23 - WILDNIS

Aus Angst vor den unabsehbaren Konsequenzen unserer Beziehung wollte ich mich nicht mehr mit Michael treffen. Aber schon am nächsten Abend rief er an, und ich brachte es nicht fertig, ihm einen Korb zu geben. Also trafen wir uns in seiner Wohnung, schliefen miteinander und redeten. Sein Appartement war geschmackvoll eingerichtet: Parkettfußboden, Designer-Möbel von Corbusier, expressionistische Kunst an den weißgetünchten Wänden. Michael besaß eine sehr teure Hifi-Anlage und spielte mir den ganzen Abend seine Lieblingsmusik vor, Patti Smith und Lou Reed. Hier war nichts mehr von dem arroganten, brutalen Polizisten zu erkennen, als den ich ihn kennengelernt hatte. Und trotzdem wusste ich, dass dieser Polizist ein Teil seiner Persönlichkeit war. Ein Teil, der mich seltsamerweise ebenfalls anzog. Ich mochte das Tierische, Unbeherrschte an ihm. Auch im Bett. Er war kein sanfter Liebhaber, und im Gegensatz zu früher gefiel mir das gut.

Die nächsten Wochen vergingen wie im Flug. Ich arbeitete nachts im Club, schlief tagsüber in meiner Wohnung und sah Michael abends, wann immer ich Zeit hatte. Es schien, als ob wir uns schon seit einer Ewigkeit kannten.

Um so schlimmer war es für mich, ihn ständig zu belügen. Auch wenn es ihm schwerfiel, mich nicht auszufragen, war er sehr geduldig mit mir und akzeptierte meine Ausflüchte und vagen Andeutungen über meine Vergangenheit. Aber ich wusste, dass er es irgendwann nicht mehr hinnehmen konnte, praktisch nichts von mir zu wissen. Natürlich fand er vieles sonderbar. Zum Beispiel, dass ich so selten gemeinsam mit ihm essen wollte. Erst als Vampir wurde mir klar, wie viele Dinge im menschlichen Leben mit der gemeinsamen Nahrungsaufnahme verbunden sind. Freundschaft, Liebe, Leidenschaft, Geborgenheit, all das wurde auch durch das gemeinsame Essen ausgedrückt. Zum Glück gelang es mir, normale Nahrung zu mir zu nehmen. Sie schmeckte mir nicht sonderlich. Am ehesten noch Wein. Aber es ging, und ich simulierte Genuss. Wenn ich dann irgendwann allein war, erbrach ich mich. Verständlich, dass ich nicht allzu oft dieses Vergnügen suchte. Ich tat es vor allem, weil es Michael so wichtig war. Grundsätzlich war er einfach nur glücklich, wenn wir uns sahen, und akzeptierte klaglos, dass ich ihn auch am Wochenende fast nie tagsüber sehen wollte.

Ich wusste, dass Michael und ich nur eine begrenzte Zeit miteinander haben würden, und ich wollte diese Zeit einfach nur genießen.

Aber die Realität holte uns schnell ein. Im Club war nun mal ein Mord geschehen, und Michael leitete die Ermittlungen. Er stellte Fragen, bohrte nach, wollte mehr über den Überfall wissen, bei dem Matti gestorben war, stieß aber auf eine Mauer des Schweigens. Das machte ihn wütend. Mich ließ er bei alldem außen vor. Für ihn war ich eine Studentin, die bei Grant gutes Geld verdiente und ansonsten nichts wusste. Zumindest versuchte er, sich genau das einzureden. Aber eines Tages siegte seine Neugier, und er wollte Grant über mich ausfragen. Dessen holprige Ausflüchte machten ihn nur noch neugieriger und misstrauischer. Natürlich brachte er mich nicht mit den Morden und den seltsamen, blutleeren Leichen in Verbindung, aber als Polizist spürte er sofort, dass ich irgend etwas zu verbergen hatte.

Noch am selben Abend bohrte er auch bei mir nach.

»Ich habe mit Grant über dich gesprochen«, sagte er und sah mich an.

»So?« antwortete ich und schwieg.

»Er scheint auch nicht viel mehr über dich zu wissen als ich.«

»Ist das mal wieder ein Verhör?«

»Ludmilla, zu fragen, wer du bist, wo du herkommst und wovor du fliehst, ist kein Verhör, sondern lediglich Anteilnahme. Ich stelle dir diese Fragen nicht als Polizist, und das weißt du.«

»Woher willst du wissen, dass ich vor etwas fliehe?«

»Ludmilla, ich merke es, wenn Leute vor irgend etwas weglaufen. Also, wovor bist du weggelaufen?«

Ich zögerte. Dann sagte ich: »Michael, mir ist etwas passiert. Etwas Schreckliches, das nichts mit Grant, dem Club oder mit irgendwem hier zu tun hat. Aber ich möchte, ich kann nicht darüber reden. Noch nicht. Und ein für allemal. Ich weiß nichts über den Überfall, über Serges Tod und all das. Und ich will darüber auch nichts wissen.«

Er runzelte die Stirn. »Ich dachte nur…«

»Michael, bitte.«

»Okay, versprochen. Lass uns nicht mehr darüber reden.«

Ich merkte, wie viel Mühe es ihn kostete, nicht mehr nachzuhaken. Aber er wusste, er musste warten, wenn er mich nicht verlieren wollte.

Um mich regelmäßig zu sehen, kam Michael sogar gelegentlich abends in den Club. Er saß oft an der Bar und sah mir bei der Arbeit zu. Grant, der natürlich von uns wusste, gefiel das.

»Das adelt uns, wenn selbst die Bullen kommen«, sagte er einmal und grinste mich entschuldigend an. Er war vor allem zufrieden, dass Michael keine Fragen mehr stellte und sich scheinbar damit abgefunden hatte, dass er hier bei seinen Ermittlungen nicht weiterkam.

Carl würdigte Michael – wie ich es vorausgesehen hatte – keines Blickes. Jetzt hatte ich auch noch einen Freund angeschleppt, und dann sogar einen Polizisten. Für ihn war das geschäftsschädigend. In einen Nachtclub gehörte nach seiner Meinung alles mögliche, nur keine Beamten der Exekutive.

Aber wie mit allem, was mich betraf, fand er sich zähneknirschend mit der Situation ab.

Schließlich kehrte auch Linda in den Club zurück. Ich war sehr froh, sie wieder um mich zu haben. Vor allem machte es Spaß, von Frau zu Frau über meine Beziehung zu Michael zu reden. Linda stürzte sich in die Arbeit und sorgte für noch mehr Pep in unserem Live-Programm. Grant fühlte sich unglaublich geschmeichelt, als sein Club in einem Artikel über das Nachtleben der Stadt als »In-Laden erster Güte« bezeichnet wurde.

Ich versuchte, all das, so gut es ging, zu genießen. Doch meine unheilvolle, wahre Natur schwebte wie ein Damoklesschwert über der vermeintlichen Harmonie. Ich vergaß nie, was ich wirklich war. Wenn der Hunger kam, ging ich weit fort und nahm mir in aller Heimlichkeit, was ich brauchte, um weiter zu existieren. Wie eine Drogenabhängige, die ihre Sucht verbirgt, sie hasst und doch nicht davon lassen kann.

Ich tat so, als ob ein menschliches Leben für mich möglich sei. Ich hatte einen Partner, Freunde, einen Job. Aber hinter der Fassade lauerte das Böse. Nur meine außergewöhnlichen psychischen Kräfte halfen mir, das alles durchzustehen.

Eines Abends saß ich mit Michael an einem Tisch, als plötzlich die Tür aufging und eine Gruppe von sechs Personen hereinkam. Sie unterhielten sich lebhaft, lachten laut und schienen bester Stimmung zu sein. Michael sah zur Tür und erstarrte.

»Was ist?« fragte ich.

»Marian«, sagte er nur, und seine Lippen wurden zu einem schmalen Strich.

Ich erkannte sofort die Frau aus dem Restaurant wieder. Marian Goldstein! Sie trug ein langes Abendkleid und hatte sich bei einem Mann mittleren Alters eingehakt, Morton Went, dem Regisseur, für den sie ihre Ehe geopfert hatte. Sie deutete gerade auf einen freien Tisch, als sie plötzlich Michael und mich am Tisch entdeckte.

Sie flüsterte Went etwas ins Ohr und kam lächelnd auf unseren Tisch zu.

»Michael, ich wusste gar nicht, dass du diesen Laden hier besuchst. Und dann noch in so netter, junger Begleitung.«

Sie blieb vor unserem Tisch stehen und sah mich provozierend an. Ich hasste sie vom ersten Augenblick an. Sie schien ihren kleinen Auftritt sehr zu genießen.

Michael stand langsam auf.

»Deine Freunde warten, Marian«, sagte er und deutete mit dem Kinn zu Went und seinen Leuten.

»Ach, du willst uns nicht vorstellen? Dann tu ich es eben selber.«

Sie streckte ihre Hand in meine Richtung. »Ich bin Marian Goldstein. Die Gattin dieses überaus erfolgreichen Polizisten. Er hat übrigens nie Zeit für einen, nur damit Sie das wissen, Liebes.« Sie lachte.

»Für mich hat er Zeit«, antwortete ich. »Zeit genug für alles, was uns gefällt. War das bei Ihnen nicht so?«

Marian Goldstein sah mich mit großen Augen an.

»Ach, nicht nur hübsch, sondern auch noch schlagfertig. Alle Achtung, Michael, du beweist mal wieder Geschmack.«

Dann wandte sie sich abrupt um und ging zu ihrem Regisseur zurück.

Grant begrüßte die Gruppe und gab mir mit stummen Gesten zu verstehen, dass ich weiteren Ärger verhindern sollte. Aber das war nicht nötig. Michael küsste mich flüchtig, entschuldigte sich und verließ wütend das Lokal. Ich konnte ihn verstehen.

Im Laufe des Abends beobachtete ich Marian Goldstein, wann immer es ging. Sie liebte es offenbar, im Mittelpunkt zu stehen. Immer wieder demonstrierte sie betont ihre Intimität mit Morton Went, berührte, küsste, streichelte ihn, lachte laut und redete viel.

Als sich unsere Blicke einmal trafen, flüsterte sie Went etwas zu und deutete auf mich. Er sah in meine Richtung und grinste breit. Mir fiel ein, dass ich noch nie eine Frau getötet und ihr Blut getrunken hatte. Vielleicht würde Marian Goldstein die erste sein. Aber ich hatte viel zuviel zu tun, um noch weiter über Michaels Frau nachzudenken. Gegen drei Uhr morgens verschwand sie endlich mit ihren Leuten. Eine Stunde später schlossen wir den Club, und ich ging schlafen.

Am frühen Abend des nächsten Tages telefonierte ich kurz mit Michael, der sich noch einmal für seinen plötzlichen Ausbruch entschuldigte. Wir verabredeten uns für den kommenden Abend.

Dann besuchte ich mal wieder Professor Barker. Wir waren in letzter Zeit mit unseren Forschungen nicht sehr viel weitergekommen. Die alte Handschrift erwies sich als harter Brocken. Wann immer er Zeit fand, vergrub sich der Professor in die Kryptographien und übersetzte mühsam Wort für Wort. Oft saß ich schweigend bei ihm in seinem Arbeitszimmer, beobachtete ihn bei der Arbeit, brachte ihm zu essen und zu trinken und arbeitete mich durch den wachsenden Berg an okkulter Literatur, die der Professor aus schier unerschöpflichen Quellen zutage förderte. Seit er von meiner Existenz wusste, hatte sich seine Bibliothek immens vergrößert. Er kaufte Nachlässe, stöberte in alten Archiven und führte zahlreiche Telefongespräche mit Kollegen in aller Welt, ohne jemals auch nur den Hauch einer Andeutung zu machen, dass es mich gab. Es hätte ihm ohnehin niemand geglaubt.

Eines Spätnachmittags saßen wir wieder bei ihm zusammen. Ein warmer Sommertag neigte sich seinem Ende zu. Wir hatten viel gearbeitet. Plötzlich schlug Barker ein Buch zu und sagte: »Schluss jetzt, ich muss den Kopf freikriegen. Draußen ist es wunderbar. Ludmilla, lassen Sie uns ein bisschen spazieren gehen.«

»Gern, Professor.«

Ich war ein wenig erstaunt über seinen plötzlichen Vitalitätsschub, und außerdem war es mir draußen eigentlich noch viel zu hell. Aber ich wollte Barker den Spaß nicht verderben und hatte nichts dagegen, mir kurz auf dem Grundstück die Beine zu vertreten.

Doch der Professor wollte einen richtigen, kleinen Ausflug machen.

»Lassen Sie uns zu dem großen Wald vor den Toren der Stadt fahren. Ein großes, wunderschönes Naherholungsgebiet, wo ich als Kind immer mit meinen Eltern gewesen bin. Da wollte ich schon lange mal wieder hin.«

Er zögerte. »Und manchmal kommen mir beim Spazierengehen die wirklichen wichtigen Eingebungen. Gerade, wenn ich an alten Texten sitze.«

Er schien gemerkt zu haben, dass ich nicht begeistert war, und lächelte mich entwaffnend an.

»Sie wissen, wie man eine Frau rumkriegt, Professor«, sagte ich und stand auf.

Wir fuhren mit dem Wagen des Professors und parkten auf einem großen Parkplatz am Rande des Naherholungsgebietes. Der Wald erstreckte sich vor uns wie eine gewaltige dunkle Masse aus dichtem Grün. Wir stiegen aus und gingen langsam auf die Baumgrenze zu. Es waren noch Spaziergänger unterwegs. Der größte Teil der Besucher hatte sich aber bereits wieder auf den Weg zurück in die Stadt gemacht. Es war etwa 18 Uhr, als wir die ersten Bäume passierten. Schon nach wenigen Sekunden umgab Barker und mich ein seltsames Zwielicht. Der Wald war ungewöhnlich dicht. Das warme Licht der Abendsonne drang nur hier und da durch die Wipfel der Bäume und sorgte für ein grandioses Farbenspiel. Alle Geräusche klangen gedämpft. Ab und zu hörten wir von weit her ein Kinderlachen oder das Bellen eines Hundes. Schweigend gingen wir nebeneinanderher, gefangen von der majestätischen Stimmung dieses wunderbaren Stücks Natur und hingen unseren Gedanken nach. Trotzdem spürte ich eine seltsame Unruhe, je tiefer wir in den Wald hineingingen.

Irgendwann, nach etwa einer Stunde, blieb Barker stehen. »Sehen Sie da vorn das Schild, Ludmilla? Dort beginnt das Naturschutzgebiet. Es darf nicht betreten werden und ist deshalb eingezäunt. Man hat den Wald hier sich selbst überlassen und greift niemals regulierend ein. Es ist eine Art Urwald mit vielen seltenen Tierarten. Phantastisch, nicht wahr? Und das so nahe an der Stadt.«

Ich sah in die Richtung, in die Barker deutete, und erstarrte.

Das Blut schoss mir ins Gesicht. Mein Herz raste. Ich hatte deutlich eine Stimme in meinem Kopf gehört! Und jetzt wieder. »Komm!« flüsterte die Stimme. Etwas sagte mir, dass sie aus dem Urwald jenseits des Zaunes kam.

»Was ist denn mit Ihnen?« Barker sah mich besorgt an.

»Professor, ich fühle sie. Die anderen. Dort im Urwald.«

»Ludmilla, wie können Sie so sicher sein?«

»Erinnern Sie sich, was ich Ihnen erzählt habe? Damals in der Stadt, da habe ich eine von ihnen gesehen und es sofort gespürt. Sie können offenbar Signale aussenden, wenn sie es wollen. Ich bin sicher, dass dort im Wald ein anderer Vampir ist.«

Barker sah mich an. Er schien zum ersten Mal seit längerer Zeit wieder zu realisieren, auf was er sich überhaupt eingelassen hatte. Er war der Vertraute eines Monsters und gemeinsam mit diesem Wesen auf der Suche nach weiteren Monstern.

»Wie dem auch sei, Ludmilla«, sagte er, und seine Stimme klang unsicher. »Es wird dunkel. Wir gehen besser zurück zum Auto, sonst verlaufen wir uns noch. Kommen Sie.«

Ich blieb stehen und starrte auf den Teil des Waldes, der nicht betreten werden durfte.

»Ich bleibe noch, Professor. Ich will dort hinein.«

»Ludmilla, bitte. Lassen Sie uns nach Hause fahren.«

»Fahren Sie allein, Professor. Ich kann jetzt nicht weg.«

Barker stand unschlüssig herum und sagte nichts mehr. Wahrscheinlich dachte er, dass er mich jetzt in dieser Situation nicht allein lassen konnte. Ich drehte mich zu ihm um, legte meine Hand auf seine Schulter und sagte: »Professor. Vergessen Sie nicht, was ich bin. Schluss mit dem Gentleman-Getue. Ich bin keine junge, hilflose Frau, die man nirgendwo allein zurücklassen darf. Ich muss dort hinein. Ich habe so lange gesucht. Vielleicht irre ich mich auch. Aber wenn nicht, dann ist das hier nichts für Sie. Gehen Sie zurück zum Auto und fahren Sie in die Stadt.«

»Aber wie wollen Sie denn nach Hause kommen?« fragte er hilflos.

»Das ist unwichtig, Professor. Machen Sie sich keine Sorgen. Ich melde mich bei Ihnen.«

Er nickte und ging langsam den Weg zurück zum Parkplatz. Nach ein paar Metern blieb er stehen und winkte. Ein besorgter, alter Mann. Ich winkte zurück, drehte mich um und ging auf den Zaun zu, der das öffentliche Gebiet vom Urwald trennte. Ich stieg mühelos darüber hinweg und sprang auf die andere Seite. Weiches Moos dämpfte meinen Fall. Vor mir lag die Wildnis – und vielleicht die Antwort auf alle meine Fragen.