18 - LAMINA

Ich ließ vier Tage und Nächte verstreichen und wartete angespannt, ob ich Barker vertrauen konnte. Ab und an rief ich im Club an, aber niemand hatte nach mir gefragt. Dennoch hatte ich Angst, denn Barker war der einzige Mensch, der die ganze Wahrheit kannte. Ich war ein ziemliches Risiko eingegangen. Doch es geschah nichts Außergewöhnliches.

In der Nacht des fünften Tages besuchte ich den Professor dann zum zweiten Mal. Etwa eine Stunde beobachtete ich sein Haus. Als ich sicher war, dass er keinen Besuch hatte, ging ich zu einer Telefonzelle und rief ihn an.

»Guten Abend, Herr Professor«, sagte ich betont beiläufig.

»Ludmilla!«

Barkers Stimme klang aufgeregt.

»Endlich höre ich von Ihnen. Wann sehe ich Sie wieder?« fragte er.

»Das klingt ja wie eine Liebeserklärung, Herr Professor«, sagte ich und lachte.

»Bitte kommen Sie vorbei«, sagte er, ohne auf meine Bemerkung einzugehen. »Ich habe einige interessante Dinge in meinen Büchern gefunden. Wie es scheint…«

»Ich bin in zwei Minuten bei Ihnen«, unterbrach ich ihn und legte auf.

Schon als ich die Auffahrt zu seinem Haus betrat, öffnete er erwartungsvoll die Tür.

»Ich weiß nicht, ob ich mich freuen darf, Sie wiederzusehen«, sagte Barker. »Aber ich tue es. Kommen Sie herein.«

Wir gingen schweigend in sein Arbeitszimmer. Ein Blick auf seinen Schreibtisch machte jedes weitere Wort überflüssig. Er quoll über vor Büchern, Kopien von alten Handschriften und zahllosen Notizzetteln. Der Wissenschaftler in ihm hatte gesiegt. Barker mochte mich zwar fürchten, aber in erster Linie war er offenbar fasziniert von meiner Existenz. Sein Gewissen hatte er wohl damit beruhigt, dass ihm letztendlich keine Wahl blieb, als mit mir zusammenzuarbeiten.

»Ich sehe, Sie haben sich ein bisschen vorbereitet«, sagte ich und lächelte.

Er nickte ernst und griff nach einem Buch: »Wir sollten alles, was in den verschiedenen Quellen steht, mit Ihren eigenen Erfahrungen vergleichen… Ich habe verdammt viele Fragen.«

»Gern, aber lassen Sie uns vorher über Kommissar Goldstein sprechen.«

Barker legte das Buch auf den Tisch zurück. »Woher wissen Sie überhaupt, dass er schon einmal bei mir war?« fragte er.

»Ich war hier, Professor. Draußen in Ihrem Garten. Vor diesem Fenster.«

Barker schwieg und ließ sich in seinen Sessel fallen.

»Dann wissen Sie ja, was der Mann will«, fuhr er schließlich fort. »Er will Hinweise auf ein mögliches Täter-Umfeld.«

»Und – haben Sie was für ihn?« fragte ich.

»Es gibt ein paar Vampir-Zirkel in der Stadt. Aber das sind bloß Horror-Freaks. Leicht verrückt, aber harmlos.«

»Dann werden wir Goldstein genau das sagen«, sagte ich.

»Wir?« Barker richtete sich im Sessel auf. »Was soll das heißen?«

»Sie haben ab sofort eine Assistentin. Ich will dabei sein, wenn Sie Goldstein das nächste Mal empfangen.«

»Was soll das für einen Sinn haben? Der Mann ist sozusagen auf der Jagd nach Ihnen«, sagte Barker kopfschüttelnd.

»Genau das ist der Grund. Aber lassen Sie das meine Sorge sein. Und keine Angst. Ich verspreche, dass ich dem Mann nichts tun werde. Ich will lediglich anwesend sein. Machen Sie einen Termin am frühen Abend. Und jetzt, Professor, können Sie mir Ihre verdammt vielen Fragen stellen.«

Es wurde eine lange Nacht. Barker und ich trugen unser theoretisches Wissen über die Geschichte der Vampire zusammen und verglichen das Resultat mit all meinen Eigenschaften und äußerlichen Merkmalen. Nach und nach trennten wir dann offensichtlichen Unsinn von Quellen, die Wahrheiten oder zumindest Halbwahrheiten enthielten. Barker fragte mich penibel aus. Ich musste ihm noch einmal so detailliert wie irgend möglich die erste, schicksalhafte Begegnung mit der unheimlichen Frau erzählen. Er wollte in allen Einzelheiten wissen, wie ich mich nach meiner Erschaffung gefühlt, was ich genau getan hatte. Er ließ sich beschreiben, wie ich meine Opfer riss, wie viel Blut ich in welchen Abständen brauchte, wie ich das Tageslicht in seinen verschiedenen Stärken empfand und so weiter und sofort.

Ich gab gewissenhaft Auskunft. Barkers anfängliche Befangenheit verflog immer mehr. Schließlich fragte er mich sogar, ob er sich meine Zähne und Augen einmal genauer ansehen konnte. Ich willigte ein, und der Professor untersuchte mich mit einer kleinen Taschenlampe und murmelte dabei Worte wie »sonderbar«, »interessant« und »phantastisch«.

Ich ließ alles geschehen und fühlte mich sonderbar wohl als Studienobjekt. Wie eine verzweifelte Patientin, die endlich den richtigen Experten für eine exotische Krankheit gefunden hat. Außerdem wusste ich jetzt, dass ich dem Professor vertrauen konnte. Es tat gut, ohne Vorbehalte über alles zu reden, gemeinsam in Büchern zu wühlen und Hypothesen aufzustellen.

Geduldig wartete ich, bis der Professor altertümliche Texte übersetzt hatte, und ordnete die Ergebnisse dann in unsere Grobrasterung ein. Ich wurde nach und nach tatsächlich zu der Assistentin, für die ich mich Goldstein gegenüber ausgeben wollte.

Schließlich, nach Stunden, hatten wir einen ganzen Stapel von Quellen gesammelt, die uns vielversprechend erschienen.

»Eines ist verblüffend«, dozierte Barker. »Da, wo weibliche Vampire beschrieben werden, haben wir stets den größten Wahrheitsgehalt. Sehen Sie hier. Da haben wir zum Beispiel die Göttin Hekate, die von den alten Griechen verehrt wurde. Sie war die Herrin der Geister und Gespenster, trank Blut und konnte jedem Wesen ihren Willen aufzwingen. Und hier…«

Er griff nach einem anderen Buch und blätterte. »Ah, da ist es. Der Mythos der Lamina, ein weiblicher Vampir, ebenfalls im antiken Griechenland und im alten Rom bekannt. Lamina bedeutet ›Verschlingerin‹. Die Beschreibungen ihrer äußeren Erscheinung gleicht verblüffend Ihrem eigenen Aussehen, Ludmilla. Und es heißt, dass diese Wesen das Tageslicht nicht mochten, aber durchaus vertrugen. Das gilt ebenfalls für die griechischen Empusen, die der Göttin Hekate angeblich dienten. Aber das ist noch nicht alles.«

Barker war mächtig in Fahrt.

»Hier, Ludmilla, lesen Sie die Beschreibung von Lilitu, der sumerischen Dämonin. Und dann Lilith, der altjüdischen Geisterscheinung. Ist es nicht verblüffend, wie viel mit Ihren eigenen Merkmalen übereinstimmt?«

Wir fanden noch weitere Belege für den Zusammenhang zwischen Vampirismus und dem weiblichen Geschlecht. Natürlich war in den Quellen auch immer wieder von männlichen Blutsaugern die Rede. Aber in diesem Zusammenhang war stets auch der größte Unsinn zu lesen. Zumindest im Vergleich mit meinen Erfahrungen. Ich konnte mir nämlich ohne Probleme Kreuze ansehen, sah mich deutlich im Spiegel und starb auch nicht, wenn ich mit fließendem Wasser in Berührung kam, wie immer wieder behauptet wurde.

Ich selber fand in den Unterlagen noch zwei weibliche Vampirarten, die vor achthundert Jahren in Mitteleuropa ihr Unwesen getrieben haben sollen. Sie hießen Shtria und Succubus. Es war tatsächlich verblüffend, wie sehr das weibliche Element in dieser düsteren Mythologie dominierte.

Schließlich stand Barker auf, streckte sich und sagte: »So weit, so gut. Aber jetzt habe ich noch etwas ganz Besonderes. Etwas, das in keinem dieser Bücher steht.«

Er ging zu einem der Regale und zog ein paar sehr alt aussehende Schriftstücke hervor, die er durch Klarsichtfolien geschützt hatte.

»Es sind Texte aus Europa. Nicht genau datiert, aber sehr alt. Sie stammen aus einem Kloster in Serbien. Ich habe sie von einem alten Mönch auf einer Reise gekauft. Er sagte damals, darin stünde die Wahrheit über Vampire. Ich hatte nie die Zeit, sie zu übersetzen, zumal sie zum Teil verschlüsselt sind. Aber jetzt habe ich damit angefangen.«

Er schwieg bedeutungsvoll.

Ich wurde langsam ungeduldig.

»Professor, bitte kommen Sie zur Sache. Was steht drin?«

»Nun, ich bin zwar noch lange nicht durch, aber es heißt dort, dass es eine uralte Rasse von weiblichen Vampiren gibt, die sich geschickt tarnt und seit Jahrtausenden existiert: die ›Dunklen Schwestern‹. Sie sind angeblich über die ganze Welt verstreut, leben unerkannt unter uns und nehmen neue Mitglieder nach einem festen und geheimnisvollen Ritual auf. Es existieren lokale Zirkel, die jeweils von einer Oberin geleitet werden. Und jetzt kommt es, Ludmilla: nur diese Oberin kann neue Vampire erschaffen. Wie dies funktioniert, ist ein Geheimnis, das nur von Oberin zu Oberin weitergegeben wird. Sehr viel weiter bin ich noch nicht. Teilweise sind die Schriften nicht sehr gut erhalten. Ich werde mich gleich morgen wieder an die Arbeit machen.«

Er gähnte.

»Oh, Professor. Entschuldigung. Ich vergesse manchmal, dass Menschen nachts müde werden. Es war faszinierend, was wir alles herausbekommen haben. Aber lassen Sie uns für heute Schluss machen. Sie müssen ins Bett.«

Er nickte nur, stand auf und brachte mich zur Tür. Ich trat hinaus in die Kühle des anbrechenden Tages.

»Lamina«, die »Dunklen Schwestern« – diese Namen geisterten mir den ganzen Weg zurück durch den Kopf. Was für eine Vorstellung: Vampire – ein unheimliches Matriarchat, das seit Jahrtausenden im verborgenen existierte. Aber wo waren sie, all meine Schwestern? Warum nahmen sie keinen Kontakt auf? Oder wollte es das geheimnisvolle Ritual, von dem in den alten Schriften die Rede war, dass ich meinesgleichen fand? Ich dachte an die Frau, die mich erschaffen hatte. Wenn ich den Quellen glauben schenken durfte, dann war sie die Oberin des vampirischen Zirkels, der diese Gegend beherrschte. Ich versuchte, mich noch einmal genau an das zu erinnern, was ich damals erlebt hatte. Alles war klar – bis zu dem Punkt, an dem ich ohnmächtig geworden war. So sehr ich es auch versuchte. Ich kam nicht weiter. Da war nichts – nur Schwärze.

In meinem Appartment fand ich eine Nachricht von Grant auf dem Anrufbeantworter. Der Club sei wieder geöffnet, und er hoffe, mich bald dort zu sehen. Außerdem habe Linda nach mir gefragt und wolle wissen, warum ich sie noch nicht besucht hätte.

Sofort meldete sich mein schlechtes Gewissen. Ich hatte nur noch an mich gedacht. Gleich morgen würde ich zu ihr fahren.

Als ich die Vorhänge zuzog, um das jungfräuliche Licht des Tages auszusperren, kam der Hunger. Sanft, aber lauernd. Spätestens morgen würde ich trinken müssen – vor meinen Besuchen bei Barker und Linda. Ich wollte den beiden auf keinen Fall in hungrigem Zustand gegenübertreten.

Dann legte ich mich auf mein Bett und fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.