21 - GEFAHR

Am nächsten Nachmittag weckte mich ein Anruf von Barker. Er berichtete mir aufgeregt, dass Goldstein nach mir gefragt habe. Er wolle, dass ich ihn anrufe.

»Regen Sie sich nicht auf, Professor«, beruhigte ich ihn. »Er weiß, dass ich im Club arbeite, und will mich aushorchen. Außerdem scheint er Interesse als Mann an mir zu haben.«

»Was?«

Barker verstand nichts.

»Ganz einfach, Herr Professor. Er findet mich attraktiv.

Wir waren gestern noch zusammen aus, nachdem wir Ihren sonderlichen Herrn Alucard besucht haben. Aber eigentlich haben wir uns nicht sonderlich freundlich voneinander getrennt.«

Barker war fassungslos. Ich versprach ihm, sofort zu kommen und ihm alles zu erklären.

Ich beschloss, zu Fuß zu gehen, zog mir einen Mantel mit Kapuze über, setzte meine Sonnenbrille auf und verließ das Haus.

Als ich hinaus auf die Straße trat, war mir, als ob irgend jemand auf der gegenüberliegenden Seite schnell in einem Hauseingang verschwunden sei, so als ob er nicht gesehen werden wolle. Ich blieb stehen und beobachtete das Haus. Schließlich kam eine Frau mit einer Einkaufstasche heraus und marschierte eiligen Schrittes die Straße hinunter. Wahrscheinlich war sie es gewesen, die ich eben gesehen hatte. Vielleicht hatte sie nur ihre Tasche vergessen und war noch einmal umgekehrt.

Ich ging weiter. Nach einer Stunde hatte ich Barkers Haus erreicht.

Schon als ich die Auffahrt betrat, riss der Professor die Haustür auf. Er war aufgeregt, und ich musste schon auf dem Flur anfangen zu erzählen. Er wollte alles ganz genau wissen. Was mit Polder sei? Und was ich mit Goldstein angestellt hätte?

Als sein Wissensdurst einigermaßen befriedigt war, sah er mich nur kopfschüttelnd an. Wie ein Vater seine junge, unvernünftige Tochter. Ich musste lachen und fühlte eine Welle von Sympathie für diesen alten Mann in mir aufsteigen. Auf einmal wusste ich, dass mir seine Freundschaft viel bedeutete. Bei ihm zu sein und über alles mit ihm reden zu können, war für mich mittlerweile ein wichtiges Ventil geworden, um mit all dem fertig zu werden, was mit mir geschah.

Barker berichtete mir, dass Goldstein Dienst- und Privatnummer für mich hinterlassen hatte. Ich steckte den Notizzettel ein und lenkte den Professor behutsam zu den wirklich wichtigen Dingen zurück: zu den »Dunklen Schwestern« und ihrer Geschichte.

Und bald saßen wir im diffusen Dämmerlicht der untergehenden Sonne wieder an seinem Schreibtisch, wühlten in alten Schriftstücken und diskutierten über die schon sehr weit fortgeschrittene Übersetzung des alten Dokumentes aus dem serbischen Kloster.

Wie es schien, hatte jeder der Vampir-Orden eine Art rituellen Treffpunkt, der stets unter der Erde lag. Meist in unterirdischen Höhlen oder uralten Gemäuern. Dort trafen sich, so die Überlieferung, die weiblichen Vampire regelmäßig, wenn die Oberin sie rief. Eine solche Gruppe umfasste selten mehr als zwanzig Personen. Was genau dann besprochen oder beraten wurde, konnte Barker nicht genau entziffern, da das Dokument zum Teil beschädigt war. Eine andere Stelle gab Auskunft darüber, dass jeder der geheimen Orden, von denen es offenbar nur eine Handvoll in ganz Europa gab, ein geographisch ziemlich großes Gebiet beherrschte. Wenn man davon ausging, dass nur die jeweilige Oberin neue Vampire erschaffen konnte, gab es also anscheinend nicht sehr viele von unserer Art.

Barker versprach mir, weiter an dem Text zu arbeiten. Wir verabschiedeten uns herzlich, und ich machte mich auf den Weg nach Hause. An einer Telefonzelle blieb ich stehen. Unentschlossen hielt ich Barkers Zettel mit Michaels Telefonnummern in der Hand. Schließlich wählte ich seine Privatnummer und wartete. Schon beim zweiten Klingeln nahm er ab.

»Ich bin es. Ludmilla. Was wollen Sie noch von mir?«

»Ludmilla! Schön, dass Sie anrufen. Ich freue mich.«

»Ich nicht.«

»Mein Gott, nun seien Sie doch nicht so kratzbürstig. Es tut mir leid wegen gestern. Ich habe es ernst gemeint, dass Sie mir gefallen. Im Club nahm keiner ab, und da habe ich den Professor angerufen, weil ich… ich weiß ja nicht einmal Ihren Nachnamen. Ich wollte Sie zum Essen einladen. Heute oder morgen vielleicht? Haben Sie Zeit?«

»Ich glaube, das ist keine gute Idee. Ich will…«

»Ludmilla. Verstehen Sie mich doch. Ich bin der Chef der Mordkommission. Ich jage einen Serienkiller und habe einen unaufgeklärten Mord in ›Grants Club‹. Sie arbeiten dort, und ich habe Ihnen eine Frage gestellt. Tut mir leid, wenn das nicht am richtigen Ort war. Ich würde Sie dennoch gern wiedersehen. Und dann gibt es kein Verhör. Versprochen. Jeder verdient eine zweite Chance.«

»Gut, Michael«, antwortete ich und wunderte mich über die Worte, die mir aus dem Mund strömten. »Morgen im selben Lokal. Gegen 22 Uhr. Aber kein Essen. Lassen Sie uns nur etwas trinken und reden. Ist das okay?«

»Selbstverständlich. Ich freue mich.«

»Also dann – bis morgen«, sagte ich und legte auf.

Als ich die Tür der Telefonzelle aufstieß, sah ich, dass meine Hand zitterte. Schon dieses Gespräch mit ihm hatte mich aufgewühlt. Ich wusste, es war ein Fehler, aber ich konnte nicht anders. Ich wollte, ich musste diesen Mann wiedersehen.

So schnell ich konnte lief ich nach Hause. Ich wollte in Ruhe über alles nachdenken. Aber schon als ich aus dem Fahrstuhl trat, spürte ich, dassetwas nicht stimmte. Ein Blick auf das Schloss meiner Wohnungstür genügte, um ganz sicher zu sein: Jemand hatte bei mir eingebrochen.

Vorsichtig stieß ich die Tür auf. Die Wohnung war offenbar gründlich durchsucht worden. Der Eindringling hatte sämtliche Schubladen entleert, die Schränke ausgeräumt und die meisten Bücher aus den Regalen gerissen. Ich schritt kopfschüttelnd durch das Chaos, entsetzt und wütend über die Entweihung meines gerade erst bezogenen Nestes. Soweit ich es auf den ersten Blick beurteilen konnte, fehlte nicht viel: der CD-Player, ein Handy, das noch dem Vorbesitzer gehört hatte, und mein ledergebundenes Notizbuch. Ich hatte darin all meine Gedanken und Hypothesen über Vampire aufgeschrieben, aber auch Geld in einer Seitentasche aufbewahrt. Jetzt war jemand im Besitz meiner persönlichsten und intimsten Aufzeichnungen. Auch die Adressen und Telefonnummern von »Grants Club« und Barker waren darin notiert. Ich hätte verrückt werden können. Andererseits: Wer konnte schon mit all dem wirklich etwas anfangen?

Trotzdem war ich beunruhigt. Auf einmal fiel mir auch wieder ein, dass ich beim Verlassen des Hauses gemeint hatte, jemanden im Hauseingang gegenüber verschwinden zu sehen. War es doch nicht die Frau mit der Einkaufstasche, sondern der Dieb gewesen? Hatte er mich beobachtet und gewartet, bis der Weg frei war?

Ich rief Barker an und erzählte ihm von dem Einbruch. Er schien ausnahmsweise einmal nicht beunruhigt zu sein.

»Einbrüche sind in dieser Stadt nun wirklich keine Seltenheit«, sagte er. »Es ist wohl das Übliche: Der Dieb hat ein paar leicht zu transportierende Dinge von Wert und ein teures Notizbuch mit Bargeld darin mitgenommen. Und wer sollte mit Ihren Notizen denn irgend etwas anfangen können? Wenn ich Sie richtig verstanden habe, sind das Zusammenfassungen unserer gemeinsamen Quellenauswertungen. So etwas notiert jeder, der etwas über Okkultismus schreiben will. Machen Sie sich keine Sorgen. Das war mit Sicherheit ein gewöhnlicher Einbruch. Was sollte es sonst sein?«

Ja, was sollte es sonst sein?

Ich beendete das Gespräch mit Barker und rief Grant an. Er schickte mir sofort einen Handwerker vorbei, der die Tür reparierte und die Schlösser auswechselte.

Als der Mann verschwunden war, saß ich eine Zeitlang in einem Sessel und versuchte, nicht mehr an den Einbruch zu denken. Aber es ging nicht. Wie ein gewöhnlicher Sterblicher war ich zutiefst in meiner Intimsphäre verletzt. Der einzige Unterschied zu einer rein menschlichen Reaktion war wohl der, dass ich es nicht bedauert hätte, den Einbrecher auf frischer Tat zu ertappen. Ich hätte ihm gerne persönlich gezeigt, dass es ein Fehler war, ausgerechnet in diese Wohnung einzubrechen.

Schließlich hielt ich es drinnen nicht mehr aus und verließ das Haus. Ich hatte keine Pläne, aber auf einmal fiel mir Polder ein. Warum nicht diesem selbsternannten Vampir und seinen Freunden ein wenig über die Schulter sehen? Das würde mich sicherlich ablenken.

Mit einem Taxi fuhr ich zu Polders Privatadresse, wo ich in sicherer Entfernung vor dem Mietshaus wartete. Lange Zeit geschah nichts. Doch dann hielt auf einmal ein Wagen vor der Haustür. Polder stieg aus, rief den anderen noch etwas zu und suchte nach seinem Schlüssel. Ich setzte meine Kapuze auf und näherte mich ihm. Vielleicht war es die Wut über meinen Einbruch, vielleicht auch so etwas wie Ärger über die Anmaßung dieses kleinen verrückten Herrn Alucard – aber irgendwie juckte es mich in den Fingern, diesem arroganten Möchtegern-Vampir eine kleine Lektion zu erteilen.

Gerade als er die Tür aufschließen wollte, stand ich plötzlich wie hingezaubert neben ihm. Er fuhr zusammen und hob abwehrend einen Arm. Dann stand ich schon auf der anderen Seite der Tür. Polder starrte ins Leere.

»Alucard«, raunte ich. »Du sagst, du bist ein Vampir?«

Sein Kopf ruckte herum.

»Wer sind Sie?« flüsterte er.

»Ich bin aus der Hölle gekommen, um dich zu warnen.« »Was wollen Sie von mir?«

Seine Stimme klang jetzt schon wieder selbstsicherer. »Ich will dir ein bisschen angst machen.«

Seine Hand fuhr in eine seiner Manteltaschen und kam mit einem Klappmesser wieder hervor.

»Ich stech dich ab, du Sau«, schrie er und stieß die Klinge in meine Richtung. Ich machte einen blitzschnellen Ausfallschritt, und das Messer fuhr mit einem hässlichen Geräusch in den Putz der Außenmauer.

Polder wurde von seinem eigenen Schwung umgerissen, stolperte und fiel zu Boden. Ich entriss ihm das Messer und warf es weit weg. Polder starrte mich an. »Wer bist du?« fragte er wieder.

»Das weißt du immer noch nicht?« sagte ich, hob ihn mit einer Hand hoch und drückte ihn gegen die Wand.

»Ich bin dein Ende, Polder. Ich will dir zeigen, wie es ist, wenn man wirklich auf die andere Seite sieht. Die Seite, in der alle deine Alpträume Wirklichkeit werden.«

Meine Hand schloss sich um seinen Hals.

Dann ging im Treppenhaus Licht an, und ich hörte Leute die Treppe herunterkommen.

Ich ließ den zitternden Polder fallen und rannte weg. Ich hatte sowieso nicht vorgehabt, ihn zu töten. Aber ein bisschen länger hätte ich gern noch meinen Spaß mit ihm gehabt. Denn manchmal tat es eben gut, einfach nur ein bisschen gemein zu sein.

Und Polder würde sowieso niemand glauben, was immer er auch erzählte.