33 - GREGOR

Nein, Pia, ich kann es nicht tun.«

Als wir die Grenze der Stadt erreicht hatten, brach es aus mir heraus. Pia sah mich nur mit bitterem Lächeln an. Das fahle Licht des Mondes ließ ihre kleinen, spitzen Eckzähne schimmern.

»Ludmilla, du musst, sonst stirbst du. Und Michael und Linda sind ohnehin so gut wie tot. Wenn du es nicht tust, macht es eine andere Schwester.«

»Aber sie sollen nicht durch meine Hand sterben, Pia. Das ist zuviel verlangt. Ich habe nur noch eine letzte Bitte an dich. Fahr mich zum Professor. Ich will mich von ihm verabschieden, und dann verlasse ich die Stadt.«

Pia schüttelte den Kopf.

»Ludmilla, sie finden dich. Und ich kann dich nicht so einfach gehen lassen. Man wird mich bestrafen.«

»Was würden sie von dir erwarten, Pia? Dass du mich zurück hältst? Mit Gewalt?«

»Genau das, Ludmilla. Bitte, tu mir das nicht an.«

Ich dachte an die Begegnung mit Var in ihrem Gemach.

»Pia, du kannst mich nicht zurückhalten. Nicht mehr. Damals im Zimmer von Var… sie hat mich von ihrem Blut trinken lassen.«

»Waaas?«

Pia trat auf die Bremse. Der Wagen stoppte abrupt. Sie sah mich mit weit aufgerissenen Augen an.

»Sie hat dich von ihr trinken lassen?«

Ich nickte.

»Weißt du denn nicht, was das bedeutet, Ludmilla?«

»Nur, dass es meine Kräfte vergrößert.«

»Viel mehr, Ludmilla. Von der Oberin zu trinken ist das Privileg ihrer Nachfolgerin. Sozusagen die ritualisierte Amtsübergabe. Es ist mehr als ungewöhnlich, dass Var dich von ihr trinken ließ – eine blutjunge, unerfahrene Schwester. Es scheint ihr wirklich viel an dir zu liegen. Ahnst du überhaupt, wie stark du bist?«

Ich zuckte mit den Schultern.

Sie fuhr weiter und überlegte.

»Gut«, sagte sie schließlich. »Wir fahren zu Barker. Ich werde ihnen einfach erzählen, dass du mich unter einem Vorwand aus dem Wagen gelockt hast und dann weggefahren bist. Mal sehen, wie lange ich dafür in die Kammer komme.«

Ich umarmte sie.

»Ach, Pia, ich liebe dich.«

Wir fuhren schweigend weiter bis zu Barkers Haus. Gegen 22 Uhr parkten wir den Wagen auf seinem Grundstück. Im Arbeitszimmer brannte Licht. Wir läuteten an seiner Tür, und ich hörte den Professor fluchend zur Tür schlurfen. Als er mich und Pia sah, hellte sich seine Miene allerdings sofort auf.

»Ludmilla, wie schön Sie zu sehen.« Er lächelte auch Pia an.

»Professor«, begann ich. »Es ist etwas Furchtbares passiert. Dürfen wir kurz hereinkommen?«

»Natürlich, natürlich.«

Er trat zur Seite.

Als wir schließlich in seinem Arbeitszimmer saßen, kam ich schnell zur Sache.

»Professor. Es ist das letzte Mal, dass wir uns sehen. Es ist Zeit, Abschied zu nehmen. Ich muss noch heute Nacht die Stadt verlassen. Und Sie sollten auch nicht länger zögern. Vergessen Sie das Gerede von dem alten Baum, der nicht mehr verpflanzt werden kann. Ich will nicht auch noch an Ihrem Tod schuldig sein.«

Barker hob die Arme in einer übertrieben theatralischen Geste.

»Tod, Flucht, Lebensgefahr – Ludmilla, was halten Sie davon, mir erst einmal zu erzählen, was passiert ist?«

Ich musste trotz meiner Anspannung lächeln. Typisch Barker. Er wusste, dass etwas Ernstes passiert war. Aber er ließ es sich nicht nehmen, mich mal wieder mit seiner großväterlichen Art beruhigen zu wollen.

»Gut, Professor«, sagte ich. »Das hier ist Pia. Und wer weiß, ob sie es nicht ist, die den Befehl bekommt, schon morgen Nacht in Ihr Haus zurückzukehren und Sie zu töten.«

Barker blickte Pia an. Diese schlanke, jugendliche Engelsgestalt. Pia schwieg, wich aber seinem Blick nicht aus.

»Ist sie…«

»Ja, Professor. Sie ist wie ich.«

Er zuckte noch nicht einmal zusammen.

»Gut, Ludmilla, Sie haben mich noch mal gewarnt. Und jetzt will ich alles hören. Alles. Ich will wenigstens wissen, warum ich vielleicht sterben soll.«

Als ich geendet hatte, saß Barker lange schweigend da und sah zu Boden. Pia und ich wurden schon unruhig, als er plötzlich aufstand. So schnell und federnd, wie ich es noch nie bei ihm gesehen hatte. Er blickte uns nacheinander an und sagte dann: »Gut, ihr beiden hübschen Todesengel. Dann muss es jetzt wohl sein. Die Zeit ist gekommen.«

Pia sah mich fragend an. Aber auch ich konnte mir auf die Worte des Professors keinen Reim machen und hob fragend die Arme.

»Kommt mit«, forderte er uns auf und verließ das Zimmer. Pia und ich folgten ihm verwundert. Was sollte das alles?

Barker ging auf die Tür zu, die zum Keller führte, öffnete sie und schritt hinab. Es war kalt und dunkel. Barker machte kein Licht. Ich fragte mich, wie er sich orientierte.

»Professor«, sagte ich leise. »Bitte, verstehen Sie doch. Es ist keine Zeit mehr, um in alten Schriften zu blättern. Was immer Sie uns auch zeigen wollen, es ändert nichts an der Situation.«

Barker blieb stehen, drehte sich um und deutete auf eine aus groben Steinquadern gemauerte Wand.

»Doch, Ludmilla«, sagte er. »Dies hier wird alles zwischen uns ändern«.

Er ging auf die Mauer zu, packte einen großen Eisenring und zog daran. Ein grässliches Knirschen war zu hören und dann sahen wir, wie sich langsam eine mannshohe Öffnung in der Wand auftat. Es war eine getarnte Tür, die der Professor für uns öffnete. Ein warmer Hauch schlug uns entgegen. Eine Treppe führte weiter hinunter, nur spärlich beleuchtet von winzigen Glühbirnen, die an den Wänden befestigt waren.

»Das ganze Grundstück ist mit getarnten Kameras bestückt«, sagte der Professor und ging hinab. »Als ich euch kommen sah, bin ich schnell hinauf in mein Arbeitszimmer gegangen. So wie ich es immer tue, wenn unerwarteter Besuch kommt.«

Ich bekam eine Gänsehaut. Was hatte mir der Professor verschwiegen? Was verbarg sich hier in der Tiefe für ein Geheimnis?

»Nun kommt schon«, sagte Barker, als Pia und ich zögernd auf der Treppe stehenblieben. »Ich bin doch nur ein alter Mann.«

Dann lachte er schallend und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen, weiter die Treppe hinab. Wir folgten ihm. Pia zitterte.

»Was soll das hier werden?« fragte sie. Ihre Stimme klang dünn.

»Ich habe keine Ahnung«, antwortete ich und ging weiter.

Die Treppe führte weit hinunter ins Erdreich. Barker verschwand hinter einer Biegung, und als wir diese passierten, lag auf einmal ein großer, äußerst seltsamer Raum vor uns. Er war etwa vierzig Quadratmeter groß, kreisrund und komplett mit Granitbrocken verkleidet. Eingelassen in die Wand waren mehrere TV-Monitore, die das gesamte Gelände und das Innere von Barkers Haus zeigten. Der Fußboden war mit kunstvollen Teppichen ausgelegt. Nischen in den Wänden beherbergten archäologische Fundstücke aus verschiedenen Epochen der Menschheitsgeschichte, wie ich sofort erkannte. An den Wänden hingen zahllose Gemälde, Zeichnungen und gerahmte Fotos.

Ein Kamin sorgte für Licht und erklärte die Wärme, die wir schon oben an der Treppe gefühlt hatten. Ein großer Tisch, vollbepackt mit Büchern und irgendwelchen sehr alt aussehenden Dokumenten und ein lederner Sessel standen neben dem Feuer. In dem Sessel saß Professor Barker und lächelte uns an. »Willkommen, meine Damen. Ich darf Sie in meinem eigentlichen Zuhause begrüßen. Es war lange niemand hier. Sehr lange.«

Pia und ich standen wie vom Donner gerührt da. Was geschah hier?

Dann erhob sich der Professor, beugte den Kopf und griff sich in seine Augen. Als er wieder aufblickte, hatte er zwei kleine Haftschalen in der Hand. Ich schrie auf! Barkers Augen – Barkers wirkliche Augen – waren gelb, geheimnisvoll leuchtend und hatten ovale Pupillen. Die Augen eines Vampirs. Barker lachte, als er unsere entsetzten Gesichter sah, griff sich in den Mund und riss eine Art Gebiss von seiner oberen Zahnreihe. Die Eckzähne, die jetzt sichtbar wurden, waren klein und spitz. Reißzähne. Vampirzähne!

»Ich bin Gregor«, sagte der Professor und deutete auf zwei Stühle. »Setzt euch, meine Schwestern.«

Wir fielen fast in die Stühle, so überrascht und entsetzt waren wir.

»Gregor«, flüsterte Pia ehrfurchtsvoll. »Es ist also wahr.«

»Ja, es ist wahr«, sagte der Professor.

»Ich bin Gregor, der letzte meiner Art. Der, der nicht existieren darf. Geschaffen von einer liebenden Frau. Vor vielen Jahrhunderten.«

Ich konnte kein Wort sagen, so sehr überwältigte mich das, was ich erlebte. Ich hatte mich, ohne es zu wissen, einem anderen Vampir offenbart.

Er sah mich an.

»Dich, Ludmilla, hat mir der Himmel geschickt. Da standest du eines Tages vor meiner Tür. Eine blutjunge Vampirin, stark, schlau, aber ohnmächtig und ohne das Wissen. All die Jahre habe ich überlegt, wie ich mich gefahrlos einer Frau unserer Art nähern kann, und dann hat mir das Schicksal direkt eine ins Haus geschickt. So lange schon spiele ich die Rolle des alten Gelehrten, der Sinn für das Übersinnliche hat, aber du bist die erste, die auf meine Worte reagierte und sich mir offenbarte. Du, meine kleine Ludmilla. Jungfräulich und ahnungslos.«

Endlich fand ich die Sprache wieder. »Aber warum haben Sie nie etwas gesagt? Warum das Versteckspiel?«

»Ach, Ludmilla. Ich habe es genossen, mit dir zusammen zu sein. Mit dir die Geschichte unserer Ahnen zu durchforsten und dich behutsam zur Wahrheit zu führen. Aber ich wusste nie, wann die anderen Kontakt mit dir aufnehmen würden. Wann sie dich einweihen würden in all ihre absurden Gesetze, Rituale und Verbote. Ich wusste nicht, wann du mich verraten würdest, Ludmilla. Deshalb habe ich gewartet. Ich habe gewartet und beobachtet, wie du dich entwickelst, nachdem du in den Orden aufgenommen wurdest. Es war sehr vielversprechend. Du bist stolz, hast Kraft und Widerspruchsgeist. Du bist die Frau, auf die ich all die Jahre gewartet habe. Mit dir, so dachte ich, könnte es gelingen.«

»Was gelingen?«

»Mir einen Gefährten zu schaffen.«

Pia schrie auf.

»Was ist denn, Pia?«

Gregor sah sie scharf an.

»Ich habe dich beobachtet, Pia«, sagte er. »Und deine Gedanken gelesen. Du selbst wünschst dir nichts so sehr wie die Macht, untotes Leben zu erschaffen. Du langweilst dich. Jetzt ist die Zeit da, dich zu amüsieren. Wirklich zu amüsieren. Mit Ludmilla und mir.«

Pia schwieg.

»Ja, Ludmilla, ich bin Gregor, und ich kenne das Ritual. Aber nicht den Ort. Du weißt, wie abgeschottet der Orden lebt. Ich musste sehr vorsichtig sein. Ich folge jedem Vampir, den ich irgendwo zufällig in der Stadt entdecke. Die meisten schirmen sich nicht ab. Warum auch? Und dann beschatte ich sie. Ich habe viel Zeit. Deshalb kenne ich ihr Versteck. Damals im Wald war ich ihnen seit Jahrhunderten am nächsten. Aber Var und Dinah – sie hätten mich trotz meiner geistigen Blockade wie Hündinnen vielleicht gewittert. Ich wollte, dass du sie endlich triffst, und habe dich in den Wald geführt. Deine Aura hat uns beide geschützt. Sie fühlten untotes Leben, aber ahnten nicht, dass zwei Vampire sich dem Urwald näherten. Als ich sie spürte, bin ich verschwunden und habe dich deinen Schwestern überlassen. Was für eine Freude war es, als du zu deinem alten Professor zurückgekehrt bist und ihm alles berichtet hast.«

Er sah mich zärtlich an.

»Aber was hatten Sie mit mir vor, Professor?« fragte ich. Der Name Gregor ging mir immer noch nicht über die Lippen.

»Ach, Ludmilla, erst wusste ich es selber nicht genau. Würde ich es schaffen, eine Schwester dazu zu bringen, den Orden zu verraten und das Gesetz zu brechen? Ich hatte keine Ahnung. Aber die Voraussetzungen waren gut. Du hast dich an mich gewandt, mir vertraut. Du bist stark und schlau, und ich spürte, dass dich die starren Regeln des Ordens bald bedrücken würden. Genau wie deine Freundin Pia hier, die den anderen nichts von meiner Existenz erzählt hat, weil sie fasziniert war von dem, was wir hier gemeinsam nach und nach herausgefunden haben über die Geschichte der Schwestern und das geheimnisvolle Ritual.«

Ich sah Pia fragend an.

»Ja, Ludmilla. Sie war oft hier, wenn wir in meinem Zimmer saßen. Draußen im Garten. Deine neugierige kleine Freundin. Was meinst du, warum sie den anderen gegenüber geschwiegen hat?«

»Weil ich nicht wollte, dass Ludmilla leidet«, rechtfertigte sich Pia und sprang auf. »Ich wollte deinen Tod nicht, Gregor.«

»Schon gut.«

Gregor hob beschwichtigend die Hände. Schließlich sprach er weiter.

»Dann, Ludmilla, hast du dich in diesen Polizisten verliebt. Und auf einmal war mir alles klar. Er würde es sein. Dein Michael. Er wäre ein starker, stolzer Vampir. Wenn es darum ging, ihn sterben zu lassen oder ihn zu unseresgleichen zu machen, würdest du dich für ein Leben mit ihm in der Unsterblichkeit entscheiden, so hoffte ich. Aber bis dahin sollte noch viel Zeit vergehen. Zeit, in der du Dinge für mich in Erfahrung bringen solltest.«

»Was für Dinge?«

Ich sprach mit leiser Stimme. Ich dachte an Michaels furchtbare Wunden.

»Wie gesagt, Ludmilla. Ich kenne das Ritual. Aber nicht den Ort. Ich brauchte jemanden, der in Vars Nähe ist, nach Hinweisen sucht, etwas aufschnappt. Du und Pia, ihr solltet meine Augen und Ohren werden.«

»Das Ritual…«, flüsterte Pia. »Sag es mir, Gregor. Wie schafft man unsterbliches Leben?«

Ich sprang auf.

»Professor! Es ist Wahnsinn! Sie werden es niemals zulassen.«

»Aber Ludmilla«, rief er und hielt ein Schriftstück hoch. »Hier steht es, aufgeschrieben von einer Oberin, die längst tot ist. Erkennst du denn nicht, was das hier bedeutet? Du kannst nicht nur mich aus meiner unerträglichen Einsamkeit erlösen. Du kannst auch Michael retten. Deinen Michael. Für immer. Ihr könnt fliehen und bleiben, wo immer ihr wollt. Er würde es wollen, ich bin jetzt sicher. Hätte er sich sonst für dich geopfert?«

Ich sank in den Sessel zurück. Es war, als ob er meine Gedanken gelesen hätte. Seine Worte klangen gut, aber ein Teil von mir wusste, dass es nur Michaels Liebe war, die ihn zu seiner Tat bewogen hatte, und nicht der Wille, so zu werden wie ich. Aber ich ignorierte diesen Teil meines Bewusstseins.

»Zeigen Sie es uns«, flüsterte ich.

Gregor erhob sich und ging im Raum auf und ab.

»Zunächst das Wichtigste. Man braucht zwei Vampire, um einen neuen zu erschaffen. Es ist eine Art rituelle Vereinigung, eine groteske Kopie des menschlichen Schöpfungsaktes.«

»Aber da war niemand anderes damals am Felsen?« rief ich.

»Woher weißt du das, Ludmilla? Ich habe seinerzeit genau zugehört. Weißt du denn nicht mehr, wie oft ich dich nach deiner Erschaffung gefragt habe? Deine bewusste Erinnerung reicht nur bis zu dem Moment zurück, als du mit Var im Auto saßest. Was danach geschah, erinnerst du nicht mehr bewusst.«

Ich nickte und schwieg.

Gregor fuhr fort.

»Das Ritual ist im Grunde ganz einfach. Er nahm das Schriftstück und las den Text vor:

Trinket das Blut

Wenn der Mond rund ist,

An todgeweihtem, magischen Ort Wo die alten Dinge liegen.

Lasst es fließen

Durch zwei unserer Leiber

Und nähret das Neue von Euch,

Lasst wachsen aus dunklen Tiefen.

Mit Eurem Blut die alte Macht

Zu neuem Leben.

Nähret das Neue von Euch und gebäret!

»Und das ist alles?« fragte Pia ungläubig. »Mehr nicht?« »Das ist es. Bei Vollmond müssen an einem bestimmten

magischen Ort zwei Vampire vom Blut ihres Opfers trinken, es mit ihrem vermischen und dann ihr Opfer von sich trinken lassen. Das ist das Ritual. Das macht Menschen zu Vampiren.«

»Aber es heißt doch, dass allein die Oberin weiß, wie man neues Leben erschafft«, warf ich ein. »Was ist mit der zweiten Vampirin?«

»Ganz einfach. Die Oberin verpflichtet sie zum Schweigen. Andernfalls droht ihr der Tod. Die Oberin ist immer die Älteste und Stärkste des Ordens. Sie herrscht durch ihre physische und psychische Macht. Außerdem ist die zweite Erschafferin stets die vorgesehene Nachfolgerin der Oberin. Vampire haben viel Zeit. Sollte die Oberin durch irgendein Ereignis überraschend zu Tode kommen, kennt ihre Nachfolgerin bereits das Geheimnis und weiht eine weitere ein. So wird das Ritual von einer Führerin zur an deren weitergegeben.«

»Aber Professor, selbst wenn ich es tun wollte, kennen wir diesen Ort nicht. Wir wissen, dass mehrere davon existieren, aber wir kennen sie nicht.«

»Du musst versuchen, dich zu erinnern«, sagte Gregor und legte seine Hand auf meine Schulter. Ich erschauerte unter seiner Berührung.

»Die Ereignisse zwingen uns zur Eile«, fuhr er fort. »Michael liegt im Sterben. Linda ist in Lebensgefahr. Versuch dich zu erinnern.«

Pia sprang auf.

»Ludmilla, von was für einem Felsen hast du eben gesprochen?«

Ich sah sie fragend an.

»Du hast gesagt, dass da kein zweiter Vampir gewesen sei,

damals am Felsen.«

»Habe ich das gesagt?«

Mein Kopf wurde schwer. Irgend etwas verhinderte, dass ich einen klaren Gedanken fassen konnte.

»Ich weiß nicht. Nein. Ich erinnere den Wald, die Autofahrt. Die Dunkelheit. Sonst ist da nichts.«

Gregor stand auf und kniete sich vor mich.

»Ludmilla, ich spüre es. Du weißt es. Sieh mich an.« Ich sah in sein altes Gesicht. In seine Augen, seine uralten, untoten Augen, in denen das Feuer einer unheimlichen übersinnlichen Macht loderte.

»Entspann dich«, sagte er und wartete einen Moment.

»Lass es zu, erinnere dich. Lass dich fallen.« Seine Stimme umhüllte mich wie eine warme Decke. Ich verlor mich in der Tiefe seiner Augen und tauchte ein in den sanften Nebel der Hypnose.

Und ich erinnerte mich! An Var, die mich zu dem Felsen trug, der wie ein gewaltiges V in den Himmel ragte. Und Dinah, die dort lächelnd stand und wartete. Da war ein sonderbares, blaues Licht. Ein Schmerz. Ich erinnerte mich, wie das Leben aus mir rann und mir neues, ungleich mächtigeres verliehen wurde.

Wie aus weiter Ferne hörte ich Gregors Stimme, die mir befahl zu erzählen, was ich sah. Und ich sprach und ich weinte, weil ich noch einmal miterlebte, wie zwei übernatürliche, böse Wesen mich zu einem der ihren machten.

Schließlich befahl Gregors Stimme mir, zu erwachen. Ich blickte eine Zeitlang orientierungslos im Gewölbe umher. Blutige Tränen hatten mein Gesicht und meine Kleidung besudelt.

Pia hielt meine Hand.

»Und?« fragte ich. »Habe ich etwas gesagt, das uns helfen könnte?«

»Allerdings«, antwortete Gregor. »Du hast von einem Felsen erzählt. Ein Felsen mit einer charakteristischen Form. Wie ein großes V. Mitten in einem Wald. Und das, Ludmilla, kann sich nur um den berühmten Felsen des Vlad handeln. Eine geologisch bizarre Formation etwa hundert Kilometer von hier. Ein beliebtes Ausflugsziel, obwohl der Felsen selbst nicht betreten werden darf, weil dort seltene Pflanzen und Tiere heimisch sind. Das ist er, unser geheimer Ort.«

Gregor verstummte. Ich spürte seine Aufregung. Auch mein Herz begann zu klopfen. Michael! Wir hatten die Macht! Ich würde ihn retten. Niemand konnte uns aufhalten. Ich stand auf.

Eine Stimme, tief in mir, warnte mich. »Du darfst es nicht«, raunte sie leise. »Er würde es nicht wollen.«

Ich zögerte kurz. »Was nicht wollen?« fragte eine andere Stimme. Sie war lauter und schneidender. »Was, Ludmilla, würde er nicht wollen? Mit dir für Jahrtausende zusammen zu sein? Würde er lieber sterben oder als Krüppel langsam krepieren? Was würde er wollen, Ludmilla? Michael ist ein Jäger, genau wie du. Nimm ihn dir und gib ihm das Kostbarste, was du hast. Dein Blut.«

Und auf einmal gab es keine Zweifel mehr. Ich ging auf Gregor zu, breitete meine Arme aus und sagte: »Dann lass es uns tun. Gib mir meinen Geliebten, und ich gebe dir einen Gefährten. Und dann gehen wir hier weg. Weit weg.«

Gregor lachte, machte einen Schritt auf mich zu und umarmte mich. Wir verharrten so ein paar Sekunden.

Ich drehte mich zu Pia um, wollte sie einbeziehen, ihr für ihre Hilfe und Verschwiegenheit danken. Doch der Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, war leer. Ich schrie auf. »Pia! Sie ist verschwunden.«

Gregor zuckte zusammen, rannte hinaus aus dem Raum und hastete die Treppe hinauf. Ich lief hinterher.

Aber wir fanden Pia nicht. Die Haustür stand offen. Wir hörten noch das Motorengeräusch ihres Wagens.

»Sie wird uns verraten, Ludmilla«, sagte Gregor. »Sie ist eine Spielerin. Sie hat erfahren, was sie wissen wollte, und jetzt kehrt sie zurück auf die sichere Seite. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Es ist Vollmond. Es muss noch heute Nacht geschehen. Vielleicht haben wir noch eine Chance.«