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JAGD
Nach und nach gewöhnte ich mich an mein neues Leben. »Grants Club« war tatsächlich ein ideales Versteck. Auch meine Befürchtungen, ich könnte zu einer Gefahr für Linda, Matti oder die anderen werden, zerstreuten sich schließlich. Der Gedanke, einen von ihnen zu töten, erschien mir unerträglich. Auch mit den übrigen Angestellten kam ich gut aus. Sie wunderten sich zwar, dass ich nie in ihrer Gegenwart aß, helles Licht mied und tagsüber nicht zu sehen war. Aber irgendwann akzeptierten sie meine seltsamen Gewohnheiten.
Matti und Linda vertrauten mir mehr und mehr. Ich spürte, dass sie mir näher sein wollten, als ich es zuließ, aber ich wahrte Distanz. Sie erzählten mir ihr Leben, sprachen von ihren Sorgen und Freuden, und ich erwies mich stets als gute Zuhörerin. Von mir aber erfuhren sie nichts.
»Was ist nur mit dir, Mädchen?« fragte Linda eines Nachts, als wir im leeren Lokal noch zusammen an der Bar saßen.
»Was hat man dir angetan, dass du über nichts sprichst, was früher war? Dir hat einer weh getan, stimmt’s? Mir kannst du’s sagen, ich bin Expertin für unsensible Arschlöcher.«
Ich sah sie an und log: »Irgendwann erzähle ich euch alles. Lasst mir Zeit.«
Es war schwer, mit niemandem über mein Schicksal reden zu können. Auch nicht mit Grant, der mir zwar immer mehr Verantwortung im Club übertrug, aber ansonsten meine Nähe mied. Ich fragte mich, ob er wohl etwas ahnte. Er hatte offensichtlich trotz aller Wertschätzung Angst vor mir. Carl dagegen wurde immer unerträglicher und feindseliger. Ich fragte Linda nach ihm und erfuhr, dass Carl mal als vielversprechendes Boxtalent mit dem Druck nicht mehr zurechtgekommen war und begonnen hatte, Drogen zu nehmen. Schließlich hatte er im Viertel in verschiedenen Läden als Rausschmeißer gearbeitet, bis Grant ihn für den Club engagierte. Carl, mittlerweile Mitte Vierzig, erkannte seine letzte Chance und arbeitete sich vom Türsteher zum Geschäftsführer hoch.
»Seitdem«, erzählte Linda, »sieht er sich als zweiter Mann im Club und ist eifersüchtig auf jeden, der ihm diese Stellung streitig machen könnte. Und im Augenblick hat er das Gefühl, dass du so jemand sein könntest. Du musst ihn ein bisschen verstehen.«
Linda hatte recht. Grant förderte mich, wo er nur konnte. Er hatte dafür gesorgt, dass ich mich auch um die Gäste kümmerte, ihnen Tische zuwies oder sie bei den Bestellungen beriet. Dinge, die ansonsten in Carls Aufgabenbereich fielen. Als Carl sich bei Grant beschwerte, bekam er eine klare Abfuhr. »Ludmilla kommt bestens bei den Leuten an, also arrangiert euch«, sagte er und verschwand, wie so oft, in seinem Büro.
Aber er hatte recht. Besonders die männlichen Gäste schienen von mir sehr angetan zu sein.
Tatsächlich spürte ich eine deutliche Veränderung in mir. Ich, die ich früher häufig so zögerlich und abwartend war, wurde immer selbstsicherer. Das lag zum einen an dem Wissen um meine übernatürlichen Kräfte, zum anderen an den Monaten in der speziellen Atmosphäre des Clubs. Mir gefiel es, mit Männern zu flirten, ohne sie wirklich an mich heranzulassen. Auch mein Äußeres hatte sich verändert. Früher waren Jeans, Sweatshirts und Turnschuhe meine Standard-Garderobe. Jetzt trug ich abends Röcke, Kostüme und hochhackige Schuhe. Und meine Haare wurden nicht mehr durch einen Pferdeschwanz gebändigt. Ich fand mehr und mehr Gefallen daran, verführerisch zu wirken.
»Sie sehen in dir so was wie eine gemäßigte Domina«, sagte Matti einmal lachend. »Deine tiefe Stimme, die langen schwarzen Haare, deine Augen, dein ganzes Auftreten – das macht die alle wahnsinnig. Was meinst du, wie oft ich hier an der Bar schon eindeutige Angebote in deine Richtung ablehnen musste. Ludmilla, du könntest reich werden.«
»Danke, nein, Matti«, antwortete ich. »Sag den Typen doch bitte weiter in meinem Namen ab.«
Ich musste unwillkürlich lächeln. Eine sehr spezielle Domina – mit nur einem einzigen finalen Auftritt.
Trotzdem ging ich, was Matti und die anderen betraf, kein Risiko ein. Wann immer ich auch nur den leisesten Anflug von Hunger spürte, verschwand ich sofort. Ich erklärte den anderen meine plötzliche Abwesenheit mit Migräneanfällen, bei denen mir nur frische Luft und lange Spaziergänge helfen könnten.
Draußen begann dann die Jagd. Ich entfernte mich so weit wie möglich vom Club, strich durch die dunklen Gassen und einsamen Ecken des Viertels und wartete. Ich konnte lange warten. Völlig reglos, wie eine Statue. Auch das war eine meiner neuen Fähigkeiten. Ich ließ Menschen passieren. Einen nach dem anderen. Manchmal verfolgte ich ein potentielles Opfer, ließ dann aber aus einer Laune heraus wieder von ihm ab, bis etwas in mir protestierte. »Bring es hinter dich, aber genieß es nicht auch noch!« schrie eine innere Stimme. Aber sie wurde jedes Mal leiser und leiser. Auf der Jagd vibrierte mein Körper vor Kraft und Verlangen. Wenn das Tier erwacht war, kam irgendwann der Punkt, an dem ich es nicht mehr kontrollieren konnte.
Ich bevorzugte Männer. Eine ganz bestimmte Sorte Männer. Ich musste nur lange genug warten, dann kamen sie. Eine Frau, jung, hübsch und allein in einer solchen Gegend war für viele Freiwild. Betrunkene Freier, Zuhälter, Schläger. Sie näherten sich mit der Selbstverständlichkeit von Raubtieren. Gewaltbereit, triebhaft, genau wie ich. Sie starben mit fassungslosem Gesicht in meinen Armen. Draußen, im Dunkeln, auf nassen Straßen und in verwinkelten Hinterhöfen ließ ich ihre bleichen Körper im Dreck liegen.
Von meinen nächtlichen Streifzügen kehrte ich stets mit einem sonderbaren Gefühl in den Club zurück. Einerseits war ich abgestoßen von dem, was ich getan hatte, andererseits euphorisierte mich das fremde Blut und vernebelte meine Wahrnehmung.
Ich benutzte immer die Hintertür, um niemandem zu begegnen, und verschwand dann schnell für einige Zeit in meinem Zimmer. Dort wartete ich, bis das unheilvolle Leuchten meiner Augen abgeklungen war.
Ich saß in diesen Stunden im Dunkeln auf meinem Bett und dachte über mein neues Leben nach. Noch immer wunderte ich mich, wie selbstverständlich ich meine neue Existenz hinnahm. Wie konnte es sein, dass ich angesichts des Grauens und der Absurdität meiner Situation nicht wahnsinnig wurde? Es gab nur eine Erklärung. Die übernatürliche Macht, der ich meine enormen körperlichen Kräfte zu verdanken hatte, musste mich auch mental gestärkt haben. Was war es nur, das da in mir lebte, obwohl ich eigentlich tot sein müsse? Verscharrt, dort irgendwo im Wald, wo alles begann. Und warum fand ich niemanden wie mich? Sollte es mir wirklich bestimmt sein, das alles auf ewig allein durchzustehen? In diesen einsamen Momenten trösteten mich die vertrauten Geräusche, die ich von unten aus dem Club hörte. Immerhin hatte ich einen festen Angelpunkt, von dem aus ich die Suche nach meinesgleichen beginnen konnte.
Die Abstände zwischen meinen nächtlichen Jagden wurden immer größer. Manchmal spürte ich über einen Monat lang keinen Hunger. Ich fühlte mich sicher. Aber das war ein Irrtum.
Eines Nachts, als ich satt und zufrieden in den Club zurückkehrte, spürte ich schon auf der Treppe, dass irgend etwas nicht stimmte. Und dann bemerkte ich Licht in meinem Zimmer.
Ich stieß die Tür auf und sah Carl, der gerade dabei war, meine Sachen zu durchwühlen.
»Was hast du in meinem Zimmer zu suchen?« fauchte ich ihn an. Er fuhr herum, sah mich einen Moment verdutzt an, nahm dann jedoch sofort wieder seine überhebliche Attitüde an.
»Ich suche dich, Schätzchen. Der Laden ist voll. Geht es dem Köpfchen wieder so gut, dass du uns vielleicht wieder ein klein bisschen helfen könntest?« Er stand einfach da, die Hände provozierend in die Hüften gestemmt, und lächelte. In all seiner vermeintlichen männlichen Überlegenheit. Doch dann, nach einem Blick in meine Augen, runzelte er verwirrt die Stirn. Ich musste mich mit aller Kraft beherrschen. Noch pochte die Hitze des fremden Blutes in meinem Körper, und es kostete mich einige Überwindung, ihm nicht sofort seinen muskulösen Hals zu brechen.
»Mieser Schnüffler«, presste ich statt dessen hervor.
Ich sah, wie Wut und Hass seine Züge verzerrten. Er hob die Hände und ging auf mich zu.
»Du beleidigst mich nicht, du kleine Nutte. Du wirst mir jetzt sagen, wer du bist und was du treibst, wenn du nachts verschwindest. Ich weiß, dass du Dreck am Stecken hast.«
Meine Gedanken überschlugen sich. Ich durfte ihn nicht töten, dann wäre hier alles vorbei. Andererseits musste ich diesen Mann stoppen, der mir offensichtlich hinterherspionierte und zu einer ernsten Gefahr wurde. Er kam immer näher. Ich konnte seinen Schweiß und den Zigarettenrauch in seinem Atem riechen. Mir war schlagartig klar, was ich tun würde. Es ging nicht mehr anders. Ich wollte sein Blut. Ich wollte sein überhebliches Gesicht im Schmerz verzerrt vor mir sehen und beobachten, wie das Leben aus seinem kräftigen Körper tropfte. Mir war alles egal. Ich wollte ihn sterben sehen. Meine Muskeln spannten sich, mein Körper zitterte.
»Sag gute Nacht, Carl«, flüsterte ich und wartete, bis er nahe genug war.
Doch dann, als er nur noch eine Handbreit von mir entfernt war, hörte ich plötzlich Lindas Stimme auf dem Flur.
»Carl, bist du hier oben? Der Chef sucht dich überall.«
Ihre Schritte kamen näher. Carl erstarrte, rannte an mir vorbei und hastete die Treppe hinab in den Club.
Ich löschte sofort das Licht. Linda stand nach wenigen Sekunden in meinem Türrahmen.
»Was hat Carl in deinem Zimmer gemacht? Ist etwas passiert?« fragte sie besorgt und wollte mich in den Arm nehmen.
Ich stieß ihre Hand weg, wandte mein Gesicht ab und rannte an ihr vorbei die Treppe hinunter zum Hinterausgang.
Ich lief kilometerweit ohne Pause. Alles in mir war in Aufruhr. Um ein Haar hätte ich Carl getötet und alles kaputtgemacht. Selbst wenn ich behauptet hätte, dass ich mich nur gegen einen Angriff seinerseits gewehrt hätte – Grants Worte klangen mir noch deutlich in den Ohren: »Du darfst mir keine Probleme bereiten, Ludmilla.«
Und ein toter Geschäftsführer wäre so ein Problem gewesen.
Schließlich beruhigte ich mich wieder und sah mich um. Ich befand mich in einem Park am Rande der Stadt. Die Nacht war klar, und der Mond warf sein kaltes Licht auf die zahlreichen Bäume, deren Äste wie im Todeskampf erstarrte Arme vorzeitlicher Wesen wirkten. Direkt vor mir erhob sich ein Hügel. Kein Mensch war zu sehen. Ich setzte mich auf einen Stein und starrte in die Dunkelheit. Ich weiß nicht, wie lange ich dort saß. Aber es war kein Geräusch und auch keine normale sinnliche Wahrnehmung, die mich urplötzlich aufschrecken ließ. Es war wie ein Blitz in meinem Gehirn, ein sonderbares Gefühl, dass etwas mich beobachtete und Kontakt mit mir aufnahm.
Mein Kopf ruckte herum, und oben auf dem Hügel sah ich sie. Eine Gestalt, reglos, groß und schlank. Sie sah in meine Richtung. Warum auch immer – aber ich wusste sofort, dass es kein Mensch war. Dort stand ein anderer Vampir! Ich sprang auf und rannte den Hügel hinauf. Die Gestalt blieb stehen. Mein Herz raste. Ich war nicht allein. Endlich würde ich Antworten finden. Endlich! Doch kaum hatte ich die Mitte des Hügels erreicht, da bewegte sich die Gestalt, hob einen Arm wie zum Gruß, drehte sich um und verschwand mit atemberaubender Geschwindigkeit in der Dunkelheit.
Als ich den Hügelkamm endlich erreicht hatte, war niemand mehr zu sehen. Ich war maßlos enttäuscht, schrie sinnloses Zeug in die Nacht hinein, rannte in alle Richtungen und suchte. Doch der andere Vampir war verschwunden. Zitternd am ganzen Körper stand ich da und weinte. Vor Wut, vor Enttäuschung und Hilflosigkeit. Warum nur hatte der andere mich verfolgt und trotzdem keinen Kontakt mit mir aufgenommen? Ich konnte mich nicht losreißen von diesem Ort, doch irgendwann gab ich verzweifelt auf und machte mich auf den Weg nach Hause.
Als ich den Club erreichte, hörte ich schon von draußen einen Schrei des Entsetzens, der mich sofort aus meiner selbstmitleidigen Lethargie riss. Es war Lindas Stimme.