu dem Tisch mit den Waffen. Seine Bewegungen wirkten geschmeidig. Er war offenbar gut in Form. Seine beiden Kollegen hielten sich im Hintergrund, jeweils eine Hand unter dem Jackett.

»Und, nun«, sagte Goldstein mit leiser Stimme und hob eine der Pistolen hoch, »will ich wissen, was hier los war?«

Grant blickte zu Matti und flehte stumm um Hilfe.

»Nichts«, sagte Matti. »Dieser, äh, Anrufer hat wohl eine etwas blühende Phantasie. Wir haben lediglich ein paar Gäste aus dem Milieu gebeten, ihre Waffen doch nicht bei Tisch zu tragen, sondern hier abzulegen.« Er kicherte.

Goldstein ging mit drei schnellen Schritten auf Matti zu und gab diesem eine schallende Ohrfeige.

»Verarsch mich nicht, du schwuler Blödmann.«

Matti schwieg, verzog aber keine Miene.

Heiße Wut stieg in mir auf. Ich machte einen Schritt auf Goldstein zu.

»Ludmilla, nein«, zischte Grant. Goldstein fuhr herum und sah mich fragend an.

»Nun sieh mal an, wer ist denn das?« fragte er. »Borgen Sie sich Ihre Leute neuerdings von den Schülerlotsen, Grant?«

Er lächelte.

»Wenn Sie Lust haben, auch eine Frau zu ohrfeigen«, sagte ich, »nur zu. Wir haben lediglich ein paar Gäste gebeten, ihre Waffen abzulegen. Und das haben sie getan. Und dann haben sie die Dinger doch glatt hier im Club vergessen. Das war’s. Wollen Sie jetzt zuschlagen, Mr. Goldstein?«

Ich hielt ihm mein Gesicht hin. »Tun Sie sich keinen Zwang an.«

Sein Blick durchbohrte mich. Er sagte kein Wort. Ich konnte seine Aggressivität und seine Kraft in meinem ganzen Körper spüren. Er sendete die stärksten Impulse aus, die ich je von einem Menschen empfangen hatte.

Doch Goldstein sah mich nur an, drehte sich schließlich um, nickte seinen Leuten zu, und alle drei gingen in Richtung Ausgang. In der Tür wandte er sich noch einmal um.

»Sie scheinen Ärger zu haben, Grant. Es wäre besser, Sie reden mit uns, bevor jemandem etwas passiert. Aber immerhin machen Sie Fortschritte in der Auswahl ihres Personals.«

Er warf mir einen vielsagenden Blick zu und verschwand.

Ich erfuhr von den anderen, dass Michael Goldstein der Leiter der hiesigen Mordkommission war; ehrgeizig, hart und kompromisslos.

»Du hast es ja gesehen«, sagte Matti und rieb sich die Wange. »Der Mann schlägt schnell zu, und jeder weiß, dass bei ihm auch die Pistole ziemlich locker sitzt. Bisher jedoch konnten ihm keinerlei dienstliche Verfehlungen nachgewiesen werden. Wohl auch, weil seine Leute ihm hündisch ergeben sind und manches decken.«

»Aber er ist ungewöhnlich erfolgreich«, ergänzte Grant. »Goldstein gilt als unnachgiebiger Jäger, der nie aufgibt und sich wie besessen in seine Fälle kniet. Seine Abteilung ist bekannt für eine extrem hohe Aufklärungsquote. Und außerdem ist der Mann auch noch absolut unbestechlich.«

»Alle Achtung«, sagte ich. »Sauber wie ein biblischer Racheengel. Hat der Mann denn gar keine Achillesferse?«

»Doch«, sagte Matti. »Aber darauf spricht man ihn besser nicht an. Seine Frau Marian, eine erfolgreiche Schauspielerin, hat ihn wegen eines anderen verlassen. Ich kenne sie ganz gut. Sie kommt ab und zu mit Leuten vom Theater hierher. Marians Neuer ist Regisseur – Morton Went. Goldstein hasst ihn wie die Pest. Die Ohrfeige vorhin galt wohl auch weniger meiner dämlichen Lüge als der Tatsache, dass ich mit Marian, Went und den anderen Theaterleuten ganz gut befreundet bin.«

Ich verabschiedete mich von den anderen und ging hoch in mein Zimmer.

Dort versuchte ich, mir über meine sonderbaren Gefühle klarzuwerden. Michael Goldstein hatte mich vom ersten Moment an interessiert. Als er Matti geschlagen hatte, hätte ich ihn zwar am liebsten sofort umgebracht. Er war zweifellos ein Arschloch. Aber irgend etwas faszinierte mich trotzdem an ihm. Schließlich verdrängte ich den Gedanken an Goldstein, nahm seufzend eines meiner historischen Bücher, die ich mir besorgt hatte, zur Hand und begann etwas über das angebliche Auftauchen von Vampiren zur Zeit Katharinas der Großen zu lesen.

Die nächsten Tage verliefen in gespannter Ruhe. Grant hatte Serge die Nachricht überbringen lassen, dass er zahlen würde. Doch der neue starke Mann im Viertel schwieg. Es hatte sich in der Szene herumgesprochen, dass er in »Grants Club« von einer Frau besiegt worden war, und Serge überlegte offenbar, wie er seinen ramponierten Ruf am besten wiederherstellen konnte.

Grant ließ den Eingang bewachen. Aber er wusste, dass das letztendlich nur einen direkten, offenen Angriff verhindern würde. Serge würde diese Niederlage nicht so einfach hinnehmen.

Schließlich setzte sich Grant eines Abends zu mir. »Ludmilla, in deinem und unserem Interesse ist es besser, wenn du verschwindest. Serge wird erst Ruhe geben, wenn er sich für diese Demütigung irgendwie gerächt hat. Er will dich, und du solltest abhauen, solange du das noch kannst. Ich werde zahlen und sagen, dass ich dich gefeuert habe. Vielleicht reicht ihm das.«

Ich nickte.

»Wenn du willst, dass ich gehe, Grant, dann gehe ich.«

Er schwieg. Dann stand ich auf und lief in mein Zimmer. Tränen schossen mir in die Augen, aber ich wusste, dass es keine andere Lösung gab, wenn ich meine Freunde nicht gefährden wollte.

Doch es kam alles ganz anders. Noch am selben Abend rief Serge im Club an und akzeptierte Grants Angebot, das erhöhte Schutzgeld zu zahlen. Dann wollte er mich sprechen.

»Ich habe nachgedacht«, sagte Serge mit seiner leisen Stimme. »Ich muss für ein paar Wochen weg und will vorher das Ganze hier ohne weiteren Ärger regeln. Und schließlich, Ludmilla, hast du ja nur absolute Loyalität bewiesen. Ich würde auch nicht tatenlos zusehen, wenn meiner Freundin das Gesicht zerschnitten werden soll. Die Hauptsache ist, dass Grant jetzt zahlt und alle das wissen. Dann muss ich mich nicht persönlich in jeden Laden hier bemühen und die Leute überreden. Auf bald, Ludmilla. Ich freue mich auf ein Wiedersehen.« Dann legte er lachend auf.

Ich wiederholte für Grant Serges Worte ganz genau.

»Ich glaube nicht, dass wir ihm trauen können«, sagte Grant. »Aber vielleicht gibt uns das etwas Zeit, nachzudenken. Wenn du es riskieren willst, dann bleib, Ludmilla.«