12 - MYTHEN

Ein paar Wochen später kam Pia eines Abends kurz vor der Sperrstunde in den Club, begrüßte mich herzlich und bestand darauf, mich zu einem Drink einzuladen. Diesmal trug sie ein klassisches »Kleines Schwarzes«. Ihre langen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie sah einfach umwerfend aus. Als ich sie auf die beiden Kraftsportler ansprach, zuckte sie nur kurz mit den Schultern und sagte: »Voll durch die Prüfung gerasselt, die beiden.«

Ich war sprachlos. Hatte sie wirklich beide abgeschleppt? Pia schien aber über das Thema nicht weiter reden zu wollen, sondern fragte mich ungeniert über meine Aufrissmethoden aus. Ich hätte hier doch sicher die freie Auswahl.

Am liebsten hätte ich geantwortet: »Ach, weißt du, gelegentlich reiße ich mir einen auf und trinke ihn leer.« Aber noch während ich darüber innerlich lachte, empfand ich plötzlich ein seltsames Gefühl von Verlust und Sehnsucht. Mir fiel wieder ein, dass ich als Mensch eigentlich immer eine Familie hatte gründen wollen. Aber ich würde niemals einem Kind das Leben schenken können. Meine Bestimmung war es, zu töten, nicht zu gebären. Ich konnte noch nicht einmal meinesgleichen schaffen, wie es in all den Mythen und Legenden über Vampire stets behauptet wurde.

Pia sah mich sonderbar an, als ich so schweigend da saß.

»Ist was mit dir? Hab ich was Falsches gefragt?« fragte sie und legte ihre Hand auf meinen Arm.

»Nein, schon gut. Ich musste nur an etwas – an jemanden – denken. Sei mir nicht böse, Pia. Es war ein langer Tag.«

Ich verabschiedete mich und ging hoch auf mein Zimmer. Dort saß ich eine Zeit still in der Dunkelheit. Dann gab ich mir einen Ruck und begann – wie fast jede Nacht – zu lesen.

Aus Bibliotheken und Buchläden hatte ich mir alles besorgt, was ich über Vampirismus finden konnte. In meinem Zimmer häuften sich einschlägige Bücher, Romane und Zeitschriften parapsychologischer Verbände, die sich mit dem Übersinnlichen beschäftigten. Zwar wurde viel Unsinn geschrieben; faszinierend war jedoch, dass es die Mythen und Legenden über Vampire praktisch in der ganzen Welt gab und ihre Ursprünge bis weit in vorchristliche Zeit zurückreichten. In Afrika wurde meine Art Asanbosam genannt. Diese Vampire hatten nach landläufiger Vorstellung hakenartige Fortsätze an den Füßen und lauerten wie riesige Zecken in den Bäumen des Urwaldes, um sich auf Wanderer zu stürzen und ihnen das Blut auszusaugen. In Irland nannte man uns Dearg-Due, in Bulgarien Krvopijac, in Indien Baital oder Churel, in China hießen Vampire Ch’Iang Shih, in Serbien Vlokoslak, auf den Philippinen Aswang und in Rumänien Striguiol. Und das waren längst nicht alle der Namen, die die Menschen überall auf der Welt ihren untoten Feinden gegeben hatten. Die meisten hatten nach den Überlieferungen menschliche Gestalt wie ich, andere, wie der kuang-shi aus China, waren fellbedeckt, zwergenhaft wie der afrikanische Adze, eine ekelhafte Mischung aus Kopf und Eingeweiden wie der malaysische Penangglan oder aber torkelnde, lebende Leichen wie einige Vampire in Osteuropa.

Ich spürte, wie die Wissenschaftlerin in mir wieder erwachte, als ich stundenlang las, verglich und Hypothesen aufstellte. Gemeinsam war fast allen Beschreibungen der vampiristischen Daseinsform das Motiv des Blutsaugens, die Abneigung gegen Sonnenlicht, extreme Körperkräfte, die spitzen Fangzähne, veränderte Augen und eine Existenz jenseits der Zeit. Die Wurzeln des Vampirglaubens schienen entweder im alten assyrischen Großreich, in Indien oder in Ägypten zu liegen. Ägypten als Wiege der Vampire erschien mir als ehemaliger Archäologin am reizvollsten. Der hochspezialisierte Totenkult dieser alten Kultur barg immer noch zahlreiche Geheimnisse. Die Ägypter kannten das geheimnisvolle ka, den unkörperlichen Spender der Lebenskraft. Vielleicht lag irgendwo im Tal der Pyramiden das Geheimnis des ewigen Lebens verborgen, und vielleicht war ich ein Teil dieses Geheimnisses? Es war ein seltsames Gefühl, all diese Dinge über Vampire, all diese Hypothesen über ihre mythologische Genese zu lesen. Es war, als ob ich in einer zwar fehlerhaften, aber gigantischen Familienchronik las. Der Hauch der Jahrtausende wehte mir aus den Büchern entgegen und versetzte mich in eine eigenartige Stimmung. Manchmal saß ich nach der Lektüre stundenlang bewegungslos am Fenster und starrte hinaus in den Nachthimmel. In diesen Phasen spürte ich nichts, außer dem Gefühl, eins zu sein mit der Schwärze.

Aber das war die emotionale Wirkung meiner stillen Lektüre. Mein Verstand sagte mir immer wieder, dass das meiste, was ich las, widersprüchlich, unsystematisch und verworren war. Historie, Aberglaube, Dichtkunst und religiöse Motive vermischten sich zu einem bunten Durcheinander. Allein die beinahe überall zu findende Behauptung, jeder Vampirbiss würde zur Geburt eines neuen Vampirs führen, widersprach nicht nur meinen eigenen Erfahrungen, sondern im Grunde auch jeder Logik. Die Welt müsste ja sonst von Vampiren überquellen. Legionen von Blutsaugern würden täglich das Heer der Untoten vergrößern und die Menschheit längst ausgerottet haben.

Was mir fehlte, war jemand, der sich wirklich auskannte, Zugang zu direkten Quellen hatte und sich weder von schwärmerischen Schwelgereien noch von rationalem Skeptizismus blenden ließ. Und ich wusste auch schon, wer dieser Jemand war. Immer wieder stieß ich in den Büchern auf den Namen eines renommierten Gelehrten: Professor Reginald Barker, ein alter Mann, der sich einen Namen als Archäologe, Anthropologe und Kryptologe gemacht hatte. Er hatte entscheidenden Anteil am Nachweis, dass die hethitische Keilschrift indo-germanischen und nicht, wie allgemein angenommen, kaukasischen Ursprungs war. Für einen Laien mochte das belanglos klingen. Wer etwas von der Entzifferung alter Schriften verstand, konnte nur den Hut vor dieser wissenschaftlichen Feinstarbeit ziehen. Vor allem aber hatte Barker einen Hang zum Okkulten. Es war sozusagen sein Steckenpferd, sich neben seiner eigentlichen Arbeit auch noch mit den berühmten Dingen zwischen Himmel und Erde zu beschäftigen, für die unsere Schulweisheit keine oder nur unzulängliche Erklärungen hatte. Barker hatte sich zu allen möglichen übersinnlichen Phänomenen geäußert und warf der etablierten Wissenschaft vor, die Augen vor gewissen Realitäten zu verschließen. Ich wollte den Professor kennenlernen. Vielleicht könnte er mir helfen. Und mit diesem beruhigenden Gedanken schlief ich in der Morgendämmerung ein.

Ein paar Tage später sah ich Professor Barker in einem Fernseh-Interview. Es ging natürlich um Okkultismus. Als Archäologe war Barker für die Medien nicht interessant. Als »Anwalt der Geister«, wie sie ihn in der Bildunterschrift bezeichneten, dagegen sehr wohl. Barker war etwa siebzig Jahre alt, hatte volles, fast weißes Haar und eine gigantische Nase, die seinem Aussehen etwas Groteskes gab. Doch seine wachen Augen, seine tiefe Stimme und seine geschliffene und pointierte Art zu formulieren, ließen ihn schnell in einem anderen Licht erscheinen.

»Herr Professor«, begann der Interviewer, ein junger Mann mit modischer Frisur und einer grässlichen Krawatte. »Sie behaupten also, dass es Geister und Monster gibt.«

»Unsinn«, donnerte Barker. »Ich behaupte gar nichts. Ich sage nur, dass es Dinge gibt, die wir mit den heutigen, wissenschaftlichen Methoden noch nicht erklären können. Nehmen Sie das Phänomen des Hellsehens. Da gibt es seriöse Forschungen an den verschiedenen, parapsychologischen Instituten. Methodisch einwandfrei. Das Ergebnis: Es gibt Leute, die offensichtlich per Gedankenkraft Bilder und Worte senden und empfangen können. Außerdem…«

»Mag ja sein, Herr Professor«, unterbrach ihn sein Gegenüber. »Aber seit ich ein kleiner Junge bin, will ich wissen, was mit Geistern und Vampiren ist? Hellsehen ist doch langweilig. Gibt’s nun Monster oder nicht?« Dann lachte er vor Begeisterung über sich selbst. Er fühlte sich gut in seiner Rolle als großer kleiner Junge, der dem Experten endlich diese coolen Fragen stellen konnte.

Baker rollte mit den Augen. »Typisch Fernsehen. Alles soll in einer halben Minute erklärt werden. Nun gut, nehmen wir mal die Vampire. Fest steht, dass es in jeder Kultur diesen Mythos gibt. Es gibt in verschiedenen Archiven amtliche Aufzeichnungen, in denen detailliert beschrieben wird, wo Vampire gesichtet wurden, was sie taten und wie man ihrer Herr wurde. Das alles kann man nachlesen. Aber nicht in der Bücherei nebenan. Da muss man schon ein paar alte Sprachen können und die richtigen Handschriften besitzen. Irgendwann werde ich das alles mal veröffentlichen. Aber seriöse Quellenauswertung interessiert ja ohnehin niemanden. Ihr wollt ja alle nur Dracula-Geschichten.«

»Und? Herr Professor? Haben Sie eine für uns? Wann trafen Sie Ihren letzten Vampir?«

»Ach, junger Mann, ich könnte mir zwar vorstellen, dass Sie einer sind und von Einschaltquoten leben…« Der Rest seines Satzes ging im Applaus des Publikums unter.

»Ich will aber«, resümierte Barker schließlich, »die Existenz von Vampiren keinesfalls ausschließen. Es kommt lediglich darauf an, diese andere Art des Seins zu erforschen und nüchtern zu analysieren. Jeder Vampir da draußen im Lande ist aufgerufen, sich bei mir zu melden. Ich sichere volle Diskretion und wissenschaftliche Unvoreingenommenheit zu.«

Barker grinste in den Applaus hinein, und die Werbung begann.

»Das kannst du haben, alter Mann«, sagte ich und schaltete den Fernseher ab.