11 - PIA

Ich blieb, und in den nächsten Wochen passierte nichts von Bedeutung. Grant war zwar stets sichtlich nervös, zog aber schließlich sogar die teuren Wachen vom Eingang ab. Ein Bote von Serge war erschienen, um die erste Zahlung abzuholen. Grant hatte sogar noch eine beträchtliche Summe draufgelegt – als Entschädigung sozusagen.

»Das wird ihn endgültig besänftigen«, meinte Carl. »Schließlich will er vor allem Geld verdienen. Was nützen Serge ein paar Tote und ein zerstörter Club?«

Grant nickte, aber ich merkte, dass er immer noch Angst hatte.

Und diese Angst blieb. Serge galt als unberechenbar. Wir hatten den Paten des Viertels gedemütigt. Konnte er das tatsächlich ungesühnt lassen? Oder wartete er nur auf eine gute Gelegenheit, um Rache zu nehmen? Würde er Grant zur Verantwortung ziehen oder mit mir vorlieb nehmen? Ich hoffte inbrünstig, dass letzteres der Fall sein würde. Denn was konnte Serge mir schon antun? Aber ich hatte trotzdem Angst. Angst um mein gerade erst gefundenes neues Zuhause, in dem ich mich trotz all der furchtbaren Begleitumstände meiner übernatürlichen Existenz sehr wohl fühlte. Die anderen fürchteten um ihr Leben, und ich fürchtete um ihres. Begierig sogen wir all die Gerüchte auf, die im Viertel herumschwirrten. Serge habe ganz andere Probleme und die Sache längst vergessen, flüsterten die einen. Andere behaupteten, er koche immer noch vor Wut. Dann wieder hieß es, er sei längere Zeit außer Landes, um irgendwelche großen Deals über die Bühne zu bringen, und es drohe keine Gefahr. Andere schworen, er sei wieder da, und sie hätten gehört, dass er Blut sehen wolle. Mein Blut. Schön, dachte ich. Da haben wir ja was gemeinsam, Serge. Ich will deines auch sehen.

Das Verhältnis zu Linda und Matti war nach dem Überfall noch enger geworden. Die beiden begegneten mir jetzt nicht nur mit ehrlicher Freundschaft, sondern auch noch mit unverhohlener Bewunderung. Besonders Matti wollte genau wissen, wo ich denn so gut kämpfen gelernt hatte.

»Komm schon, Ludmilla, ich will Einzelheiten«, stöhnte er stets, wenn ich ausweichende Antworten gab.

Linda ließ mich in dieser Beziehung allerdings in Ruhe. Sie spürte, dass ich nicht über Vergangenes reden wollte. Das machte sie in meinen Augen um so vertrauenswürdiger. Am Ende einer anstrengenden Nacht war ich mal kurz davor, ihr alles zu erzählen. Wir saßen allein an der Bar, und Linda sprach über ihre Zeit als Prostituierte.

»Erst war es furchtbar«, stöhnte sie. »Aber mit Hilfe meiner Freunde Johnny Walker und Jack Daniels hab ich mich irgendwann dran gewöhnt. Das war eigentlich das Schlimmste. Ich hab gesoffen wie ein Löschblatt und kaum noch was gemerkt. Wenn Richard nicht gewesen wäre… wer weiß, ob ich nicht längst kalt im Sarg läge, Mädchen.« Sie lachte mit ihrer gurgelnd-rauen Stimme.

Schließlich schwieg sie, sah mich lange an und sagte: »Du kannst mir vertrauen, Ludmilla. Warum erzählst du mir nichts von dir? Ich weiß, wie es ist, wenn man was mit sich rumschleppt. Pack aus, Mädchen. Ich kann schweigen wie ein Stein.«

Ich schwankte. Das Bedürfnis, mir in diesem Moment alles von der Seele zu reden, wurde fast übermächtig. »Ich bin… anders«, begann ich, stockte und fand keine Worte. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Linda nahm meine Hand. »Ja, du bist anders als alle, die ich kenne. Vor allem aber bist du einsam, Ludmilla. Erzähl mir doch, was dir passiert ist.«

»Ich bin tot, Linda«, schrie ich, sprang auf und rannte in mein Zimmer. Dort lag ich lange auf meinem Bett und starrte an die Decke. Es wäre so schön gewesen zu reden. Doch letztendlich war ich froh, es nicht getan zu haben. Meine letzten Worte würden für Linda keinen Sinn ergeben. Was hätte es auch gebracht, meine menschliche Freundin mit meinem furchtbaren Geheimnis zu belasten.

Grant hatte, was sein Publikum betraf, nicht übertrieben. Sein Laden war wirklich eine angesagte Adresse und wurde sogar von Prominenten besucht, die sich unseren leichten Hauch von Verruchtheit gerade noch leisten konnten. Gildas kultige Travestie-Nummer, eine »erotische Zauberin«, die sich während der Darbietung ihrer Tricks gekonnt auszog, und ein paar junge Musiker waren die Zugnummern unseres Programms. Und die Tatsache, dass auch immer wieder Größen aus dem Milieu mit ihren Herzdamen im Club anzutreffen waren, machte ihn für die Szenegänger gerade interessant. Die eine oder andere Unterweltgröße zu kennen galt in Schickeria-Kreisen als erstrebenswert.

Eines Abends erschien eine junge Frau im Club, die mir sofort auffiel. Eine Bilderbuch-Schönheit. Langes, blondes Haar, gertenschlank, groß. Insgesamt eine ätherische, feingliedrige Erscheinung mit engelsgleicher Ausstrahlung. Sie kam allein, blickte sich kurz um und ging dann zielstrebig zur Bar. Ihr Gang war federnd. Sie trug einen kurzen Rock, eine tief ausgeschnittene Bluse, die ihren makellosen Rücken freiließ, keine Strümpfe und hochhackige Schuhe. Matti warf ihr ein strahlendes Lächeln zu und sagte irgend etwas. Sie lächelte, antwortete, und Matti wandte sich seinen Flaschen zu und begann etwas zu mixen.

Ich hatte die ganze Szene aus dem hinteren Teil des Clubs beobachtet. Plötzlich fragte ich mich, warum ich diese Frau so fasziniert anstarrte. Sicher, sie war auffallend hübsch. Aber eigentlich interessierte ich mich nicht sonderlich für andere Frauen.

Kopfschüttelnd machte ich mich an die Arbeit und servierte einigen Gästen ihre Drinks. Anschließend ging ich mit einem Tablett voller gebrauchter Gläser an die Bar. Ein Mann, etwa Mitte Vierzig, hatte sich auf den freien Hocker neben der Blonden gesetzt und versuchte, ein Gespräch anzufangen. Er war offenbar angetrunken.

»Darf ich Sie auf ein Glas einladen?« lallte er gerade. Die Frau ignorierte ihn und beobachtete Matti bei seiner Arbeit.

»Hey, ich hab dich was gefragt.« Die Stimme des Angetrunkenen wurde etwas lauter. Die Blonde verzog keine Miene. Der Mann packte ihren Arm. »Bist du taub, Mädchen?«

Ich trat näher. In diesem Augenblick drehte die Frau ihren Kopf und lächelte mich an. Es war, als ob sie gewusst hätte, dass ich da war. Sie hatte grüne Augen.

»Hallo«, sagte sie mit leiser, dunkler Stimme. »Ist es nicht furchtbar, dass manche Männer nicht merken, dass sie stören?«

Ich schwieg und sah den Betrunkenen an. Der stand langsam auf. Rot vor Zorn im Gesicht. Matti griff unter die Theke nach seinem bewährten Elektroschock-Stab, der ihm schon so manchen guten Dienst im Umgang mit schwierigen Kunden geleistet hatte. Jetzt trat auch Carl hinzu, der wohl bemerkt hatte, dass sich an der Theke Ärger anbahnte.

»Der Herr hier möchte gehen, Carl«, sagte ich. Carl blickte mich kurz missbilligend an, weil es so klang, als könne ich ihm Befehle erteilen. Aber dann siegte seine Professionalität. Er stellte sich direkt vor den Betrunkenen und funkelte ihn böse an. Seine bloße physische Erscheinung brachte den Mann sofort zur Besinnung. Wortlos stand er auf und wankte leise fluchend in Richtung Ausgang. Auch Carl ging ohne ein weiteres Wort.

Matti seufzte erleichtert und wandte sich wieder seinen Cocktails zu. Die Frau und ich standen jetzt allein an der Bar.

»Ich heiße Pia«, sagte sie und reichte mir die Hand. Ich
nahm sie. Ihr Händedruck war fest.

»Ludmilla«, stellte ich mich vor. »Es tut mir leid, dass Sie belästigt wurden. So etwas ist bei uns eher selten.«

»Macht nichts, ich bin es gewohnt, Männer abzuwimmeln«, sagte sie und zuckte mit den Schultern.

»Und? Geht es immer so glimpflich ab?«

»Nicht immer«, antwortete sie ohne erkennbare Gemütsregung.

»Darf ich Sie jetzt im Namen des Hauses auf einen Cocktail einladen, sozusagen als kleine Wiedergutmachung?« fragte ich.

»Gern, aber bitte nicht an der Bar. Wer weiß, wann der nächste geile Geier kommt.«

Ich lachte. »Okay, setzen wir uns da drüben hin.«

Als wir zu einem freien Tisch hinübergingen, wunderte ich mich kurz, wie natürlich und ungezwungen ich mit ihr reden konnte. Vielleicht lag es daran, dass wir im gleichen Alter waren.

Pia setzte sich und schlug ihre langen Beine übereinander.

»Du arbeitest noch nicht lange hier, nicht wahr?« Sie stutzte. »Oh, Entschuldigung, ich habe ›du‹ gesagt.«

»Macht nichts. Ich denke, woanders hätten wir uns gleich geduzt. Lass uns dabei bleiben.«

Sie lächelte mich an. Und wieder fühlte ich mich zu dieser Unbekannten hingezogen, als würde ich sie schon seit Jahren kennen.

Mir fiel ihre Frage wieder ein.

»Stimmt, ich arbeite noch nicht lange hier. Ein paar Monate. Eigentlich studiere ich Archäologie.«

»Aber nicht hier an der Uni, oder? Ich hätte dich sonst bestimmt mal in der Mensa oder so gesehen.«

»Nein, woanders. Ich mache sozusagen verlängerte Semesterferien, um mir etwas Geld zu verdienen. Was studierst du?«

»Kunstgeschichte. Aber zur Zeit mit wenig Begeisterung. Keine Lust mehr.«

Sie ließ ihren Blick quer durch den Club schweifen, sah kurz zu zwei Männern hinüber, die ohne Begleitung an einem Tisch saßen, und wandte sich mir wieder zu.

»Warum arbeitest du ausgerechnet hier, Ludmilla?«

»Zufall. Ich habe den Besitzer… äh… kennengelernt, er hat mir den Job angeboten, und ich habe ja gesagt. Solche Szenen wie eben sind hier eher selten. Es ist weniger aufregend in einem solchen Laden zu arbeiten, als die Leute denken. Und man verdient gut.«

Pia blickte sich nachdenklich um.

»Vielleicht sollte ich auch mal den Job wechseln. Ich arbeite nachts in einer Videothek. Ist nicht gerade ein besonders intellektuelles Publikum, das da so aufläuft.«

Sie lachte.

»Horror und Pornos – das sind die Renner. Du kannst dir die Filmtitel gar nicht vorstellen. Warte mal, da gibt es ›Die Steifeprüfung‹, ›Vögeln, bis der Arzt kommt‹ oder ›Orgasmo – der Rammler aus der Hölle‹.«

Wir lachten beide.

Aus den Augenwinkeln sah ich, dass sich zwei junge Männer unserem Tisch näherten, ein großer Schwarzhaariger und ein Untersetzter mit Kurzhaarfrisur. »Dürfen wir uns zu Ihnen setzen?« fragte der Schwarzhaarige.

Pia sah mich an. »Dürfen sie, Ludmilla?«

»Ich arbeite hier, meine Herren«, sagte ich. »Aber Sie können sich gern setzen und was trinken.«

Die beiden setzten sich.

»Kennen wir uns nicht aus dem Fitness-Studio am Bahnhof?« fragte der Untersetzte und sah Pia an.

»Sie machen Krafttraining?« fragte Pia.

»Ja, beide, schon seit ein paar Jahren«, antwortete der Schwarzhaarige und streckte seinen Rücken.

»So, und warum sieht man das nicht?« fragte Pia und grinste.

Die beiden lachten etwas betreten. Solche Witze auf ihre Kosten waren sie von Frauen offenbar nicht gewohnt.

Ich amüsierte mich köstlich und hatte gerade beschlossen, noch etwas sitzen zu bleiben, als ich Matti winken sah.

»Entschuldige, Pia«, sagte ich. »Ich muss wieder an die Arbeit. Ich hoffe, wir sehen uns noch mal.«

»Das werden wir«, antwortete Pia und hob zum Abschied die Hand. »Ich werde hier noch ein bisschen mit unseren beiden Kraftpaketen plaudern.«

Ich stand auf und ging an die Bar.

Der Club war an diesem Abend ausgebucht. Ich sah immer mal wieder zu Pias Tisch rüber. Sie schien sich prächtig zu amüsieren. Als ich dann einmal, gegen drei Uhr morgens, aus der Küche zurückkam, waren die drei plötzlich verschwunden. Matti winkte mich zu sich und gab mir einen Zettel. »Von Pia«, sagte er. Ich faltete den Zettel auf. Es stand nur ein Wort darauf: »Steifeprüfung!«