7 - GRANTS CLUB

Grants Club« entpuppte sich als langgestrecktes, zweistöckiges Gebäude und wirkte auf den ersten Blick wie eine edle Diskothek. Der Club lag direkt an einer großen Straße in der teuren Ecke des Bahnhofsviertels. Bunte Laserstrahlen schossen über dem holzgetäfelten Eingang in den Himmel. Von drinnen ertönte cooler Acid-Jazz.

»Komm«, sagte Grant, als ich zögernd vor der Tür stand. »Oder sieht das hier vielleicht wie ein billiger Puff aus? Hier ist alles vom Feinsten: das Essen, die Drinks und die Show. Wir sind so etwas wie ein Szene-Laden. Rotlicht und edel – das ist zur Zeit die angesagteste Mischung.« Er hatte seine alte Selbstsicherheit wiedergewonnen. Vielleicht führte er seine seltsame Angstattacke im Wagen ja tatsächlich auf den Überfall zurück.

Als ich den Club betrat, setzte ich meine Sonnenbrille wieder auf. Ich hatte wenig Lust auf noch mehr erstaunte Blicke in meine sonderbaren Augen.

Der Raum wurde von massiven Steinsäulen unterteilt und war geschmackvoll eingerichtet. Rund fünfzig Gäste saßen an unaufdringlichen Designermöbeln. Es gab aber auch mehrere gemütliche Nischen, die, so Grant, für besondere Besucher reserviert waren. Am Boden glänzten Marmorfliesen; moderne Kunst, dezent beleuchtet, zierte die Wände. An der Frontseite war eine Bühne zu sehen, auf der jedoch gerade nichts los war. Kellner huschten hin und her, tischten Speisen und Getränke auf und machten dabei einen äußerst beflissenen Eindruck. Nein, Grant hatte recht – wie ein Puff sah das hier wirklich nicht aus. Der hintere Teil des Raums wurde von einer ziemlich opulenten Bar ausgefüllt. Von dort löste sich plötzlich eine hünenhafte Gestalt und kam mit schnellen, federnden Schritten auf uns zu.

»Verdammte Scheiße, Boss. Wie sehen Sie denn aus? Was ist passiert?«

»Ludmilla«, sagte Grant und deutete mit einer übertriebenen Geste auf den besorgten Mann. »Das ist Carl, mein Geschäftsführer. Carl, das ist Ludmilla, und man kann mit Fug und Recht sagen, dass sie mir vor einer halben Stunde das Leben gerettet hat.«

Grant erzählte die ganze Geschichte. Carl hörte schweigend zu. Ab und zu blickte er ohne erkennbare Regung in meine Richtung. Er war groß, hatte breite Schultern und trug einen kleinen Pferdeschwanz. Ich spürte sofort, dass er ein dummer, aber gefährlicher Mann war. Bei Grant hatte ich auf Anhieb ein gutes Gefühl gehabt, bei Carl war es genau umgekehrt.

»Ludmilla wird bei uns arbeiten«, beendete Grant schließlich seine Geschichte. »Sie kann sich erst mal an der Bar nützlich machen. Dann sehen wir weiter.«

Carls Miene verfinsterte sich. »Boss, wir brauchen niemanden. Warum geben Sie ihr nicht ein bisschen Geld und…«

»Carl, Carl«, sagte Grant und nahm den Hünen mit übertriebener Zärtlichkeit in den Arm. »Als ich hier eben reinging, stand, glaub ich, ›Grants Club‹ über der Tür. Das heißt doch wohl, dass ich sage, wer hier arbeitet und wer nicht, oder? Diese Frau hat mir gerade den Arsch gerettet. Also, Ludmilla gehört ab sofort zur Mannschaft und wird fürs erste oben in einem der Zimmer wohnen. Habe ich mich klar ausgedrückt?«

Grant hörte auf zu lächeln.

Carl nickte und ging ohne ein weiteres Wort zurück an die Bar. »Du musst entschuldigen«, sagte Grant. »Carl ist ein guter Mann, aber manchmal ziemlich übellaunig. Und eigentlich ist er fürs Personal verantwortlich. Na ja, der wird schon noch umgänglicher.«

Dann nahm er meinen Arm und zog mich zu einer Treppe, die in den zweiten Stock hinaufführte. Von unten hörte ich noch eine Lautsprecheransage: »Freuen Sie sich jetzt auf Gilda und ihr ganz besonderes Programm.«

Ich blickte Grant fragend an. »Besonderes Programm?«

Er lächelte und sagte: »Die Show kannst du dir nachher ansehen. Lohnt sich.«

Oben befanden sich sechs kleine Zimmer mit Kochnische und Bad. »Hier wohnt ein Teil des Personals. Das Zimmer hier ganz hinten ist frei«, sagte Grant und öffnete eine Tür.

»Lass bitte das Licht aus, ich habe Kopfschmerzen«, beeilte ich mich zu sagen. Schweigend standen wir uns im Dunklen gegenüber.

»Ich verdanke dir einiges, Ludmilla«, sagte Grant schließlich. »Nicht jeder hätte sich in dieser Gegend mit zwei Spikes angelegt, um einem Unbekannten zu helfen. Ich stelle dir keine Fragen. Ich will auch gar nicht wissen, was du angestellt hast.«

Er zögerte kurz. Dann sprach er weiter. »Du kannst hier bleiben, solange du willst. Aber vor was auch immer du fliehst, denke daran: Dieser Laden ist sauber und soll es bleiben. Keine Probleme. Das ist meine einzige Bedingung: Du darfst mir keine Probleme bereiten.«

Dann ging er und schloss die Tür.

Ich ließ mich mit einem Seufzer aufs Bett fallen. Was für eine Ironie! Ich, die untote Mörderin hatte eine Zuflucht gefunden, weil ich einem Menschen das Leben gerettet hatte. Ich hatte wirklich verdammtes Glück gehabt. Das Zimmer gefiel mir. Grant war in Ordnung, und sein Club bot die einmalige Chance, nachts zu arbeiten und tagsüber zu schlafen. Außerdem war das Bahnhofsviertel mit seinen eigenen Gesetzen und schrillen Bewohnern genau die richtige Tarnung für mich. Hier würde ich, so hoffte ich, mit meinem etwas sonderbaren Aussehen nicht weiter auffallen. Tätowierungen, plastisch-chirurgische Manipulationen oder farbige Kontaktlinsen waren hier keine Seltenheit. Mit etwas Glück ging ich als eine weitere Exzentrikerin durch. Zumindest, solange ich es schaffte, meinen Hunger einigermaßen unter Kontrolle zu halten.

Ich stand auf, ging ins Badezimmer und machte Licht. Erst jetzt erkannte ich im Spiegel das unheilvolle Strahlen meiner untoten Augen. Ein grauenvoller Nachhall meiner letzten erfolgreichen Jagd. Ich wandte mich entsetzt ab. Und doch spürte ich noch etwas. Ein sonderbares Gefühl von Stolz und Befriedigung. Es war nicht zu glauben – etwas in mir fing an, dieses furchtbare Wesen, das ich jetzt war, dieses Monster in Frauengestalt, zu mögen. Auf der Spiegelablage stand ein Zahnputzbecher aus Porzellan. Ich nahm ihn in die Hand und drückte zu. Er zerplatzte, ohne dass ich mich sonderlich angestrengt hatte. Eine Scherbe schnitt mir tief in die rechte Hand. Ich spürte nur einen leichten Schmerz und sah fasziniert zu, wie das Blut langsam ins weiße Waschbecken tropfte. Blut, meine Nahrung, mein Fluch. Ich musste lächeln und fühlte, wie meine kleinen, spitzen Reißzähne fast zärtlich meine Lippen berührten. Ein Schauer durchfuhr mich. Die Wunde schloss sich nach wenigen Sekunden und verschorfte.

Ich verließ das Badezimmer und ging ruhelos im Zimmer auf und ab. Was geschah nur mit mir? Ich spürte deutlich, wie ich mir selbst fremd wurde. Einerseits empfand ich immer noch wie ein Mensch, andererseits merkte ich, wie etwas anderes in mir immer stärker wurde. Eine Macht, deren archaische Urgewalt mich ängstigte und zugleich faszinierte. Ich wusste, ich konnte nur überleben, wenn ich es schaffte, diese Macht zu kontrollieren. Der Mensch in mir musste weiterleben. Aber was für ein Mensch war das? Ich würde nie Kinder bekommen, wie ich es mir schon als kleines Mädchen gewünscht hatte. Ich würde niemals heiraten. Niemals mehr einen Mann lieben. Niemals mehr reisen. Als Studentin wollte ich all die großen, mythischen Orte der Archäologie besuchen: das Grab des Tut-ench-Amun, die sagenumwobene Terrakotta-Armee in China, das Tal der Pyramiden und die Höhlen der Steinzeitmenschen von Lascaux. Doch jetzt war ich selber ein fleischgewordener Mythos, Angehörige einer wahrscheinlich uralten, fremdartigen Rasse von unheimlichen Wesen.

Ich blieb mitten im Zimmer stehen. Es musste noch andere wie mich geben! Und in diesem Moment wuchs der Entschluss in mir, sie zu suchen und irgendwann zu finden. »Grants Club« war eine sichere Zuflucht. Hier würde ich alles zusammentragen, was je über Vampire geschrieben worden war. Ich musste nur vorsichtig sein, vor allem Carl gegenüber. Ich hatte seine Ablehnung, seine Feindschaft gespürt. Meine Muskeln strafften sich. Zur Not würde ich ihn töten. Ein Lächeln huschte über mein Gesicht. Wer konnte schon wissen, dass diese junge Frau mit dem zierlichen, schlanken Körper den Tod brachte?

Von unten hörte ich wieder Musik. Der Ansager kündigte mit dramatischer Stimme den Showblock an. Ich entspannte mich und ging zur Tür. Es war an der Zeit, mir das besondere Programm anzusehen.