17 - EIN NEUER FREUND

Ich ließ mich einige Tage nicht im Club sehen und konzentrierte mich ganz auf meine neue Wohnung. Die leichten Gardinen vor den Fenstern ersetzte ich durch schwere, dunkle Vorhänge, um das Licht tagsüber auszusperren. Ich nahm die etwas kitschigen Bilder meines Vormieters von den Wänden und hängte Reproduktionen von Edward Hopper und Paul Klee auf, zwei Maler, die ich schon als ganz junges Mädchen geliebt hatte. Dann saß ich lange in einem schweren Ledersessel, starrte die Bilder an und dachte an die Vergangenheit. All das, was mich damals beschäftigt hatte, war jetzt so weit weg. Peter, die Universität, meine Freunde, die Familie. Dinge aus einem anderen, fremden Leben.

Doch so wohl ich mich in meiner neuen Behausung auch fühlte – die Unruhe blieb. Ich musste handeln. Die letzten Tage waren nur eine kleine Atempause, bevor ich entscheidende Schritte unternehmen würde. Und der Besuch bei Professor Barker war der erste davon.

In einer klaren Vollmondnacht machte ich mich auf den Weg. Kurz nach 23 Uhr stand ich im Garten von Barkers Haus. Der Professor arbeitete wieder an seinem Schreibtisch. Ich wusste, dass er allein lebte, schlich aber trotzdem um das gesamte Gebäude. Nirgendwo sonst brannte Licht im Haus. Kein Geräusch war zu hören. Barker war allein. Jetzt würde ich seine Einladung annehmen. Aber wie sollte ich hineinkommen? Einbrechen und Gefahr laufen, den alten Mann zu Tode zu erschrecken? Einfach ans Fenster klopfen und wegen irgend etwas um Hilfe bitten? Wer würde schon vor einer jungen Frau Angst haben? Aber irgendwie schien es mir am sinnvollsten, einfach zu klingeln. Der Eingang war von der Straße aus nicht einzusehen, und auf diesem Weg würde ich ohne Probleme ins Haus kommen.

Also ging ich zur Haustür, klingelte und wartete. Nach ein paar Sekunden klappte drinnen eine Tür, und ich hörte, wie sich Barker mit schlurfenden Schritten der Tür näherte. Er sah nicht durch den Spion, er fragte nicht, wer da sei, sondern machte einfach mit unwirschem Gesicht die Tür auf, sah mich an, runzelte die Stirn und sagte: »Gute Güte, wozu habe ich eine Sprechstunde?«

Ich stutzte. Dann begriff ich. Er hielt mich offensichtlich für eine Studentin

»Ich bin keine Studentin, Professor«, sagte ich.

»Und was wollen Sie dann, junge Frau?«

»Sie haben mich und meinesgleichen zu sich eingeladen.«

Barker schüttelte verärgert den Kopf.

»Ich habe, Teufel auch, niemanden eingeladen. Ich bin froh, wenn ich meine Ruhe habe, und nun entschuldigen Sie mich bitte.«

Er wollte die Tür schließen. Aber ich schlüpfte schneller, als er sehen konnte, an ihm vorbei und stand im Bruchteil einer Sekunde hinter ihm im Hausflur.

»Was, äh, wo…?«

Der Professor war verwirrt, dass ich so plötzlich verschwunden war.

»Doch, Sie haben mich eingeladen«, tönte meine Stimme von hinten. »Vor Millionen Menschen im Fernsehen. Und jetzt bin ich hier.«

Barker fuhr herum. Fassungslos starrte er mich an.

»Haben Sie denn Ihre Bücher nicht ordentlich gelesen, Herr Professor? Es heißt doch immer wieder, dass man Vampire nicht in sein Haus einladen soll. Dann können sie kommen und gehen, wann sie wollen. Aber ich darf Sie beruhigen. Das ist, wie so vieles, was überliefert wird, Unsinn. Ich gehe da hin, wo ich will, ob nun eingeladen oder nicht.«

Barker rührte sich immer noch nicht. Schließlich aber ging ein Ruck durch seinen Körper, und er hatte sich wieder im Griff.

»Beeindruckend, junge Frau. Sie sind irgendwie an mir vorbeigekommen, ohne dass ich etwas gemerkt habe. Ich habe dafür keine Erklärung. Zumindest noch nicht.«

Er faßte sich grübelnd ans Kinn.

Sein Verhalten gefiel mir. Er schrie nicht herum, forderte mich nicht auf zu verschwinden, sondern war ganz offensichtlich neugierig geworden.

»Was sagten Sie doch gleich, junge Dame«, fuhr er fort. »Wen soll man nicht zu sich einladen?«

»Vampire, Professor, Vampire.«

»Sie sind also ein Vampir?«

»Genau das, Professor.«

»Und Sie erwarten, dass ich Ihnen das glaube?«

»Nun, vielleicht nicht sofort, Professor. Aber bald, sehr bald.«

»Ich glaube, Sie sollten jetzt gehen«, sagte Barker und deutete mit der Hand zur Tür. »Sie sind eine hübsche junge Dame, aber offensichtlich nicht ganz bei Sinnen. Auf Wiedersehen.«

Aber kaum war die letzte Silbe seiner Worte verklungen, da war ich schon mit übernatürlicher Geschwindigkeit an ihm vorbei zur Tür gerannt, schlug sie zu und hastete in eine andere Ecke des Flurs.

Barker zuckte zusammen, als die Tür knallte und ich plötzlich verschwand, um danach vier Meter entfernt wiederaufzutauchen.

»Ob Sie nun wollen oder nicht. Ich bin Ihr Gast«, sagte ich und lächelte. Die Sache machte mir allmählich Spaß.

Barker stand mit offenem Mund im Flur. Er wurde blass, seine Augen weiteten sich. Er hatte begriffen. Die Welt des Übersinnlichen, über die er so oft geredet, gestritten und spekuliert hatte – hier hatte sie zum ersten Mal für ihn ihre Pforten geöffnet. Ein Wesen aus dieser phantastischen Welt stand vor ihm – in seinem eigenen Hausflur.

»Ich muss mich setzen«, flüsterte er.

»Aber sicher«, sagte ich. »Lassen Sie uns in Ihr Arbeitszimmer gehen.«

Dort angekommen, ließ sich Barker in einen der schweren Sessel fallen und sagte erst einmal kein Wort. Er starrte mich nur mit durchdringendem Blick an.

»Wahrscheinlich hoffen Sie immer noch, das Ganze hier würde sich rational erklären lassen, nicht wahr, Professor?« sagte ich.

»Hoffen ist nicht das richtige Wort«, antwortete Barker. »Im Grunde habe ich lange auf so einen Moment gewartet, aber nun will ich mir nicht eingestehen, dass es tatsächlich soweit ist. Vielleicht hat mir jemand ein Halluzinogen ins Essen gemischt. Vielleicht haben Sie mich hypnotisiert. Es kann viele Erklärungen geben.«

Er fingerte nervös eine Zigarette aus einer zerknitterten Packung und zündete sie an.

»Und doch, Professor, spüren Sie, das es nicht so ist, nicht wahr?«

Er schwieg.

»Sehen Sie«, sagte ich, stand auf und ritzte mir mit meinem Fingernagel eine breite Schnittwunde in den Arm. Blut schoss hervor, aber schon nach Sekunden versiegte der Strom, und die Wundränder zogen sich wie in einer Zeitraffer-Aufnahme zusammen. Ich hielt Barker meinen Arm direkt vors Gesicht. Er sah, wie sich die Wunde endgültig schloss und spurlos verschwand.

»Und nun, Professor, schauen Sie mir in die Augen. Sehen Sie nicht ein bisschen merkwürdig aus?«

Barker starrte mich wortlos an.

Ich schürzte meine Lippen.

»Und hier, das wohl bekannteste Merkmal meiner Art. Nicht so gigantisch wie im Kino. Aber immerhin: meine Reißzähne.«

»Hören Sie auf!«

Barker schlug die Hände vors Gesicht.

»Es ist also wahr«, raunte er. »All die Geschichten. All die Mythen.«

»Wie man’s nimmt«, antwortete ich. »Genaugenommen bin ich hier, um gemeinsam mit Ihnen herauszufinden, was wahr ist und was nicht. Sie haben das Wissen, die Bücher, die Theorien. Ich biete meine bloße Existenz. Als Studienobjekt, wenn Sie so wollen.«

Barker stand auf. Mit langsamen Schritten ging er auf mich zu, hob eine Hand und fragte: »Darf ich Sie berühren?«

»Natürlich, aber versprechen Sie sich nicht zuviel davon. Ich fühle mich nicht viel anders an als ein Sterblicher.«

Er legte mir seine faltige Hand auf die Stirn, verweilte einen Moment und ging dann zurück an seinen Platz.

»Sie müssen entschuldigen. Ich brauche etwas Zeit, um das alles zu verdauen«, sagte er.

»Aber natürlich«, antworte ich lächelnd. »Bevor wir überhaupt weiterreden, muss ich noch eines unmissverständlich klarstellen, Herr Professor: Wenn Sie mit irgendeinem Menschen über mich reden… wenn Sie irgend etwas gegen mich unternehmen, werde ich Sie töten. Haben wir uns verstanden?«

Barker wurde blass und nickte. »Ich habe verstanden.«

Wir schwiegen eine Weile beide. Dann gab sich der Professor einen Ruck, richtete sich auf und fragte – wieder ganz Wissenschaftler: »Wie kommt es, dass ein Vampir etwas über Vampire wissen will? Das klingt paradox.«

»Nun, Professor. Ich will Ihnen erzählen, was mir passiert ist. Ich heiße übrigens Ludmilla und war noch vor einem Jahr ein Mensch.«

Und dann erzählte ich ihm alles. Er hörte aufmerksam zu, rauchte ab und zu eine Zigarette, notierte gelegentlich etwas und schien mit jedem meiner Worte faszinierter zu sein. Ich merkte, wie gut es mir tat, mir einmal alles von der Seele zu reden. Nichts verheimlichen, nicht lügen zu müssen. Ich ließ nichts aus. Auch nicht die Geschichte mit Serge. Barker unterbrach mich kein einziges Mal.

Als ich geendet hatte, graute draußen der Morgen.

Barker sah mich lange an, blätterte zerstreut in seinem Block und sagte dann: »Ich bin fasziniert. Endlich habe ich einen lebenden Beweis für eine paranormale Existenz. Und dann handelt es sich noch um ein Wesen, das sogar wissenschaftlich ausgebildet ist. Was für ein Glücksfall! Ich will Ihnen helfen. Ihnen alles erzählen, was ich weiß. Mit Ihnen forschen. Ich habe eine Unmenge Fragen. Aber eines vorweg: Wie soll ich damit leben, dass Sie durch die Stadt laufen und Menschen töten?«

»Das weiß ich nicht, Professor«, antwortete ich. »Ich bin, was ich bin. Ich muss trinken oder leiden. Ich weiß nicht einmal, ob ich sterben würde, wenn ich es nicht täte. Aber ich weiß, dass der Durst nicht zu ertragen ist. Und nicht nur das: ich kann einfach nicht anders. Wenn es soweit ist, zwingt mich etwas, es zu tun. Etwas, das stärker ist als ich. Es hat keinen Sinn, wenn wir hier über die Freiheit des Willens diskutieren. Das, Professor, wäre ein menschlicher Diskurs. Aber ich bin nun mal kein Mensch.«

Barker schwieg. Ich sah die Verzweiflung in seinem Blick.

»Nun gut, Professor«, sagte ich schließlich. »Erstens werden die Intervalle immer größer. Und zweitens biete ich Ihnen an, dass ich mir nicht meine Opfer suche, sondern dass sie mich auswählen.«

»Wie darf ich das verstehen?«

»Nun, ich bin zwar ein Vampir. Aber äußerlich immer noch eine junge Frau. Wenn der Hunger kommt, werde ich nachts herumlaufen und versuchen, stets so lange zu warten, bis irgendein Mann auf die Idee kommt, mich zu überfallen. Dann trifft es nur die, die es im Grunde nicht besser verdient haben. Sie würden sich wundern, wie schnell das in bestimmten Gegenden geht. Pech für die Herren, aber zumindest sind sie keine unschuldigen Lämmer auf dem Weg nach Hause zu den Kindern.«

»Ich weiß nicht, ob mich das wirklich tröstet«, antwortete Barker mit bitterem Lächeln. »Aber es ist wohl alles, was ich bekomme, oder?«

»So ist es.«

Draußen wurde es immer heller.

»Ich muss jetzt gehen«, sagte ich. »Ich komme heute Abend wieder, wenn es Ihnen recht ist.«

Barker nickte und stand auf. Gemeinsam gingen wir zur Eingangstür. Ich hatte natürlich registriert, dass er mir Goldsteins Besuch verschwiegen hatte. Wollte er mich ans Messer liefern? Oder wollte er nur einfach noch darüber nachdenken? War es vielleicht besser, ihn doch jetzt sofort zu töten? Ich war hin- und hergerissen. Ich mochte den alten Mann, und es tat so gut, offen zu reden.

Aber dann, als ich schon ein paar Schritte nach draußen gemacht hatte, rief er plötzlich: »Ludmilla, warten Sie.«

Ich drehte mich um. Er trat hinaus. »Vor ein paar Tagen war ein Polizist bei mir. Er hat…«

»Ich weiß«, unterbrach ich ihn. »Kommissar Goldstein. Ich bin froh, dass Sie das gesagt haben, Professor. Wir sprechen morgen darüber.«

Dann strich ich ihm sanft über das Gesicht und verschwand, ehe seine sterblichen Augen auch nur einen Wimpernschlag vollendet hatten.