6 - DIE STADT

Nur eine Stunde später saß ich allein in einem dunklen Zugabteil und entfernte mich mit jeder Sekunde weiter von meiner alten menschlichen Existenz. Es schmerzte mich, dass ich von niemandem hatte Abschied nehmen können. Jetzt würden meine Eltern und meine Freunde mit dem Gedanken leben müssen, ich sei womöglich umgebracht und irgendwo verscharrt worden. »Immer noch besser als die Wahrheit«, dachte ich. Aber trotz meiner melancholischen Gedanken fühlte ich eine seltsame Ruhe, die sich nach und nach in mir aufbaute. Es war, als ob ich mich wie eine Schlange gehäutet hätte und nun frisch und jungfräulich auf das Neue, Ungewisse zuging.

Dann, nach einem kurzen Zwischenhalt, wurde auf einmal die Tür aufgerissen. Eine Gruppe junger Leute stand auf dem Gang. Angetrunken, fröhlich und nicht besonders rücksichtsvoll. Ein junges Mädchen hielt die Tür auf und rief: »Hier ist alles frei, Leute.«

Schon waren sie drin und ließen sich kichernd auf die Sitze fallen. Sie blickten mich frech und provozierend an. Ihre Botschaft war klar. Wir sind jung, du bist jung – stell dich bloß nicht so an. Für einen kurzen Moment fühlte ich Sympathie. Sie erinnerten mich an meine Zeit mit Rebecca und den anderen. Wir hatten uns auf unseren Reisen genauso benommen. Doch ich gehörte nicht mehr dazu. Noch vor ein paar Tagen war ich wie sie. Jetzt trennten mich Jahrhunderte von ihnen.

Ich sagte nichts.

»Was ist denn mit der los?« fragte einer der jungen Männer und stieß einem der Mädchen mit dem Ellenbogen in die Seite.

»Sag der mal von Frau zu Frau, dass wir in Ordnung sind.«

Ich schwieg weiter. Langsam wurde ich ärgerlich. Statt mich einfach in Ruhe zu lassen, zwangen sie mich, irgendwann auf ihr albernes Getue zu reagieren. Ich spürte kurz, aber heftig das Bedürfnis, sie alle auf der Stelle umzubringen. Plötzlich sah ich das Abteil vor meinem inneren Auge – blutbespritzt, voller Leichen in grotesken Haltungen auf dem Boden. Meine Zunge fuhr kurz über einen meiner Reißzähne. Wieder einmal empfand ich meine ungeheure Macht und erschauerte. Doch statt sie zu töten, fixierte ich wortlos einen nach dem anderen. Jeder wich meinem Blick aus. Die Unterhaltung erstarb.

»Ich fühl mich nicht gut«, sagte plötzlich eines der Mädchen.

»Ich geh lieber mal kurz raus.« Ein Junge, offensichtlich ihr Freund, ging sofort hinterher. Das war das Zeichen für die anderen. Mit bleichen Gesichtern und ängstlichen Blicken in meine Richtung verließ einer nach dem anderen das Abteil. Ich hatte sie vertrieben, ohne auch nur einen Arm zu heben oder etwas zu sagen. Eine weitere meiner übernatürlichen Fähigkeiten – ich konnte offenbar eine negative Aura um mich herum erzeugen, die Menschen in Unruhe und Angst versetzte.

Nachdem die Gruppe der Jugendlichen sich schließlich irgendwo ein anderes Abteil gesucht hatte, kehrte wieder Ruhe ein. Nur das gleichmäßige Rattern der Räder war zu hören. Ich beruhigte mich und konzentrierte mich auf die vor mir liegenden Probleme. Wo sollte ich hin, wenn ich die nächste Stadt erreicht hatte? Wann würde der Hunger wiederkommen? Hatte ich überhaupt eine Chance zu überleben? Und wenn ich genau das nicht wollte – wie könnte ich meinem unnatürlichen Leben ein Ende bereiten?

Die kreischenden Bremsen des Zuges rissen mich aus meinen Gedanken. Die Stadt – eine gigantische Metropole mit mehreren Millionen Einwohnern – war erreicht. »Zeit zum Aussteigen, Ludmilla«, sagte ich mir und schlich mich hinaus in den Gang. Es war früh am Morgen. Noch nicht hell, aber das diffuse Zwielicht des nahenden Tages zeichnete sich bereits am Horizont ab. Ich packte meinen Koffer und huschte hinaus auf den Bahnsteig.

Der Bahnhof hatte die Dimensionen eines Flughafens. Trotz der frühen Morgenstunden waren noch – oder bereits wieder – unzählige Menschen unterwegs. Mit gesenktem Kopf, meine Tasche dicht an den Körper gepresst, ging ich raschen Schrittes in Richtung Ausgang. Ich muste dringend einen ruhigen und dunklen Platz finden, um den Tag zu überstehen. Das Tageslicht brachte mich zwar weiterhin nicht um, war mir aber unangenehm und verunsicherte mich. Als ich das Gebäude verließ, fiel mein Blick sofort auf ein schäbiges kleines Hotel, gleich gegenüber. Wie erwartet, stellte der verschlafene Nachtportier keine Fragen und verlangte keinerlei Dokumente, als ich ihm irgend etwas von einem verpassten Zug erzählte und im voraus bar bezahlte. Ich bekam ein enges, dunkles Zimmer direkt unter dem Dach. Die Sonne kroch nun endgültig als roter Feuerball am Horizont hervor und tauchte das riesige Vergnügungsviertel rund um den Bahnhof in ein weiches, warmes Licht. Dennoch blinkten die Leuchtreklamen mit ihren großspurigen Anmach-Sprüchen trotzig in den nahenden Morgen hinein, weiterhin auf Kundenfang. Bevor ich mich schließlich auf das viel zu weiche Bett fallen ließ und in einen – diesmal traumlosen – Schlaf fiel, fühlte ich mich so einsam wie noch nie zuvor in meinem Leben.

Als der Tag sich neigte, packte ich meine Sachen und verließ das Hotel. Draußen dämmerte es bereits. Musik dröhnte aus den Bars, Sexshops und Spielhallen. Vierschrötige Männer standen vor irgendwelchen Etablissements und versuchten, die vorwiegend männlichen Kunden zum Eintritt zu bewegen. Ihre Wortwahl war drastisch.

»Hier drinnen wird gefickt!« rief einer und hielt einen jungen Soldaten am Arm fest. »Kannst auch mitmachen.« Der Soldat lachte, besprach sich mit seinen Kameraden, und die Gruppe verschwand geschlossen hinter einem roten Vorhang. Ich konnte einen kurzen Blick auf eine Bühne werfen, auf der sich gerade eine Frau mit einer Kerze befriedigte. Die Soldaten johlten.

Meine Stimmung war auf dem Tiefpunkt. Ich hatte immer Spaß am Sex gehabt und glaubte, tolerant gewesen zu sein, aber das hier stieß mich in seiner kalten Brutalität nur ab. Doch je tiefer ich in das Gewirr von Gassen und Seitenstraßen eindrang, desto schlimmer und billiger wurde es. Die Prostituierten wurden älter und verbrauchter, die Freier unsauberer und betrunkener.

Ziellos rannte ich weiter. Trotz der Sonnenbrille, die ich trug, konnte ich all den Dreck um mich herum deutlich erkennen. Plötzlich registrierte ich eine Bewegung neben mir in einem Hauseingang. Ein großer Mann mit kahl geschorenem Kopf war blitzschnell auf den Gehweg gesprungen und stellte sich mir in den Weg. Er taxierte mich kurz und griff mir unvermittelt zwischen die Beine.

»Na, du süßes Ding. Willst du mal ’n richtig dicken Schwanz zwischen die Beine kriegen?«

Ich handelte, ohne nachzudenken. Meine linke Faust schoss hoch. Ich hörte ein trockenes Knacken, und der Mann brach wie vom Blitz gefällt zusammen. Blut rann aus seiner Nase und seinem Mund. Blut! Als ich es sah, traf mich der Hunger wie ein Schlag in die Magengrube. Er war diesmal plötzlich und ohne Vorwarnung gekommen. Ohne weiter darüber nachzudenken, dass ich mich mitten auf der Straße befand, zog ich den Bewusstlosen zu mir heran, öffnete meinen Mund und schlug meine Fangzähne in seine Kehle. Haut platzte auf, Knorpel brachen. Der Mann starb, ohne einen Laut von sich zu geben, in meinen Armen. Er gab mir sein Blut mit geradezu sinnlicher Bereitschaft. Wieder erschauerte ich unter der gewaltigen Lust des Augenblicks. Ich sah, spürte, roch und hörte alles noch deutlicher und exakter als vorher. Sanft ließ ich mein Opfer schließlich auf den Asphalt gleiten und spürte, wie sich die Kraft in mir weiter ausbreitete. Jeder Teil meines Körpers vibrierte vor Lust und purer Energie.

Ich weiß nicht, wie lange ich so dastand. Schließlich hörte ich Schritte. Passanten näherten sich.

»Ist etwas passiert?« fragte eine Stimme dicht hinter mir.

Ich fuhr zusammen und rannte mit klopfendem Herzen los. Die Geräusche um mich herum wurden auf einmal dumpf. Meine Haare flatterten in einem plötzlichen, scharfen Wind, und ich registrierte, dass ich mich, ohne es direkt zu wollen, wieder mit übernatürlicher Geschwindigkeit bewegte. In Sekunden war ich außer Gefahr.

Ich ging mit normaler Geschwindigkeit weiter. Langsam wich die durch das frische Blut hervorgerufene Euphorie. Und dann kamen die Gewissensbisse. Sicher, der Mann hatte mich angegriffen. Aber ich hatte ihn nicht nur getötet, sondern ihn wie ein Stück Vieh benutzt, um meinen Hunger zu stillen.

Schließlich stand ich weit vom Ort des grausigen Geschehens in einer dunklen Straßenecke und ekelte mich vor mir selbst. Hatte ich mich nicht eben noch vom derben Sex in diesem gigantischen Moloch abgestoßen gefühlt? Abgestoßen von all diesem triebhaften, groben, entmenschten Verhalten? Und ich? Ich war nicht besser als die Soldaten, Spießer, verstohlenen Ehemänner und anderen Freier, die sich hier schnelle Befriedigung holten. Ich war wie sie. Plötzlich ließ mich ein Geräusch aufschrecken. Ein leiser, erstickter Schrei, gefolgt von einem dumpfen Geräusch, als wäre jemand zu Boden gegangen. In meiner direkten Umgebung konnte ich nichts sehen. Vorsichtig bog ich um die nächste Straßenecke – und dann sah ich sie. Zwei Jugendliche in schwarzen Jacken, die auf einen wehrlosen, am Boden liegenden Mann einschlugen und -traten. Einer der beiden Schläger zückte gerade ein Messer. Ohne zu überlegen, rannte ich los, erreichte die beiden und rief: »Aufhören!«

Sie stutzten und blickten mich erstaunt an.

»Verpiss dich, Fotze«, sagte der eine, schüttelte verärgert den Kopf und setzte, ohne noch einmal aufzublicken, sein brutales Werk fort. Sie behandelten mich wie eine lästige Stubenfliege, deren Brummen sie kurz abgelenkt hatte. Das reichte.

Es geschah in Sekundenbruchteilen. Dem Ersten trat ich mit einem Fuß gegen den Kopf. Er stürzte ohnmächtig zu Boden. Ehe der andere auch nur reagieren konnte, versetzte ich ihm die härteste Ohrfeige seines Lebens. Er flog einen Meter, bevor er, ebenfalls ohne Bewusstsein, in den Rinnstein rollte. Ich stand in gebückter Haltung da. Lauernd. Aber keiner der beiden war noch in der Lage, irgendetwas zu tun.

Ich beugte mich über ihr Opfer. Es war ein Mann, Ende Fünfzig, teuer gekleidet, leicht übergewichtig, untersetzt und mit fast kahlem Kopf. Er kam langsam wieder zu sich. Offensichtlich hatte er Glück gehabt und schien nicht schwer verletzt zu sein. Ich half ihm auf. Erst jetzt registrierte er, was geschehen war.

»Verdammt«, murmelte er. »Ich dachte, die schlagen mich tot. Na, wenn Sie nicht zur Stelle gewesen wären, hätten sie’s wohl auch getan.«

Er sah mich an, lächelte und hielt mir die Hand hin.

»Ich bin Grant«, sagte er. »Ich denke, ich verdanke Ihnen mein Leben.«

»Ludmilla«, antwortete ich, schüttelte kurz seine Hand und schwieg. Ein dumpfes Gefühl, dass mir von diesem Mann keine Gefahr drohte, ließ mich abwarten. Grant blickte kopfschüttelnd auf die beiden Schläger, betastete seine aufgeplatzte Lippe und sagte: »Das sind Spikes, Mitglieder einer Straßenbande. Harte Jungs, kampferprobt. Jetzt verraten Sie mir mal, wie so eine zierliche Lady wie Sie mit zwei solchen Typen fertig geworden ist?«

»Kampfsport«, antwortete ich, einer plötzlichen Eingebung folgend. »Zehn Jahre Karate und Judo.«

Grant lächelte und klopfte sich den Straßendreck vom Anzug. Dann drehte er sich unvermittelt um, ging wortlos zu einem der beiden bewusstlosen Schläger und trat ihm kräftig mit dem Stiefel in den Unterleib. Anschließend kam er lächelnd zu mir zurück. Der Mann schien besser in Schuss zu sein, als ich zunächst angenommen hatte.

»Scheiße«, sagte er wenig galant. »Ich hätte nicht aussteigen sollen, um mir Zigaretten zu holen. Die Arschlöcher haben mich hier am Automaten von hinten erwischt.«

Ich schwieg weiter. Er sah mich an. Es war ein prüfender, abwägender Blick.

Ich wurde unruhig.

»So eine wie Sie könnte ich brauchen«, sagte er.

»Wofür?« fragte ich.

»Für meinen Laden. Ich bin Besitzer von ›Grants Club‹. Ist ’ne gute Adresse, drüben in der besseren Ecke. Etwas für Leute mit Kohle. Ein Nachtclub mit gutem Essen, guten Cocktails und ein bisschen Show für gehobene Ansprüche.«

»Ein Edelpuff also«, sagte ich, schroffer als beabsichtigt.

»Eigentlich nicht«, antwortete Grant und lächelte mich mit seinen makellosen Zähnen an.

»Gevögelt wird bei mir nicht. Ich sagte doch bereits: gehobene Ansprüche. Bei uns gibt es Kabarett, Musik und manchmal auch erotisch angehauchte Nummern. Aber alles mit Niveau. Da leg ich Wert drauf. Schließlich habe ich einen Ruf zu verlieren.

»Und wofür, Mr. Grant, könnten Sie mich dort gebrauchen? Etwa um ein bisschen erotisch zu tanzen?«

»Oh, bitte, wenn Sie wollen. Aber eigentlich hatte ich da an etwas anderes gedacht. Vorausgesetzt, Sie suchen überhaupt einen Job. Vielleicht macht es Ihnen ja mehr Spaß, hier durch die Gassen zu schlendern und Spikes wegzukicken. Auch ganz unterhaltsam.«

Er schwieg und blickte mit spöttischem Lächeln auf die beiden Bewusstlosen auf dem Boden.

»Nun, gut«, sagte er schließlich. »Ich will mich nicht aufdrängen. Dachte nur, dass ich Ihnen was schuldig bin. Soll ich Sie nicht wenigstens ein Stück in meinem Wagen mitnehmen. Auch wenn Sie sich wehren können… ’ne nette Gegend ist das nun wirklich nicht.«

Er lächelte mich wieder an. Ich nickte mit dem Kopf, und wir gingen schweigend zu seinem Auto. Grant hinkte leicht, war aber ansonsten bester Laune. »So was«, murmelte er. »Haut die beiden Spikes einfach aus den Socken …«

Ich überlegte fieberhaft. War das hier die Chance für eine Zuflucht? Ich entschied mich spontan, zuzugreifen.

»Ich könnte einen Job brauchen«, sagte ich, als wir schließlich in seiner Limousine saßen. »Einen, wo man mir keine Fragen stellt.«

Dann nahm ich meine Sonnenbrille ab.

Grant nahm die Hand vom Zündschlüssel und sah mir in die Augen. Er starrte mich an.

»Mann, was hast du für Augen, Mädchen?« sagte er mit leiser Stimme. Seine Hand zitterte.

Es war ein magischer, fast intimer Moment. Seit meiner Geburt als Vampir war ich keinem Menschen so nahe gewesen. Zumindest keinem, der am Leben geblieben war. Spürte Grant, wer oder was ich in Wirklichkeit war?

Ich lächelte ihn an. »Gefallen sie dir nicht? Das sind ziemlich teure Kontaktlinsen.« Auch ich duzte ihn jetzt.

Sekunden vergingen, bis er sich wieder in der Gewalt hatte. »Entschuldigung. Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist«, sagte er leise und startete den Wagen. »Muss wohl vorhin doch ein bisschen was abgekriegt haben.«

Dann fuhr er los. Damals wusste ich noch nicht, dass meine Augen, immer wenn ich vor kurzem meinen Hunger gestillt hatte, die Menschen besonders verängstigten. Sie schienen dann von innen zu leuchten. Es war ein Leuchten, das direkt aus der Hölle kam.