13 - BARKER

Schon wenige Tage später war ich dem Professor sehr, sehr nahe. Ich hatte seine Adresse im Telefonbuch gefunden und mich im Schutz der Dunkelheit zu seinem Haus geschlichen. In einem der Zimmer brannte noch Licht. Ich näherte mich langsam und immer auf Deckung bedacht. All meine Sinne arbeiteten auf Hochtouren. Ich musste äußerst vorsichtig sein. Der Professor wohnte in einem exklusiven Viertel am Rande der Stadt, das auf einem bewaldeten Hügel lag und gut bewacht war. Die Polizei und auch private Sicherheitsdienste machten dort nachts regelmäßige Kontrollfahrten. Hier wohnten die wirklich Reichen und Mächtigen. Barker hätte aufgrund seines Professorengehalts sicherlich nicht dazugehört, aber ein Erbe garantierte dem Wissenschaftler »finanzielle Unabhängigkeit«, wie ich es in einem der Bücher so nett formuliert gelesen hatte.

Schon mein Weg in das Viertel hinein war nicht ganz einfach gewesen. Einmal war ich nur knapp einer Polizeistreife entgangen, die plötzlich um die Ecke bog. Nur meine Schnelligkeit bewahrte mich vor unbequemen Fragen und einer Kontrolle meiner Papiere. Wieder einmal ärgerte ich mich, dass ich mir immer noch keinen gefälschten Ausweis zugelegt hatte.

Die meisten Häuser waren hier zudem mit Bewegungsmeldern und Alarmanlagen gesichert. Als ich näher an Barkers Fenster heranschlich, rechnete ich jeden Augenblick damit, dass gleißend helles Licht angehen oder eine Sirene ertönen würde.

Aber nichts dergleichen geschah. Und schließlich hatte ich, nur notdürftig gedeckt durch einen Busch, freie Sicht in ein Zimmer. Barker saß an einem riesigen Schreibtisch und las in einem alten, ledergebundenen Buch. Ab und an schüttelte er verärgert den Kopf, kratzte sich an seiner großen Nase und notierte mit schwungvollen Bewegungen etwas in ein kleines Heft. Das Zimmer stand voller Regale, die sich unter unzähligen Büchern bogen. An den Wänden hingen Fotos, die das ägyptische Tal der Pyramiden im warmen Licht der untergehenden Sonne zeigten. Eher unscheinbar sah ein eingerahmtes Schriftstück aus. Als ich genauer hinsah, erkannte ich lächelnd, dass es sich um eine Seite der Originalnotizen handelte, die der Schriftsteller Bram Stoker für seinen berühmtesten Roman Dracula angefertigt hatte. Die Notizen waren vor etwa zwanzig Jahren in der Rosenbach Library in Philadelphia entdeckt worden. Barker musste offenbar eine der Seiten ersteigert haben. Er hatte anscheinend wirklich etwas für Vampire übrig.

Ich stand lange reglos vor dem Fenster und beobachtete den alten Mann. Wollte ich wirklich das Risiko eingehen und Kontakt mit ihm aufnehmen? Ihn gar in mein Geheimnis einweihen? Aber ich hatte gar keine andere Wahl. Das Studium der einschlägigen Literatur hatte mich nicht entscheidend weitergebracht, und der kurze, flüchtige Kontakt mit einem Wesen meiner Art war äußerst enttäuschend gewesen. Ich musste es wagen. Am besten sofort.

Gerade wollte ich mich aus dem Schutz des Busches lösen, als plötzlich ein Auto die Auffahrt zu Barkers Haus hochfuhr. Ich erstarrte und wartete, was passieren würde. Der Wagen hielt direkt vor der Haustür, und ein Mann stieg aus. Er ging mit schnellen Schritten auf den Eingang zu, und schon erklang das Läuten einer Türglocke. Der Professor sah kurz auf die Uhr, nickte mit dem Kopf und ging aus dem Zimmer. Offensichtlich hatte der den Besucher erwartet. Wenige Sekunden später kamen der Mann aus dem Auto und Barker zurück in das Arbeitszimmer. Mich traf fast der Schlag: Michael Goldstein! Was wollte der Chef der Mordkommission von dem alten Gelehrten?

Goldstein zog seinen Mantel aus. Sein Blick flog prüfend durch das gesamte Zimmer, als ob er es gewohnt sei, alles um sich herum gewissenhaft zu kontrollieren.

Glücklicherweise war das Fenster einen Spalt geöffnet, und ich konnte jedes Wort verstehen.

»Danke, dass Sie mich so spät noch empfangen, Herr Professor«, sagte der Polizist. »Ich war schon verdammt froh, Sie endlich einmal telefonisch erreicht zu haben.«

»Schon gut, ich bin immer lange wach«, antwortete Barker und fegte ein paar Unterlagen von einem schweren Ledersessel. »Entschuldigen Sie die Unordnung. Bitte nehmen Sie Platz, Kommissar Goldstein.«

Goldstein setzte sich, öffnete eine Aktentasche und holte einen Umschlag hervor.

»Ich will gleich zur Sache kommen, Professor. Wie ich schon am Telefon sagte, ermitteln wir in einer Serie ungeklärter Mordfälle. Seit mehreren Monaten finden wir in der Stadt immer wieder Leichen von Männern, die ohne erkennbares Motiv umgebracht wurden. Nie fehlt den Opfern Geld oder andere Wertgegenstände. Es fehlt ihnen lediglich etwas anderes – ihr Blut. Die Toten sind nahezu ausgeblutet.«

Ich erstarrte. Goldstein sprach zweifellos von meinen Opfern! Plötzlich erkannte ich, wie naiv ich gewesen war. Ich hatte getötet, ohne mir ernsthaft darüber Gedanken zu machen, was die Behörden zu den rätselhaften Leichenfunden sagen würden.

»Wie unappetitlich, aber wieso kommen Sie damit zu mir?« fragte Barker.

»Nun, Herr Professor. Die Opfer sind nicht etwa aufgeschlitzt worden oder ähnliches und dann verblutet. Wir fanden in den meisten Fällen lediglich zwei kleine Wundmale am Hals und…«

Goldstein stockte. Offensichtlich war es ihm unangenehm, seine Vermutungen laut auszusprechen.

Der Professor grinste.

»Ach, und da dachten Sie: Da geh ich doch mal zu Barker, dem alten Zausel, und frage ihn, ob’s nicht ein Vampir gewesen sein könnte?«

»Natürlich nicht, Professor«, sagte Goldstein, und ich konnte den Ärger in seiner Stimme hören. Es schien ihm ziemliche Schwierigkeiten zu bereiten, jemanden umständlich um etwas zu bitten.

»Bevor ich weiterrede«, sagte er schließlich, »möchte ich Sie erst einmal bitten, sich das hier anzusehen.«

Er öffnete den Umschlag, holte eine Reihe großformatiger Fotos heraus und reichte sie dem Professor.

Ich zuckte zusammen. Die Bilder zeigten Leichen, die wie hingeworfen auf der Straße lagen. Die Opfer meiner Blutgier! Ich spürte, wie mich kaltes Entsetzen packte. Ich wusste ja, dass ich getötet hatte, um zu überleben. Aber hier auf diese Weise damit konfrontiert zu werden, war fast unerträglich. Am liebsten wäre ich sofort weggerannt, aber ich zwang mich, weiter zu horchen. Schließlich war Goldstein auf der Suche nach mir.

Der Professor sah sich die Bilder mit ernstem Gesicht an. Besonders die Vergrößerungen der Wundmale schienen ihn zu interessieren.

»Das ist in der Tat absonderlich«, sagte er endlich und reichte Goldstein die Fotos zurück. »Aber ich weiß immer noch nicht, warum Sie damit ausgerechnet zu mir kommen.«

Goldstein wollte antworten, aber der Professor hob abwehrend eine Hand. »Lassen Sie mich Ihnen eines erklären, Herr Kommissar. Ich bin Wissenschaftler und außerdem ein neugieriger Mensch. Mich interessiert alles Unbekannte, besonders das Okkulte. Ich forsche, lese, vergleiche, übersetze, ordne und untersuche. Ich weiß viel über Vampire. Aber ich weiß nicht, ob es sie wirklich gibt. Möglicherweise…«

»Aber darum geht es doch gar nicht«, platzte Goldstein mühsam beherrscht heraus. »Wir sind auf Sie gekommen, weil Sie so ein profunder Kenner der okkulten Szene sind. Sie wissen genau so gut wie ich, dass es durchgedrehte Teufelsanbeter und andere Irre gibt, die Menschen bei ihren Ritualen töten. Möglicherweise haben wir es hier mit etwas Ähnlichem zu tun. Mit einem oder mehreren Menschen, die sich einbilden, Vampire zu sein, und ihren Opfern das Blut nehmen. Jeder Mediziner kann Ihnen erklären, wie man so was macht.«

Goldstein ließ sich in seinen Sessel zurückfallen. Plötzlich sah er müde aus.

»Entschuldigen Sie meinen rüden Ton, Herr Professor. Aber wir sind in diesem Fall in eine Sackgasse geraten. Keine verwertbaren Spuren, kein Motiv. Wir müssen in jede Richtung denken. Also, meine ganz konkrete Frage: Wissen Sie von der Existenz irgendwelcher geheimer Vampir-Zirkel oder ähnlichem? Und wenn ja – halten Sie es für möglich, dass die dafür verantwortlich sind?«

Er klopfte auf den Umschlag in seiner Hand und strich sich eine Locke aus seinem Gesicht. Eine Geste, die mich trotz meiner inneren Aufgewühltheit seltsam anrührte. Wieder einmal stellte ich verwundert fest, dass mir dieser Mann, der auf der Jagd nach mir war, gefiel.

»Nun, junger Mann«, sagte der Professor und lächelte wieder freundlich. »Das ist doch mal eine klare Frage. Aber um die zu beantworten, muss ich etwas nachdenken und ein paar Erkundigungen einziehen. Spontan fällt mir nichts ein. Aber das heißt nicht, dass es nicht irgend etwas in dieser Richtung gibt. Wissen Sie, Vampire faszinieren die Menschen seit Jahrtausenden. Der Glaube an sie ist so alt wie die Menschheit selbst. Es gibt keinen populäreren Mythos, aber auch keinen, der mehr verfälscht, verdreht und verkitscht wurde. Aber ich sehe Ihren Augen an, dass Sie jetzt keinen Vortrag wünschen.«

»Sie sind ein erstaunlich guter Beobachter, Herr Professor«, antwortete Goldstein. Er lächelte nicht.

»Hier ist meine Karte«, sprach er weiter. »Wenn Sie irgend etwas finden, rufen Sie mich bitte an. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, komme ich dann noch einmal vorbei.«

Barker nahm die Karte, legte sie auf seinen Schreibtisch und stand auf.

»Ich will sehen, was ich für Sie tun kann. Kommen Sie, ich bringe Sie zur Tür.« Die beiden verließen den Raum, und ich hörte noch undeutliches Gemurmel vom Eingang.

Zum Glück konnte ich das Fenster von außen öffnen. Ich sprang lautlos in das Zimmer und ging zu Barkers Schreibtisch. Auf der Karte standen Goldsteins dienstliche und private Adresse. Ich prägte mir beide ein. Diesen Mann musste ich im Auge behalten. Wenn ich ihn beobachtete, würde ich stets über die Jagd nach mir im Bilde sein.

Dann verließ ich das Zimmer und wartete in der Dunkelheit, bis Goldsteins Wagen – ein auffallend schönes, altes BMW-Kabrio – verschwunden war.

Meine Gedanken überschlugen sich. Der Ekel über meine Taten war nahezu verschwunden, verdrängt in eine der Ecken meines übernatürlichen Bewusstseins. Der Mensch in mir hatte sich wieder zurückgezogen, und der Vampir beherrschte mein Denken. Es war sonderbar, dass ich plötzlich keine Angst mehr bei dem Gedanken verspürte, gejagt zu werden. Endlich geschah etwas in meinem neuen Leben, das mich herausforderte, das mich zwang, aktiv zu werden.

Meinen Besuch bei Barker verschob ich auf später. Ich wollte schnell nach Hause und in Ruhe nachdenken. Ich, die Gejagte, wollte meinen Jägern stets einen Schritt voraus sein. Aber dazu musste ich sie verdammt gut im Auge behalten. Es schien unvermeidbar zu sein – ich würde den Club auch tagsüber verlassen müssen.