15 - RACHE

Drei Nächte später hockte ich auf einem hohen Baum vor Serges Grundstück und beobachtete sein Haus. Meine Sinne waren bis zum Zerreißen gespannt. Ich hatte kurz zuvor getrunken und nahm alle Reize um mich herum mit ungeheurer Intensität auf. Ich hörte die Wachen bei ihren Patrouillengängen reden und verstand jedes Wort. Ich hörte das Hecheln der Hunde und das leise Klirren ihrer Halsbänder. Ich sah trotz der Entfernung von mehreren hundert Metern deutlich das Gesicht jedes Menschen, der sich auf dem Areal unter mir bewegte.

Nach ein paar Stunden hatte ich alle Informationen, die ich brauchte. Die Wachen, insgesamt sechs Mann, schritten in Zweiergruppen regelmäßig das gesamte Gelände ab. Jeder trug einen Revolver in einem Halfter. Vier Hunde, ein Mastiff, zwei Pitbulls und ein Dobermann, liefen frei auf dem Grundstück umher. Eine vier Meter hohe Mauer schützte das gesamte Areal. Der Eingang war durch ein breites Stahltor gesichert, vor dem eine zusätzliche Wache postiert war, um Besucher zu kontrollieren.

Mein Plan war ebenso einfach wie riskant. Jeder Punkt am äußersten Rand des Grundstücks wurde alle zehn Minuten von einem der Wächterteams passiert. In einer der Pausen dazwischen würde ich über die Mauer klettern und im Schutz der Dunkelheit auf das Gelände springen. Dann hätte ich zuerst wahrscheinlich nur mit den Hunden zu tun. Die Mauer war hoch, aber ich war sicher, dass ich es schaffen würde. Dennoch konnte ich noch nicht losschlagen: Serge war noch nicht in seinem Haus. Ich hatte es lange genug beobachtet, um sicher zu sein, dass sich zwar vier Menschen darin aufhielten, zwei Frauen und zwei Männer – Serge jedoch war nicht dabei. Er schien unterwegs zu sein, um seine dreckigen Geschäfte abzuwickeln.

Ich beschloss zu warten. In dieser Nacht musste es sein. Ich sah Mattis Gesicht vor mir, als er starb, und Lindas furchtbare Wunden. Ich wollte meine Rache – und ich wollte sie heute.

Doch meine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Erst nach vier Stunden, in denen ich bewegungslos auf dem Baum gehockt hatte und in meinem Hass badete, sah ich einen Wagen auf das Tor zuhalten. Der Wächter warf nur einen kurzen Blick hinein, hob grüßend die Hand, und die schweren Pforten öffneten sich automatisch. Der Wagen hielt direkt vor dem Haus. Drei Personen stiegen aus: Serge, ein bulliger Mann und eine junge Frau. Sie gingen lachend auf den Eingang zu und verschwanden im Haus. Eine Minute später ging in einem der oberen Zimmer das Licht an. Serge und die Frau betraten den Raum und setzten sich an eine Bar. Der Wagen wurde von einem der Wächter in eine Garage gefahren, und Ruhe senkte sich wieder über das Grundstück.

Jetzt musste ich handeln. Ich stieg von meinem Baum herunter und schlich lautlos zu der Stelle, von der aus ich über die Mauer steigen wollte. Geduckt hinter einer Hecke, wartete ich auf die nächste Patrouille. Ich roch sie schon, bevor ich sie sah. Einer der beiden Wachen benutzte ein grässliches Eau de Toilette. Dann waren sie vorüber. Ich verließ mein Versteck, nahm Anlauf und sprang los. Meine Hände krallten sich in der Mauer fest, und ich zog mich Zentimeter für Zentimeter nach oben. Ich nutzte jede Unebenheit, jeden kleinen Vorsprung, und schließlich hatte ich es geschafft. Mit einem dumpfen Geräusch landete ich auf dem Rasen von Serges Grundstück.

Lauernd stand ich in der Dunkelheit. Hatten die Wachen etwas gehört? Und wo waren die Hunde?

Dann hörte ich sie. Sie bellten nicht einmal, sondern rannten hechelnd und blutgierig auf mich zu. Den Pitbull und den Mastiff sah ich zuerst. Mein Herz raste. Zwei kräftige Bestien, die einen menschlichen Arm mit einem Biss durchtrennen konnten. Das war etwas anders als meine bisherigen Gegner. Nur noch drei Meter.

Kurz bevor die Hunde mich erreicht hatten, richtete ich meine gesamte Konzentration nach innen, rannte mit übernatürlicher Geschwindigkeit los, schlug einen Haken und schoss wieder auf die Hunde zu. Ehe sie auch nur registriert hatten, dass ihr Opfer nicht mehr an seinem Platz stand, hatte ich den Pitbull bereits an einem seiner Hinterläufe gepackt, riaa ihn hoch und schmetterte ihn mit aller Kraft gegen die Mauer. Dem Mastiff trat ich von unten gegen den Kopf. Er blieb wie vom Blitz getroffen liegen. Aber in diesem Moment waren auch der Dobermann und der zweite Pitbull da. Mit einem wütenden Knurren sprang mir der Dobermann an die Kehle. Ich konnte gerade noch meinen Arm hochreißen und ihn mit einem heftigen Schlag wegstoßen. Er flog mehrere Meter weit und blieb jaulend auf der Erde liegen. Dann biss der Pitbull zu. Ich spürte einen scharfen Schmerz in der linken Wade. Er hatte mich von hinten erwischt. Ich ging in die Knie, drehte meinen Körper zur Seite, packte mit beiden Händen sein Maul und riss ihm mit einem hässlichen Geräusch den Oberkiefer ab. Er jaulte grässlich, bevor er starb. Ich hatte keine Zeit, mir meine Wunde anzusehen, denn die Wachen waren auf den Lärm aufmerksam geworden. Ich hörte bereits Stimmen und sah das Licht von Taschenlampen, die sich auf mich zubewegten. So schnell ich konnte, lief ich auf das Haus zu, kletterte an einer Dachrinne hoch auf einen kleinen Balkon und legte mich flach auf den Boden. Unter mir herrschte inzwischen hektische Betriebsamkeit. Die Wachen hatten die Hundeleichen erreicht.

»Was ist denn das für eine Sauerei?« schrie eine Stimme.

»Scheinwerfer an. Jemand ist auf dem Grundstück!« rief eine andere.

Nach einigen Sekunden war fast das gesamte Areal in helles Licht getaucht. Mein Herz klopfte bis zum Hals. Der Balkon war etwa zwei Meter über der Erde angebracht. Noch war niemand auf die Idee gekommen, dass sich dort jemand verstecken konnte. Sie suchten jedoch systematisch jeden Winkel des Geländes ab. Ich hörte auch Serges Stimme im allgemeinen Gebrüll. »Kontrolliert auch alle Fenster!« schrie er. »Ich will in ein paar Minuten wissen, ob jemand drinnen sein könnte. Du kommst mit rein, Boris.« Dann verschwand er wieder nach drinnen.

Das Pochen in meinem Bein hatte etwas nachgelassen. Erst jetzt sah ich, was der Hund angerichtet hatte. Das Fleisch meines Beins war bis zum Knochen aufgerissen. Doch die Wunde blutete schon nicht mehr. Ich konnte förmlich zusehen, wie sich die Haut und das Gewebe langsam erneuerten. Schmerzen hatte ich keine mehr. Aber ich war innerlich aufgewühlt. Ich hatte den Kampf mit den Hunden unterschätzt. Bei meinen menschlichen Gegnern half mir stets das Überraschungsmoment. Sie rechneten einfach nicht damit, dass ihnen eine schlanke, junge Frau irgendwie gefährlich werden könnte. Die Hunde jedoch waren sofort und nahezu gleichzeitig zum Angriff übergegangen. Ich würde noch einiges lernen müssen, wenn ich in Zukunft bei ähnlichen Aktionen unverletzt bleiben wollte.

»Holt Verstärkung«, hörte ich eine der Wachen sagen. »Wir müssen auch außerhalb des Zaunes alles unter Kontrolle haben.«

Meine Gedanken überschlugen sich. War es besser, sofort mit übernatürlicher Geschwindigkeit an den Wachen vorbeizurasen und über die Mauer zu flüchten? Oder sollte ich versuchen, ins Innere des Hauses zu gelangen, um mir doch noch Serge zu schnappen? Ich beschloß, erst einmal zu warten. Schon bei der Flucht auf den Balkon hatte ich gemerkt, dass meine Wunde mich behindert hatte. Ich war langsamer und weniger energiegeladen als beim Überwinden der Mauer gewesen. Wieder zu Kräften zu kommen war jetzt das oberste Gebot. Aber wie lange konnte ich hier noch liegen bleiben?

Dann ging plötzlich das Licht im Balkonzimmer hinter mir an, und jemand betrat den Raum. Die Vorhänge waren zugezogen, und die Person, die jetzt offensichtlich Serges Befehl befolgte und die Fenster kontrollierte, konnte mich nicht sofort sehen. Ich stand langsam auf und drückte mich eng an die Wand. Unten liefen die Wachen umher und machten jede Menge Lärm. Glücklicherweise sah gerade niemand hoch. Dann ging die Balkontür auf. Ein Mann war im Begriff, herauszutreten. Doch bevor er auch nur seinen Fuß auf den Boden gesetzt hatte, wirbelte ich herum, packte ihn an der Gurgel und drückte ihn ins Zimmer hinein. Er gab keinen Laut von sich. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich in meiner Panik zu fest zugedrückt und ihm den Hals zerquetscht hatte. Blut schoss hervor und spritzte mir ins Gesicht und auf die Kleidung. Ich legte die Leiche vorsichtig auf den Boden, löschte das Licht und schloss von innen leise die Balkontür. Dann lauschte ich im Dunkeln. Unten herrschte die gleiche hektische Betriebsamkeit wie eben. Im Haus selber waren nur dumpfe Stimmen von irgendwoher zu vernehmen. Niemand hatte etwas bemerkt. Ich war in Serges Allerheiligstem! Meine Angst und meine Unsicherheit waren auf einmal verflogen. Der Grund war das Blut des Mannes, den ich gerade getötet hatte. Der Geruch berauschte mich, ließ meinen Atem schneller gehen und meinen Hass auf Serge wieder so intensiv werden wie zuvor. Jetzt musste ich den Mann finden, der meine Freunde töten ließ, und ihn vernichten.

Im Zimmer herrschte fast völlige Dunkelheit. Aber in einem Spiegel in der Ecke sah ich zwei kleine Punkte leuchten. Ich lächelte und leckte mir etwas Blut von meiner Hand. Es waren meine eigenen Augen, die mich dort aus der Finsternis heraus anstarrten.

Unten hörte ich mehrere Wagen ankommen. Das Tor öffnete sich. Es kamen immer mehr Menschen, die Jagd auf mich machen sollten. Ich musste mich beeilen.

Im Flur draußen war weiterhin alles ruhig. Ich öffnete vorsichtig die Tür und spähte hinaus. Niemand war zu sehen. Dann hörte ich Serges Stimme hinter einer der geschlossenen Türen auf der anderen Seite des Flurs. »Sei ganz ruhig«, sagte er offensichtlich zu seiner Begleiterin. »Du wirst sehen. Gleich haben Boris und die anderen den Kerl und machen Hackfleisch aus ihm. Und zur Not habe ich noch das hier.«

Er hatte also eine Waffe bei sich. Wahrscheinlich eine Pistole. Ich überlegte. Das war meine Chance. Nur Serge und die Frau im Zimmer. Eine bessere Möglichkeit würde ich heute nacht wohl nicht mehr bekommen. Ich wollte gerade die Tür eintreten, als Schritte auf dem Gang zu hören waren. Ich schaffte es gerade noch rechtzeitig zurück ins Balkonzimmer und spähte durch einen Spalt nach draußen. Es war der muskelbepackte Kerl aus dem Auto – wahrscheinlich Boris, Serges persönliche Leibwache. Boris klopfte, murmelte, »Ich bin’s, Chef«, und Schritte näherten sich auf der anderen Seite der Tür. Ich handelte sofort, sprang los und schlug Boris mit aller Kraft von hinten auf den Kopf. Er brach mit einem unterdrückten Grunzen zusammen, gerade als sich die Tür zu Serges Zimmer öffnete. Ich stieß sie auf und warf mich hinein. Serge wurde von der Wucht meines Körpers nach hinten gerissen und fiel gegen seine Freundin. Sie strauchelte, schlug mit dem Kopf gegen eine Tischkante und blieb ohnmächtig liegen, ehe sie auch nur begriffen hatte, was passiert war. Auch Serge lag auf dem Boden, blickte mich mit weit aufgerissenen Augen an, stöhnte, »Mein Gott«, und griff in seine Jacke. Ich war sofort über ihm und entriss ihm die Waffe.

»Keinen Mucks, oder du stirbst sofort«, zischte ich und richtete die Pistole auf ihn. Er sah mich ungläubig an. Sein Blick wanderte über meine blutbespritzte Kleidung und blieb schließlich an meinen Augen hängen.

»Ludmilla?« stammelte er.

»Du hast dir meinen Namen ja tatsächlich gemerkt«, sagte ich. »Schade nur, dass unsere Bekanntschaft mit diesem Tage endet.«

»Wir können uns einigen«, stöhnte Serge. »Das mit dem Club war ein Versehen. Der Mann sollte euch lediglich einen Denkzettel verpassen. Ich wollte…«

»Sei still«, unterbrach ich ihn. »Einer von unseren Leuten ist tot. Einige schwerverletzt. Ich werde dich töten, Serge.«

»Du kommst hier nie und nimmer lebend raus«, sagte er.

»Ich bin ja auch lebend reingekommen.«

»Willst du Geld? Ich zahle jede Summe.«

Jetzt winselte er um sein Leben.

»Serge, ich brauche kein Geld. Genaugenommen brauche ich nichts – außer Blut. Ich bin kein Mensch, Serge.«

Ich beugte mich über ihn.

»Siehst du diese Augen? Siehst du diese Zähne, Serge? Ich werde dir dein Blut nehmen. All dein Blut. Das nächste Mal sehen wir uns in der Hölle. Aber warte nicht auf mich. Es könnte noch etwas dauern.«

Dann nahm ich ihn mir. Ich riss meinen Mund auf, öffnete mit meinen Fangzähnen seine Halsschlagader und hielt ihn dann mit ausgestreckten Armen in der Luft. Er würgte, keuchte und schlug kraftlos auf mich ein. Ich machte es ihm nicht leicht. Schließlich presste ich meinen Mund auf die Wunde und trank. Als er endlich tot war, band ich seinen leblosen Körper mit einem Gürtel an den Kronleuchter. Dort baumelte er wie ein ausgeblutetes Schwein im Schlachthof. An seine Füße band ich einen Zettel, den ich schon im Club vorbereitet hatte – eine unmissverständliche Warnung an alle, sich nicht noch einmal an »Grants Club« zu wagen.

Dann begann sich die junge Frau auf dem Boden zu bewegen. Trotz meines Blutrausches hinderte mich irgend etwas daran, sie auf der Stelle zu töten. Ich zerrte sie auf den Flur, ließ sie dort liegen und rannte zurück in Serges Zimmer. Mit einem Feuerzeug zündete ich die Gardinen an und lief zurück auf den Flur. Bis auf die benommene Frau war er immer noch leer. Ich hastete auf die andere Seite des Flurs ins dunkle Balkonzimmer und wartete.

Endlich wurde das Feuer bemerkt. Ich hörte laute Stimmen und Leute, die in Serges Zimmer liefen. Als sie seine Leiche entdeckten, war das Chaos perfekt. Es herrschte blanke Hysterie. Jetzt war der Moment gekommen, um zu verschwinden. Ich öffnete die Balkontür, schlich hinaus und sah vorsichtig nach unten. Nur noch zwei Männer waren zu sehen, die hektisch mit ihren Waffen am ausgestreckten Arm die Gegend absuchten. Die anderen waren zur anderen Seite des Hauses gelaufen, wo sich die Flammen jetzt sicherlich schon ausgebreitet hatten.

Ich sprang und landete sanft auf dem Rasen. Doch unglücklicherweise drehte sich genau in diesem Moment einer der beiden Männer um.

»Da, hinter uns!« schrie er und feuerte sofort los. Die großkalibrige Kugel durchschlug meine Schulter, und die Wucht des Geschosses warf mich nach hinten. Ehe ich mich aufrappeln konnte, waren sie schon über mir.

»Die Nutte läuft nicht mehr weg!« schrie einer der beiden und schoss mir ins Knie.

Der Schmerz war unbeschreiblich. Ich lag benommen auf dem Boden. Blut spritzte aus beiden Wunden.

»Das ist doch die Alte aus dem Club, wo du diesen schwulen Kellner umgelegt hast, Bert«, sagte der Mann, der mich zuerst getroffen hatte.

Seine Worte trafen mich noch einmal wie ein Geschoß. Hier stand also Serges gedungener Henker vor mir. Der Mann, der meine Freunde auf dem Gewissen hatte. Er kam näher, blickte lächelnd auf mich herab und holte ein Funkgerät aus der Tasche.

Eine Woge blanker Wut schoss durch meinen Körper. Die Benommenheit war plötzlich wie weggeblasen. Ich schoss wie eine gespannte Feder hoch und stürzte mich mit einem Schrei auf die beiden. Sie konnten nicht mehr reagieren. Ich erinnere mich nicht mehr, was ich mit ihnen getan habe. Ich weiß nur noch, dass ich erst wieder zu mir kam, als ich auf der anderen Seite der Mauer in einem Gebüsch keuchend auf dem Boden lag und meine Wunden betastete. Irgendwie musste ich die Flucht geschafft und mich in Sicherheit gebracht haben.

Wie eine Schlange kroch ich anschließend durchs Unterholz und verschwand in der Dunkelheit.