28 - IM GEWÖLBE

Eines Abends riefen mich meine Schwestern zu sich. Ich fuhr aus dem Schlaf, weil mein Kopf plötzlich von einem tiefen Summen erfüllt war. Und inmitten dieses seltsamen Geräusches, das keinem ähnelte, was ich kannte, hörte ich plötzlich verzerrt, aber unverkennbar – ihre Stimme. Var sprach auf telepathischem Wege zu mir. »Kommt!« befahl sie. »Noch heute Nacht.«

Ich saß aufrecht in meinem Bett. Ein Schauer durchfuhr mich. Angst und gespannte Erwartung vermischten sich zu einem sonderbar aufregenden Gefühl. Dann klingelte das Telefon. Es war Pia.

»Na, Ludmilla, kleiner Schreck in der Abendstunde, was?«

»Hättest du mich nicht vorwarnen können? Ich dachte erst, sie steht neben mir.«

»Sorry, hab’s vergessen. Mach dich bereit. Erzähl Grant irgendwas. Ich hole dich in vier Stunden ab. Um Mitternacht müssen wir dort sein.«

Später, als wir zusammen in ihrem Auto in Richtung Waldgebiet fuhren, wurde Pia für ihre Verhältnisse ungewöhnlich ernst.

»Ludmilla, das erste Mal im Gewölbe war eine besondere Situation. Dein Willkommen, deine Geburtstagsfeier sozusagen. Ich wusste, dass du mit Barker in die Nähe unseres Versammlungsortes wolltest, habe berichtet, und Var rief uns in aller Eile zusammen, weil sie sicher war, dass du unsere Nähe spüren würdest. Sie wollte, dass du angemessen begrüßt wirst. Heute Nacht wird es anders sein.«

»Was wird anders sein?«

»Heute müssen wir beichten.«

»Beichten?«

»Ja, ich habe es doch schon mal erwähnt. Wir müssen beichten, gegen welche Regeln wir verstoßen haben.«

»Was sind denn das für Regeln?«

»Du wirst es hören. Wenn du an der Reihe bist, sag nichts. Ich werde reden. Du bist neu, du brauchst diesmal noch nichts zu sagen. Ich bin deine Lehrerin. Ich werde für uns beichten.«

»Pia, was soll das? Wir sind doch kein Nonnenkloster.«

»Ludmilla, glaub mir: An den Tagen der Beichte ist ein Nonnenkloster ein Vergnügungspark gegen die Schwesternschaft.«

Sie parkte den Wagen, und wir gingen schweigend durch den Wald bis an den Zaun, der den Urwald begrenzte.

Wenige Minuten später waren wir von unberührter Wildnis umgeben. Pia ging voraus. Sie kannte einen verborgenen Pfad durch das Dickicht, der uns schneller an unser Ziel brachte.

Schließlich standen wir vor dem Erdhügel. Das geheime Tor stand offen. Der flackernde Schein von Fackeln drang aus dem Gang, der ins Gewölbe hinunter führte.

»Komm«, sagte Pia, als ich zögerte. »Wir sind spät dran. Ich will nicht Dinahs Zorn auf uns ziehen.«

»Das will ich dir auch nicht geraten haben«, ertönte plötzlich eine schneidende Stimme aus der Tiefe. Dinah trat hinaus in die Dunkelheit. Ihr Blick war eisig. »Ihr seid die letzten. Hinein mit euch, damit ich das Tor schließen kann.«

Wir schlüpften mit eingezogenen Köpfen an ihr vorbei und eilten den Gang hinab in Richtung Versammlungsraum. Hinter mir ertönte ein dumpfes Geräusch. Schwere Steinquadern stießen aufeinander. Das Tor war geschlossen. Wir waren eingesperrt in der unterirdischen, geheimen Welt der Vampire.

Dinah holte uns schnell ein. Ich spürte die Kälte, die von ihr ausging, als sie dicht hinter uns blieb.

Dann betraten wir das Gewölbe. Hunderte von Kerzen an den Wänden beleuchteten eine bizarre Szenerie. Var saß regungslos am Kopfende des großen Tisches. Links neben ihr saß die ältere Vampirin Solveigh. Der Platz rechts neben Var war frei. Die Novizinnen knieten mit nach unten gesenkten Köpfen auf dem Boden. Jede trug ein schwarzes Gewand mit Kapuze. Pia nahm eines von einem Haken und warf mir ein zweites zu. Wir streiften es in aller Eile über. Pia zog mich zu den anderen, und wir knieten ebenfalls nieder. Dinah setzte sich auf den freien Platz neben Var und schlug ein großes Buch auf, das sehr alt schien. Sie nahm eine altertümliche Feder, tauchte diese in eine Phiole mit einer roten Flüssigkeit und schrieb eine Zahl auf.

»Blut«, flüsterte Pia. »Dinah schreibt alles mit Blut auf.«

»Was schreibt sie auf?« flüsterte ich. Langsam wurde mir etwas unbehaglich.

»Ruhe!« ertönte plötzlich Dinahs schneidende Stimme durch den Raum. »Die Oberin spricht.«

Var öffnete ihre Augen, blickte stumm auf uns herab und begann mit seltsam monotoner Stimme zu sprechen:

»Nicht Leben, nicht Tod.

Nicht Mensch, nicht Tier.«

Die anderen wiederholten ihre Worte feierlich.

Mir wurde klar, dass es sich zweifellos um eine Litanei handelte. Heilige Worte, unzählige Male rituell vorgesprochen und wiederholt.

Var sprach weiter:

»Wir.

Geboren aus dunklen Tagen.

Am Anbeginn der Zeit.

Wir.

Schwestern auf ewig.

Durch die Macht des Blutes.«

Wir wiederholten ihre Worte, die mich seltsam einlullten. Sie durchströmten mich, wurden Teil meines Körpers, meiner Seele. Uralte Worte. Beschwörungen. Verweise auf vergangene Größe. Schwüre. Blutschwüre.

Ich sah kurz zu Pia. Sie rollte mit den Augen. Was mich seltsam anrührte, schien sie nur noch zu langweilen. Wie oft hatte sie in all den Jahren die Litanei wohl schon mit anhören müssen?

Dann schwieg Var.

Aber auch ohne ein Wort zu sagen, beherrschte sie die Szenerie mit ihrer außerordentlichen Autorität. Der Raum barst förmlich vor Energie. Dann ergriff Dinah das Wort, und ich spürte, dass ein Teil dieser ungeheuren, machtvollen Energie auch von ihr ausging.

»Jetzt sprecht!« forderte sie uns auf und tauchte die Feder erneut in das Blut.

Die erste der Novizinnen erhob sich.

»Ich bin Lara. Ich habe verstoßen«, flüsterte sie. »Ich nahm zu viele Leben. Fünfmal in einem Monat.«

Dinah schrieb etwas in ihr Buch.

Die nächste erhob sich.

»Ich bin Victoria. Ich habe verstoßen. Ich habe ein Opfer liegenlassen, weil ich gestört wurde. Ich war unaufmerksam.«

Dinah schrieb erneut.

Fünf andere Novizinnen bekannten Verfehlungen. Eine hatte sich einem Menschen offenbart. Er hatte ihr kein Wort geglaubt.

Dinah blickte zu Var.

»Töte ihn trotzdem«, befahl Var.

Ich erschauerte und dachte an den Professor.

Dann war Pia an der Reihe.

»Ich bin Pia. Ich spreche heute, dieses eine Mal, auch für Ludmilla. Ich habe verstoßen. Wir haben zusammen gejagt. Viermal.«

Ich zuckte zusammen.

Das war grob untertrieben.

Dinah sah auf, schüttelte missbilligend den Kopf und schrieb.

Außer Pia und mir beichteten noch vierzehn andere Novizinnen. Nur Dinah, Solveigh und Var waren offenbar ausgenommen. Mir fiel auf, dass insgesamt nur neunzehn Personen im Raum versammelt waren. Eine von uns fehlte.

Ich traute mich jedoch nicht, Pia zu fragen, denn nach der Beichte verfielen alle in dumpfes Schweigen. Dann endlich stand Var auf, nickte Dinah zu und verließ den Raum.

Dinah klappte das Buch zu und folgte ihr mit Solveigh.

Die anderen entspannten sich langsam, standen nach und nach auf und begannen leise Gespräche.

»Was passiert jetzt?« fragte ich Pia.

»Sie besprechen sich in Vars Gemächern. Alle Verfehlungen werden notiert, addiert, und wer zuviel gesündigt hat, wird bestraft.«

»Mir ist aufgefallen, dass wir nur neunzehn sind.«

Eine andere Vampirin drehte sich zu mir.

»Mona ist in der Kammer. Dinah hat sie hineinbefohlen, kurz nachdem du das erste Mal hier warst, Ludmilla. Sie hatte damals schon einige Zeit nicht getrunken. Sie bekommt lange kein Blut. Es ist verdammt hart.«

»Aber warum verschweigt ihr eure Verfehlungen nicht?« fragte ich.

»Dinah wacht über uns«, antwortete eine andere Vampirin. »Sie beobachtet jede von uns. Nicht immer und nicht ständig. Aber jede ist irgendwann dran. Du weißt nie, wann sie in deiner Nähe ist. Dinah kann sich, wie jeder Vampir, gegen andere unserer Art geistig abschotten. Man kann sie nicht spüren, wenn sie es nicht will. Es ist besser zu bekennen. Wer der Lüge überführt wird, kommt noch länger in die Kammer.«

Ich sah Pia an. Sie hatte bei der Beichte gelogen.

Sie zuckte nur mit den Schultern, beugte sich zu mir und flüsterte mir ins Ohr: »Es gibt keinen echten Spaß ohne Risiko, Ludmilla.«

Plötzlich ging die Tür auf.

Die anderen zuckten zusammen.

Dinah trat ein, das Buch in der Hand. Sie blieb eine Zeitlang stehen, ließ ihren Blick durch den Raum schweifen und legte das Buch schließlich auf eine steinerne Säule. Ich spürte überall um mich herum Erleichterung. »Heute ist niemand dran«, flüsterte Pia.

»Ludmilla!«

Dinahs Stimme war wie Eis.

Ich fuhr zusammen.

»Komm mit«, befahl Dinah. »Die Oberin will dich sehen.« Wir gingen hinaus. Angst schnürte mir die Kehle zu. Dinah ging mit mir einen langen Gang entlang, von dem links und rechts mehrere Türen abgingen. Alle waren aus Holz, eine jedoch aus schwerem Eisen. Dinah blieb vor dieser Tür stehen, drehte sich lächelnd zu mir um, schob ein kleines Sichtfenster auf und sagte:

»Sieh hinein.«

Ich tat es und zuckte zurück. In dem kargen Raum wand sich eine zusammengekrümmte Gestalt, eine Frau. Krämpfe durchzuckten ihren Körper. Ihre Fingernägel krallten sich in den nackten Steinfußboden. Sie wimmerte grässlich.

Ich wandte mich ab.

»Die Kammer«, sagte Dinah. »Damit du siehst, wie wichtig Gehorsam ist.«

Sie ging weiter, und ich folgte ihr. Abscheu und Zorn durchfluteten mich. Von dieser Minute an hasste ich Dinah.

Schließlich blieb sie am Ende des Ganges stehen und klopfte leise gegen eine große, zweiflügelige Tür.

»Bring sie herein«, ertönte Vars Stimme.

Dinah öffnete die Tür, und ich trat in das Gemach der Oberin.

Var saß auf einem schweren, alten Holzstuhl und sah mich mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an. Der Raum war etwa drei Meter hoch und wurde von einem gewaltigen Kerzenleuchter an der Decke erhellt. Seltsame Artefakte hingen an den Wänden. Bemalte Knochen und geschnitzte Holzfiguren, die Wesen zwischen Tier und Mensch mit grotesken Proportionen zeigten. Direkt hinter dem Stuhl, auf dem Var saß, hing ein Gemälde, das fast vollständig von einem kleinen Vorhang verdeckt wurde.

»Komm näher«, sagte Var und richtete ihre raubtierhaften Augen auf mich. Ich ging langsam auf sie zu. Ihre Haut schimmerte weiß. Mir wurde kalt.

Sie deutete auf einen Stuhl. »Setz dich, Ludmilla.«

Ich tat es und sah zu Boden.

»Hast du Angst vor mir?«

Ich nickte mit dem Kopf.

»Ich weiß, du verstehst vieles nicht«, fuhr sie fort. »Du hast dich so gefreut, nicht mehr allein zu sein und die Schwestern gefunden zu haben, nicht wahr? Und jetzt bist du entsetzt über die starren Regeln, die Rituale, die Strafen.«

Ich nickte unmerklich.

»Glaub mir, mein Kind. Es hat alles seinen Sinn. Ohne Disziplin bricht alles zusammen. Wir können nur überleben, wenn wir uns kontrollieren. Die Macht in uns ist von Natur aus wild und unbeherrscht. Sie ist schon einmal außer Kontrolle geraten. Das darf nie wieder passieren.«

Sie hielt inne und sah mich an. In ihrem Blick konnte ich auf einmal so etwas wie Zärtlichkeit erkennen.

»Ich bin alt, Ludmilla. Sehr alt. Meine Zeit geht zu Ende. Bald wird Dinah herrschen. Sie ist stark, aber auch grausam. Ich weiß das. Aber keine sonst hat die Kraft zu herrschen. Trotzdem mache ich mir Sorgen. Es hat Orden gegeben, in denen sich die Novizinnen gegen ihre Oberin erhoben haben, wenn der Druck zu groß wurde. Das soll uns nicht passieren. Ich muss Vorsorge treffen. Solveigh ist weise, aber schwach. Pia ist zu verspielt. Und die anderen wollen nur gehorchen und geleitet werden. Aber du, Ludmilla, du bist stark. Doch du bist jung. Zu jung.«

Sie hielt inne, stand auf und ging auf das Bild mit dem Vorhang zu.

»Sieh!«

Sie zog den Vorhang zur Seite. Ich sah das Bildnis einer jungen Frau und erschrak. Das Mädchen, das hier in sitzender Haltung porträtiert worden war, sah aus wie ich. Schwarze Haare, die gleichen hohen Wangenknochen, das gleiche Kinn. Es hätte meine Zwillingsschwester sein können.

»Das ist Bral, meine Tochter«, sagte Var. »Sie starb vor langer Zeit, lange bevor ich zu dem wurde, was ich heute bin. Als ich dich das erste Mal als Kind sah, sah ich sie. Ich war fasziniert. Nach Jahrtausenden wurde ein Mensch geboren, der aussah wie meine eigene Tochter. Ich beobachtete dich und fand Gefallen an dir. An deiner Unabhängigkeit und deiner Stärke, von der du selbst nichts wusstest, ja an die du bis heute nicht glaubst. Ich habe Dinah bisher verboten, dich und Pia zu beschatten. Ich will dir Zeit geben. Auch Zeit, Fehler zu machen, bis du verstehst. Du bist nicht wie andere. Aber die Zeit… ich bin müde. Komm näher.«

Ich stand auf und ging auf sie zu. Ihr unheimliches weißes Gesicht leuchtete in fahlem Glanz. Sie hob eine Hand und strich mir sanft über mein Haar.

»Wie Bral«, murmelte sie.

Dann straffte sich ihr Körper. »Ludmilla, hör mir zu. Ich will dir ein zweites Geschenk machen. Ich gab dir einst mein Blut. Aber da warst du halb tot und noch zur Hälfte ein Mensch. Jetzt bist du eine Untote. Und jetzt wirst du erneut trinken. Niemand hat bisher im Orden dieses Privileg erhalten. Es wird dich stark machen. Sehr stark für dein Alter. Aber ich befehle dir, mit niemandem darüber zu reden. Hast du das verstanden?«

Ich nickte wie betäubt.

»Dann trink, Ludmilla.«

Plötzlich war da eine Wunde in ihrer Hand. Ein dünner Blutstrahl schoß daraus hervor. Tiefrot wie Wein. Ich konnte nicht anders. Ich öffnete meinen Mund und trank Vars Blut in tiefen Zügen.

In meinem Kopf explodierte ein grelles Licht. Wellen von purer Energie pulsten durch meinen Körper, erfüllten jede Zelle mit reiner, unverbrauchter Kraft. Ich saugte mich fest an Vars Hand und wollte nicht aufhören, nie wieder. Aber dann wurde ich mit ungeheurer Gewalt zurückgerissen. Var hielt mich fest.

»Genug jetzt. Genug!« Ihre Stimme klang wie Donnergrollen.

Ich fiel keuchend auf die Knie und stammelte eine Entschuldigung.

»Es ist gut«, sagte Var. »Geh jetzt und lass mich allein.«

Ich wandte mich um, öffnete die Tür und wankte hinaus. Als letztes hörte ich, wie der Vorhang wieder vor das Gemälde gezogen wurde.