24 -
KONTAKT
Ich blieb reglos stehen und lauschte. Eine Flut von Geräuschen drang in meine Ohren. Überall aus der Wildnis ertönte leises Zirpen, Scharren und Zischeln. Der Urwald steckte voller Leben. Hektisches, verstecktes Leben, bemüht, sich im ständigen Kampf ums Überleben gegen andere zu behaupten. Doch es war natürliches Leben. Das Andere, Dunkle, Übernatürliche, das hier irgendwo verborgen war, konnte ich nur schwach wie ein Hintergrundrauschen spüren. Ständig präsent, aber verborgen und weiter entfernt. Vorsichtig drang ich tiefer in die Wildnis ein. Auf der anderen Seite des Zauns hatte es Wege, Hinweisschilder und Bänke gegeben, die zum Ausruhen einluden. Hier war alles wild und wuchernd, fast wie in einem tropischen Dschungel. Aber schließlich, nach einigem Umherirren, entdeckte ich eine Art Wildwechsel, einen nur mühsam auszumachenden Weg durch das Dickicht, auf dem ich jetzt einigermaßen gut vorankam. Immer wieder führte der natürliche Pfad um umgestürzte, moosbewachsene Bäume herum, die wie von Riesenhand gefällt am Boden lagen und scheinbar sofort von anderen Pflanzen überwuchert und vereinnahmt wurden.
Plötzlich raschelte etwas unter mir, und ich spürte eine Berührung. Entsetzt sprang ich zur Seite. Ameisen! Tausende von Ameisen. Ich war in eine ihrer Straßen getreten, und die großen Soldatinnen gingen sofort zum Angriff über, kniffen mit ihren Zangen zu und versprühten ihre Säure. Schaudernd wischte ich die kleinen Ungeheuer von meinem Bein und ging weiter.
Die Sonne war jetzt beinahe ganz untergegangen, und nur noch wenig Licht drang zwischen den dichten Baumwipfeln hindurch. Menschliche Augen hätten nur noch mit Mühe etwas erkennen können. Ich schlug mich eine ganze Weile weiter durchs Unterholz, als der Wald sich langsam lichtete. Links und rechts von mir konnte ich die Reste uralter, zerfallener Mauern erkennen.
Mittlerweile war es Nacht geworden, und nur noch das Licht des Mondes tauchte die Landschaft um mich herum in sein kaltes Licht. Die Bäume wirkten wie erstarrte Ungeheuer, die mich aus toten Augen ansahen. Normalerweise fühlte ich mich in der Dunkelheit wohl. Aber heute war es anders. Ich spürte deutlich, dass irgend etwas Übernatürliches in der Nähe war. Mein Herz raste.
Weiter vorn ragten die Reste eines alten Turmes in den Himmel.
Plötzlich knackte ein Ast hinter mir. Ich fuhr herum und sah gerade noch, wie eine Gestalt im Dickicht verschwand. Ein gespenstisches, gutturales Lachen war zu hören. Auf einmal war um mich herum alles in Bewegung. Schatten tauchten auf, verschwanden wieder, und ein unheimliches Wispern erfüllte die Luft. Ich stand bewegungslos da. Wie betäubt, unfähig zu reagieren. Was geschah hier?
»Ludmilla!« hörte ich plötzlich jemanden rufen. Und wieder: »Ludmilla!«
Lockende Stimmen von irgendwo aus der Dunkelheit. Dann ein leises Kichern. Plötzlich war alles still. Nichts bewegte sich mehr.
Ich wusste sofort, dass die verborgenen Gestalten übernatürliche Wesen waren. Kein Mensch hätte sich mir auf diese Weise entziehen können. Aber warum zeigten sie sich nicht? Warum sprachen sie nicht mit mir?
Ich irrte weiter, durchbrach eine dichte Hecke – und stand plötzlich auf einer Lichtung.
Und dann sah ich sie!
Sie standen etwa zehn Meter von mir entfernt in einer Reihe. Bewegungslose Gestalten. In schwarze, lange Gewänder gekleidet. Etwa zwanzig an der Zahl. Dann erfüllte ein sonderbares Sirren die Luft, und wie von Geisterhand materialisierte sich plötzlich eine weitere Gestalt direkt vor den anderen.
Sie war groß, schlank und hob wie zum Gruß den Arm.
»So hast du uns also gefunden, Ludmilla«, sagte sie mit dunkler Stimme.
Ich erschauerte. Angst kroch in mir empor. Ich kannte diese Stimme! Ich hatte sie gehört, als ich aufhörte, ein Mensch zu sein.
Sie war es, meine Erschafferin. Die große Frau mit dem unheimlichen, weißen Gesicht.
»Komm näher, mein Kind«, sagte sie und streckte mir die Arme entgegen.
Ich ging wie hypnotisiert auf sie zu.
»Du musst das kleine Versteckspiel von eben entschuldigen. Die anderen spielen gern ein wenig mit den Neuen, die noch nichts wissen. Das war schon immer so.«
Schließlich stand ich dicht vor ihr. Sie blickte mich mit ihren nichtmenschlichen Augen an und strich mir mit einer sanften Geste über das Gesicht. Ich spürte wieder die ungeheure Kälte, die von ihr ausging. »Du hast dich gut geschlagen, Ludmilla. Besser als die meisten. Du bist jetzt schon stark, obwohl du so wenig weißt.«
Sie wandte sich an die anderen Vampire. »Begrüßt eure Schwester, und dann lasst uns hinuntergehen.«
Jetzt traten die anderen hervor. Zuerst eine mittelgroße, schlanke Gestalt. Sie schlug ihre Kapuze zurück, und mich traf fast der Schlag.
»Pia!« rief ich.
»Ludmilla.«
Sie umarmte mich.
»Sei nicht böse. Ich durfte dir nichts sagen. Endlich weißt du Bescheid.«
Ich konnte nichts sagen und erwiderte ihre Umarmung. Jetzt kamen auch die anderen auf mich zu. Sie begrüßten mich. Herzlich, mit freundlichen Gesten, Berührungen und tröstenden Worten. Es waren ausnahmslos Frauen. Genau wie es die Legende von den »Dunklen Schwestern« besagte.
»Willkommen«, sagte eine.
»Ich freue mich, dass du da bist!« rief eine andere.
»Jetzt gehörst du zu uns!« begrüßte mich eine Dritte und legte ihren Arm um mich.
Ich empfand eine ungeheure Euphorie. Es war wie das Gefühl, nach einer langen, anstrengenden Reise nach Hause zu kommen und von der ganzen Familie empfangen zu werden. Ich erwiderte die Umarmungen, murmelte »danke«, wiederholte andachtsvoll die Namen, die sie mir nannten, und war glücklich.
Dann klatschte die große Frau in die Hände. »Genug jetzt!«
Die anderen zogen sich zurück. Pia nahm meine Hand und zog mich hinter den anderen her, die auf einen Hügel am Rande der Lichtung zugingen. Er war dicht mit Dornenbüschen bewachsen. Doch die große Frau griff einfach mitten in die Dornen hinein, zog an etwas, und lautlos glitt eine getarnte Tür zur Seite und gab den Blick in das Innere des Hügels frei. Im Licht von Fackeln, die an den Wänden hingen, sah ich einen gemauerten Gang, der in einem steilen Winkel nach unten führte. Wir schritten ohne ein Wort hinab. Mir fiel auf, dass alle ungeheuer leise, fast lautlos gingen, und ich versuchte, es ihnen gleichzutun. Erstaunlicherweise gelang es mir sofort. Pia hielt noch immer meine Hand. Ich war ihr dankbar. Diese Geste tröstete mich. Denn trotz aller Freude, endlich meinesgleichen gefunden zu haben, war ich verwirrt und ängstlich. Was sollte jetzt mit mir geschehen?
Wir gingen schweigend weiter. Die Mauern links und rechts waren geschmückt mit Gemälden aus allen möglichen Epochen, vor allem aber Klassiker. Ab und zu sah ich Türen, die jedoch alle geschlossen waren. Die Halter der Fackeln an den Wänden schimmerten golden. Der Fußboden war mit Terracotta-Fliesen bedeckt.
Schließlich machte der Gang eine scharfe Rechtskurve und gab den Blick auf ein Gewölbe frei. Es war der Raum aus meinen Träumen. In der Mitte stand, vom Licht der Fackeln beleuchtet, der große, steinerne Tisch. Die hochgewachsene Frau setzte sich ans Kopfende, und zwei der anderen Vampire begleiteten sie und platzierten sich jeweils links und rechts von ihr. Die anderen blieben im Hintergrund, darunter auch Pia.
»Setz dich da ans Ende des Tisches, Ludmilla«, sagte die Frau.
Wortlos nahm ich den angewiesenen Platz ein.
»Ich bin Var«, stellte sie sich vor. »Ich leite diesen Orden. Seit vierhundert Jahren.«
Sie sah mich an und ließ ihre Worte auf mich wirken. Vierhundert Jahre. Würde auch ich so lange leben?
»Neben mir sitzen Solveigh und Dinah. Mit ihnen berate ich mich. Die anderen sind Novizinnen. Auch du gehörst jetzt dazu.«
Ich wollte etwas sagen, doch Var hob die Hand, und ich schwieg. Die Autorität, die von dieser Frau ausging, war fast mit den Händen zu greifen.
»Ich weiß«, sagte sie. »Du hast viele Fragen. Aber lass mich dir zuvor einiges erklären, dann wirst du vieles besser verstehen.«
Sie hielt kurz inne und sah mich an. In ihren Augen konnte ich den Tod sehen.
»Du weißt«, fuhr sie fort, »wer wir sind. Wie ich von Pia hörte, hast du Bücher gelesen und kennst die Legenden. Nicht alles, was geschrieben steht, stimmt. Aber das meiste ist die Wahrheit, auch wenn sie für die Menschen heute unglaublich klingt. Aber glaub mir, Ludmilla. Es hat eine Zeit gegeben, da war die Existenz von Vampiren für die Menschen selbstverständlich. Es war keine gute Zeit für uns. Denn sie taten alles, um uns zu vernichten. Und beinahe wäre es ihnen auch gelungen. Wenn wir nicht gehandelt hätten.«
Var schwieg. Sie schloss ihre Augen und schien in die ferne Vergangenheit hinabzutauchen, die sie eben in ihren Worten beschworen hatte.
Ich beobachtete die anderen. Sie saßen reglos da und starrten ihre Oberin an. Niemand sagte etwas.
Dann öffnete Var ihre Augen, lächelte und entblößte eine Reihe spitzer, scharfer Zähne.
»Du fragst dich sicher, mein Kind, was dieses seltsame Versteckspiel sollte, warum wir dich nicht gleich eingeweiht und in unsere Reihen aufgenommen haben? Nun, die Antwort ist einfach. Auch wir, Ludmilla, haben Gesetze. Und das aus gutem Grund. Und eines dieser Gesetze besagt, dass nur die Oberin jedes Ordens neue Vampire erschaffen kann. Und dann, nach ihrer Geburt, müssen die Jungen mindestens ein Jahr sich selbst überlassen bleiben. Ahnungslos, ohne Hilfe. Sie müssen selbst erkennen, was sie sind, sich damit abfinden und zeigen, ob sie sich tarnen und überleben können. Ob sie würdig sind, Vampire zu sein. So will es das Gesetz, das die alten Schwestern einst verabschiedet haben. Natürlich werden die Neuen von uns beobachtet. Auch du bist beschattet worden, Ludmilla. Wer innerhalb dieser Probezeit versagt, wer verrückt wird, wer dem Blutrausch erliegt, sich Menschen offenbart und eine Gefahr für uns darstellen könnte – wird beseitigt. Ausnahmslos. So will es das Gesetz. Du hast deine Probezeit bestanden, Ludmilla. Du hast dich getarnt, du warst vorsichtig und geschickt. Pia, die dich beobachtet hat, wusste nur Gutes über dich zu berichten. Wir hätten dich bald besucht, mein Kind. Aber nun hast du uns sogar selbst gefunden.«
Sie machte eine Pause und sah mich lange wortlos an.
»Aber es war doch Zufall, dass ich damals als Mensch auf dich traf.«
»Nichts, Ludmilla, war Zufall«, unterbrach sie mich. »Erinnerst du dich denn nicht?«
Sie stand auf, schritt auf mich zu und legte ihre kalte Hand mit den langen Fingernägeln auf meinen Kopf. Mir wurde schwarz vor Augen.
Und dann kehrte die Erinnerung zurück.
Die Gestalt stand draußen im Garten. Bewegungslos. Groß und hager. Es war tiefe Nacht. Ein seltsames Leuchten, das aus dem Innern der Gestalt zu kriechen schien, warf ein weißliches, trübes Licht auf ihr Gesicht. Trotzdem konnte ich es nicht genau erkennen. Ich saß in meinem rosafarbenen Nachthemd auf der Fensterbank und starrte nach draußen. Ich war acht Jahre alt. Plötzlich hob die Gestalt wie zum Abschied den Arm und war verschwunden. Genau in dem Moment, als meine Mutter das Zimmer betrat. »Aber Ludmilla, was machst du denn um diese Zeit am Fenster. Ab ins Bett mit dir.«
Sie nahm mich auf den Arm und strich mir zärtlich übers Gesicht. »Sie sind wieder da gewesen«, antwortete ich. »Eine von ihnen war im Garten.«
»Ach, du wieder mit deinen Geschichten. Siehst immer Gestalten. Kind, da ist niemand. Du brauchst keine Angst zu haben.«
»Ich habe keine Angst vor ihnen, Mama. Nicht mehr. Sie werden mir nichts tun. Das weiß ich jetzt.«
Meine Mutter schüttelte nur den Kopf und steckte mich zurück ins Bett.
»Du kleines, seltsames Kind«, sagte sie, gab mir einen Kuss und ging aus dem Zimmer.
Am nächsten Morgen konnte ich mich an nichts mehr erinnern.
Var nahm die Hand von meinem Kopf.
Ich blickte sie ungläubig an.
»Ja, Ludmilla«, sagte sie. »Wir haben viel Zeit, sehr viel
Zeit. Manchmal suchen wir uns schon sehr früh unsere Novizinnen aus und warten dann, bis die Zeit reif ist. Aber das Gesetz verlangt es, dass sie nichts wissen. Ich habe dich erwählt, als du noch ein Kind warst, Ludmilla. Und dann, als wir eine Schwester verloren hatten, war deine Zeit gekommen.«
Die anderen Vampire wurden unruhig.
Var sah zu ihnen hinüber und murmelte: »Ja, zwanzig. Es müssen zwanzig sein.«
»Ihr habt jemanden verloren?« fragte ich.
»Ja, Victoria«, antwortete Var. »Sie starb bei einem Feuer in der Stadt. Vor über einem Jahr. Sie war… unvorsichtig. Sehr unvorsichtig. Aber genug davon.«
Sie schwieg.
»Darf ich jetzt Fragen stellen?«
Meine Stimme klang erbärmlich.
Var nickte.
»Warum ich?«
Sie lachte, und es hallte schauerlich von den Wänden zurück.
»Man sieht es, Ludmilla. Wenn man so alt ist wie ich, erkennt man es. Als ich dich auf meinen ruhelosen Wanderungen durch die Städte mit deinen Eltern in einem Park sah, war es, als ob du vor Energie und Kraft leuchten würdest. Ich wusste sofort, dass du es schaffen könntest, eine von uns zu sein. Es gibt nicht viele, und ich irre mich nur selten. Ich habe dich beobachtet und war mir schließlich sicher.«
Ich dachte über ihre Worte nach und schauderte. Schon als Kind hatte sich also mein Schicksal entschieden.
»Warum gibt es keine Männer unter euch?« fragte ich schließlich, um das Thema zu wechseln.
»Männer!« Vars Stimme klang verächtlich. Ihre Augen wurden hart.
»Seit Jahrtausenden gibt es uns. Der Ursprung unserer Art liegt im dunkel der Zeit verborgen. Anfangs existierten wir nur in dem Teil der Welt, wo später die Pyramiden erbaut wurden. Wir haben stets im verborgenen gelebt. Frauen und Männer. Die Menschen ahnten, dass es uns gibt, oder wussten von unserer Existenz. Aber durch geschickte Tarnung konnten wir unter ihnen existieren und uns von ihnen ernähren. Und letztendlich war so alles im Gleichgewicht. Wie überall in der Natur, wo der Jäger und der Gejagte seinen Platz im Gefüge des Ganzen hat.
So ging es viele Jahre lang. Aber dann, in einer wirren Zeit, lange vor dem Beginn eurer Zeitrechnung, wollte eine Gruppe männlicher Vampire nicht länger im verborgenen leben. ›Wir sind stark, stärker als sie. Bekämpft und unterdrückt die Menschen‹, riefen sie, und nach und nach schlossen sich alle anderen männlichen Vampire ihnen an. Und sie wüteten schrecklich unter den Menschen. Sie fielen über ihre Siedlungen her und töteten wahllos. Nicht nur, um zu trinken, sondern aus Freude an der Vernichtung. Und vor allem: Sie erschufen immer neue Vampire. Damals kannte noch jeder Vampir das uralte Ritual.
Niemand weiß genau warum, aber die Frauen unter uns beteiligten sich nicht an diesem Wahnsinn. Sie warnten und verwiesen auf die Regeln der Alten, die uns stets auferlegt hatten, uns verborgen zu halten und unsere Zahl nicht zu stark anwachsen zu lassen. ›Haltet das Gleichgewicht‹ war eines der obersten Gesetze. Aber die männlichen Vampire waren nicht mehr zu stoppen. Sie wollten die Menschen wie Schlachtvieh halten und die offene Herrschaft über die Welt übernehmen. Doch sie hatten die Menschen unterschätzt.
Als deren Wut größer als ihre Furcht geworden war, taten sie sich zusammen und kämpften. Sie verglichen ihr Wissen über uns und entdeckten unsere Schwächen. Unsere Trägheit bei Tag und unsere Achillesferse: das Herz. Ja, Ludmilla, der Mythos des Vampirjägers, der dem untoten Blutsauger einen Pfahl durchs Herz rammt, geht auf einen wahren Ursprung zurück. Außer durch Feuer kannst du einen Vampir nur vernichten, indem du den Blutmuskel – das Herz – zerstörst. Und als die Menschen wussten, wie sie uns zerstören konnten, war es nur noch eine Frage der Zeit. Sie waren uns zahlenmäßig immer noch weit überlegen und töteten jeden Vampir, den sie finden konnten. Wir nahmen Tausende von ihnen mit in den Tod, aber schließlich endete diese Schlacht in grauer Vorzeit mit der Vernichtung fast aller Vampire. Natürlich schonten die Menschen auch die Frauen unter uns nicht. Nur einige wenige überlebten. Verborgen in Erdhöhlen, Wäldern und unwegsamen, einsamen Gegenden. Fast nur Frauen. Sie ernährten sich von Tierblut und wurden krank davon. Doch sie schafften es, und die Zeit half ihnen.
Die Menschen, die die Schlachten erlebt hatten, starben nach und nach. Unsere vampirischen Vorfahrinnen perfektionierten die Kunst der Tarnung und blieben Jahrhunderte im verborgenen. Wenn Menschen getötet wurden, dann nur in einsamen Gegenden und ohne Spuren zu hinterlassen. Es gab damals noch keine Schrift, nur mündliche Überlieferungen, und schließlich verblasste die Erinnerung an uns und wurde zum Mythos.
Aber die Vampire hatten aus ihrer vernichtenden Niederlage gelernt. Schon kurz nach dem Ende des Krieges gegen die Menschen erließ die Gemeinschaft der Überlebenden neue, unumstößliche Gesetze. Die Hybris der Männer hatte uns ins Unglück gestürzt. Ihre Blutgier und ihr Machthunger. Die Frauen, verbittert durch ihre unwürdige Existenz, taten sich zusammen, fassten einen Beschluss und töteten die wenigen männlichen Vampire, die noch übrig waren. Und fortan galt das strengste und oberste aller Gebote, auf dessen Missachtung bis heute der Tod steht: Für alle Zeiten darf niemand mehr einen männlichen Vampir erschaffen. Dann beschlossen die Überlebenden, das Ritual, das neues, untotes Leben schafft, zum Tabu zu machen. In ferner Zukunft sollten nur noch ausgewählte Führerinnen wissen, wie und an welchen magischen Orten man unseresgleichen zeugt. Und so geschah es. Wir verteilten uns in kleinen Gruppen über die ganze Welt und gingen im wachsenden Heer der Menschen auf. ›Die Dunklen Schwestern‹ waren geboren worden. Einen dieser geheimen Orden siehst du jetzt vor dir, Ludmilla.«
»Bist du so alt?« fragte ich ungläubig.
»Nein, mein Kind«, sagte Var. »Wir werden sehr alt, aber niemand von uns ist unsterblich. Irgendwann, nach vielen hundert Jahren, kommt das Ende. Dann suchen die Alten den Tod, trinken nicht mehr, gehen ins Feuer oder zerstören ihr Herz. Irgendwann kommt für jede die Stunde. Manche sterben auch durch Unfälle oder eigene Schuld. Und die Lücke, die dann entsteht, schließen neue Vampire, die sorgfältig ausgewählt werden. Wir folgen damit nur dem ältesten Muster dieser Welt, Ludmilla. Wir erhalten unsere Art.«
»Wie viele von uns gibt es?« fragte ich.
»In diesem Kulturkreis besteht jeder Orden aus zwanzig Mitgliedern und einer Oberin. Diese Zahl hat sich bewährt. Die Opfer unter den Menschen sind begrenzt, und wir fallen nicht auf. Jeder Orden beherrscht ein großes Gebiet. Der nächste existiert Hunderte von Kilometern entfernt.«
Sie hielt inne.
»Aber genug jetzt. Mehr brauchst du zur Zeit nicht zu wissen. In den nächsten Monaten wirst du lernen, eine echte Vampirin zu werden. Du bist stark, aber du kennst nur einen Bruchteil deiner Fähigkeiten. Du mußt zum Beispiel lernen, wie man richtig jagt, ohne Spuren zu hinterlassen. Du musst lernen, gedankliche Impulse an deine Schwestern zu senden. Deine Sinne werden geschärft werden und somit deine Macht vergrößert. Du wirst regelmäßig hierherkommen und unterrichtet werden.«
Ich nickte einfach nur stumm mit dem Kopf und versuchte, all das Gesagte zu verarbeiten.
»Ich erwarte dich und die anderen wieder hier in einem Monat«, fuhr Var fort. »Du wirst lernen, welchen Platz du hier im Orden hast. Pia wird sich in der Zwischenzeit um dich kümmern und dich die ersten, elementaren Regeln lehren.«
Dann war sie verschwunden. Von einer Sekunde zur anderen.