16 - DAS PENTHOUSE

Als ich den Club am frühen Morgen schließlich erreichte, war ich zu Tode erschöpft. Die gewaltigen Anstrengungen und meine Verletzungen hatten meine Kraftreserven fast gänzlich aufgebraucht. Schwankend stand ich vor der Hintertür, öffnete sie mit meinem Schlüssel und schleppte mich hinein. Drinnen im Club herrschte Ruhe und völlige Dunkelheit. Grant hatte den Laden für ein paar Tage geschlossen.

Doch gerade als ich die Treppe hochgehen wollte, ging plötzlich im Flur das Licht an. Ich fuhr herum und hob schützend meinen Arm gegen das grelle Licht. Vor mir stand Grant. Er wollte etwas sagen, aber das Entsetzen über mein Aussehen ließ ihn auf der Stelle verstummen. In einem der Spiegel auf dem Flur konnte ich mich selbst sehen. Der größte Teil meines Körpers war mit Blut bespritzt, meine Kleidung schmutzig und zerrissen. Meine Augen glommen wie glühende Kohlen. In meiner Schulter klaffte ein Loch, und mein Knie sah aus, als ob mir jemand eine Axt hineingerammt hätte. Wortlos kam Grant näher und blieb dicht vor mir stehen.

»Ludmilla«, sagte er schließlich mit leiser Stimme. »Mein Gott, Ludmilla.«

»Ich habe sie büßen lassen, Grant«, keuchte ich. »Uns tut niemand mehr etwas.«

»Du brauchst einen Arzt«, sagte er, hob eine Hand und strich mir zärtlich das blutige Haar aus dem Gesicht.

»Kein Arzt, Grant. Du weißt, dass ich keinen brauche.«

Ich sah ihn an und wusste, dass er verstanden hatte.

»Wer bist du, Ludmilla?«

»Deine Freundin, Grant. Frag nicht weiter.«

Er schwieg. Seine Hände zitterten.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte ich schließlich. »Wenn du mich lässt, werde ich weiter im Club arbeiten. Aber ich glaube, es ist besser, wenn ich woanders wohne und mich eine Zeitlang zurückziehe. Wirst du mir helfen, eine Wohnung zu finden?«

»Natürlich. Du kannst jederzeit wiederkommen.«

Er stockte. »Und Serge? Ist er…«

»Ja, er ist tot, Grant. Und ein paar seiner Leute ebenfalls. Und hab keine Angst. Sie werden nicht wiederkommen. Dafür habe ich gesorgt.«

Dann drehte ich mich um und hinkte die Treppe hinauf. Grant blieb unten stehen und starrte mir nach.

Als ich mein Zimmer erreicht hatte, warf ich mich, so wie ich war, auf mein Bett und schlief sofort ein.

Ich träumte.

Von seltsamen Wesen, die mit ledrigen Schwingen und glühenden Augen durch die Nacht flogen. Von großen, schlanken Gestalten, die in schwarzen Gewändern wie Schatten in unterirdischen Gängen hin- und hereilten. Ich sah wieder den von Fackeln beleuchteten Raum mit dem großen, runden Tisch. Und am Kopfende thronte sie: die blasse Frau mit dem unheimlichen Gesicht. Sie sah mich an und nickte mit dem Kopf – als ob sie mich für etwas loben wollte. Dann warf sie den Kopf in den Nacken und lachte. Es klang wie das Brüllen eines Raubtieres.

Ich erwachte, als die Sonne bereits wieder unterging. Die Schmerzen und das Schwächegefühl waren verschwunden. Der Heilungsprozess meiner Wunden war weit vorangeschritten. Das Loch in meiner Schulter hatte sich geschlossen, und auch mein Bein war, bis auf eine verschorfte Wunde, wieder völlig hergestellt.

Ich nahm eine heiße Dusche, zog mich um und ging hinunter in den Club. Schon auf der Treppe dröhnten mir die Geräusche der Handwerker entgegen. Schon bald würde nichts mehr an den heimtückischen Anschlag erinnern. Ich stand etwas unentschlossen herum und sah mich nach Grant um.

»Na, schon wach?« Carl löste sich aus einer Ecke und kam mir langsam entgegen. »Schön, dass du dich auch mal wieder blicken lässt. Es gibt genug zu tun hier. Wir wollen morgen wieder öffnen. Du könntest…«

Ich ließ ihn stehen und ging in Grants Büro. Er saß an seinem Schreibtisch, blickte auf und sah kopfschüttelnd zu, wie ich ohne zu hinken zu einem der Stühle ging.

»Wenn ich dich nicht heute Nacht mit eigenen Augen gesehen hätte, dann…«

»Lassen wir das, Grant. Mir geht es wieder besser, und das ist doch wohl die Hauptsache, oder?«

Ich lächelte ihn sanft an.

Er nickte und sagte: »Das ganze Viertel redet über Serges’ Ende. Es heißt, er habe sich mit einem mächtigen Clan von außerhalb angelegt. Und es heißt auch, dass mein Club unter dem besonderen Schutz dieses Clans steht. Am meisten hat die Leute geschockt, wie er gestorben ist. Ich denke, du kennst die Details? Serge am Kronleuchter – ausgeblutet wie Schlachtvieh. Und dann die beiden zerstückelten Männer vor der Mauer?«

»Bedauerst du diese Leute? Muss ich dich an Matti, Linda und die anderen erinnern?«

»Nein, das musst du nicht. Ich will auch nicht wissen, wer dir geholfen hat. Aber lassen wir das. Ich habe einen Freund angerufen. Er ist Makler und hat mir sofort eine Penthouse-Wohnung in der Nähe angeboten. Wenn du willst, können wir sofort hinfahren, ich habe bereits die Schlüssel.«

»Gut, lass uns gehen.«

Wir fuhren gemeinsam in seinem Auto. Ich spürte seine Befangenheit, aber er gab sich Mühe, sich nichts anmerken zu lassen.

Die Wohnung gefiel mir auf Anhieb gut. Sie lag am Rande des Viertels, und ich konnte von den großen Fenstern aus hinab auf die Stadt und den großen Park in der Nähe sehen. Sie war dezent und stilvoll möbliert.

»Wenn du willst, kannst du sie natürlich selber einrichten. Die Möbel stammen noch vom Vormieter, der ziemlich plötzlich außer Landes musste.«

»Nein, nein«, beeilte ich mich zu sagen. »Sie ist wunderschön. Es kann alles so bleiben. Ich würde sie gern nehmen, Grant. Was soll sie kosten?«

»Die Miete übernehme ich, Ludmilla.«

Er hob die Hand. »Und darüber möchte ich nicht diskutieren. Das ist sozusagen eine dienstliche Anweisung, die du als meine Angestellte zu akzeptieren hast.«

Ich lachte und ließ mich in einen Sessel fallen. »Danke, Chef.«

Grant legte die Schlüssel auf den Tisch. »Soll ich dir deine Sachen bringen lassen?«

»Nein, ich komme noch mal mit in den Club und hole sie selber.«

Ich wollte nicht, dass irgend jemand meine kleine vampirische Bibliothek sah. Als ich ein paar Stunden später mit drei vollgepackten Taschen aus einem Taxi stieg, die Treppen hinaufeilte und schließlich meine Wohnungstür aufschloss, fühlte ich mich sofort wie zu Hause. Es war wirklich an der Zeit gewesen, ein eigenes Nest zu finden. Ich durchstöberte die Wohnung, bezog das Bett, ließ mich darauf fallen und schaltete den Fernseher ein. Nach ein paar Minuten gab es Nachrichten. Sie berichteten von Serges mysteriösem Tod. Ein Reporter stand vor dessen Haus: »Die Polizei geht davon aus, dass eine Gruppe paramilitärisch gedrillter Gangster das Domizil der bekannten Unterweltgröße gestürmt hat und den Hausherrn und vier seiner Männer tötete. Offensichtlich handelte es sich um eine Auseinandersetzung innerhalb der Rotlichtszene.«

Anschließend wurde über die immer noch ungeklärte Mordserie in der Stadt berichtet. Kommissar Goldstein war kurz zu sehen und äußerte die üblichen Worthülsen. Er sah nicht besonders glücklich dabei aus. Als ich sein Gesicht auf dem Bildschirm sah, spürte ich wieder dieses sonderbare Verlangen nach diesem Mann. Was für eine absurde Situation! Da saß ich wie ein verknallter Backfisch in meiner schicken, neuen Wohnung und himmelte den Fernseher an. Und dabei war ich die Ursache für die blutleeren Leichen, von denen der Sprecher jetzt gerade mit unheilschwangerer Stimme sprach.

Ich schaltete den Fernseher ab und lief unruhig hin und her. Einerseits stieß mich das eben Gesehene ab. Andererseits empfand ich keine Schuld. Ich musste töten, um zu leben. Ich hatte keine andere Wahl. Der Hunger kam zwar in immer größeren Abständen. Aber dann um so mächtiger und fordernder. Ich konnte ihn einfach nicht bezwingen. Und ich konnte meine Opfer nicht am Leben lassen. Wenn ich zubiss, lief alles nach einem zwanghaften Muster ab. Ich folgte dann willenlos einem uralten Instinkt, der mich zwang, meine Opfer zu töten. Und selbst wenn ich sie leben lassen könnte: sie würden reden, und schon bald hätte die Polizei meine detaillierte Beschreibung, und ich würde mich in Kürze als übernatürliche Laborratte in irgendeinem geheimen Labor wiederfinden. Nein, die Jagd musste weitergehen. Ob ich es nun wollte oder nicht.

Ich ging ins Bad, zog mich aus und betrachtete meinen Körper. Abgesehen von den verheilenden Wunden war er makellos. Schlank, aber kraftvoll, sehnig und strotzend vor Energie. Wie der Körper einer Spitzensportlerin. Etwas blass, aber im Grunde nicht bleicher als jeder, der nachts arbeitete und tagsüber schlief. Ich gefiel mir in diesem Körper. Ich war stark und mächtig. Das hatte ich bewiesen, als ich meine Freunde gerächt hatte. Auch meine geistigen Kräfte wuchsen. Im Gegensatz zu früher wusste ich als Vampir immer genau, was ich wollte – auch wenn diese Selbstsicherheit ihren Preis hatte. Mit jedem Tag verlor ich mehr von meiner menschlichen Natur und wurde zu einem Wesen der Nacht. Nicht durch und durch schlecht, aber beherrscht von einer archaischen, bösen Kraft, die mich zwang, Menschen zu jagen.

Doch hinter diesem neuen Gefühl der inneren Stärke lag noch etwas anderes verborgen. Ich wollte es verdrängen, aber das war sinnlos. Es war immer da, mal stärker, mal schwächer: das Gefühl von Einsamkeit, von endloser Verlorenheit im Meer der Zeit. Meine bisherige Zeit in »Grants Club« war nur eine Verschnaufpause gewesen. Wie sollte es jetzt weitergehen? Ich gehörte nirgendwo hin und wusste nicht, was werden sollte. Grant spürte, dass ich nicht menschlich war. Carl hasste mich. Matti war tot und Linda schwer verletzt. Und die Leute redeten. Irgend etwas Unheimliches, das wussten sie – hatte sich in Serges Haus zugetragen. Und es war vielleicht nur noch eine Frage der Zeit, bis sie mich damit in Verbindung brachten. Konnte ich weiter als Vampir auf Jagd gehen und gleichzeitig meine bürgerliche Existenz als Angestellte in »Grants Club« aufrechterhalten?

Ich beschloss, mich eine Zeitlang sehr still zu verhalten, mir meine Opfer in weiter Entfernung zu suchen und meine Nachforschungen über die Geschichte der Vampire wiederaufzunehmen.

Mein Besuch bei Professor Barker war überfällig.