19 - OPFER

Der Hunger weckte mich noch vor Anbruch der Abenddämmerung. Ich zog mich an, setzte meine Sonnenbrille auf und verließ eilig das Haus. Es war schwer, meine Gier im Zaum zu halten. Ich konnte das Blut in den Adern der Menschen wittern, die an mir auf der Straße vorbeigingen. Ich hörte ihren Atem, spürte, wie ihre Herzen mit jedem Schlag machtvoll meine Nahrung durch ihre sterblichen Körper pumpten. Aber ich musste mich vorsehen. Keine Toten in der Nähe meiner Wohnung! Und dann war da noch das Versprechen, das ich Barker gegeben hatte. Ich war nicht sicher, ob ich es halten konnte.

Mit der U-Bahn fuhr ich an das andere Ende der Stadt zum großen Sportstadion. Wenn dort keine Veranstaltungen stattfanden, war das gesamte Areal ein verlassener, abweisender Ort voller leerer Parkplätze, verschlossener Imbisswagen und verwaister Bierstände.

Ich stieg an der Endstation aus und hielt mich eine Zeit im Untergeschoß auf. Bis auf drei Männer, die an einem Kiosk standen und Bier tranken, war niemand zu sehen. Ich näherte mich ihnen vorsichtig. Aber die Ausdünstungen der drei – Schweiß, Alkohol und Zigarettenrauch – überdeckten sogar den Geruch ihres Blutes. Ich wandte mich angeekelt ab und ging hinaus. Die Aussicht war deprimierend. Im diffusen Dämmerlicht der untergehenden Sonne lag das menschenleere Stadion. Neben mir erstreckte sich einer der riesigen Parkplätze wie ein schwarzer See bei absoluter Windstille.

Plötzlich hörte ich das Geräusch von Motoren. Etwa zehn Autos näherten sich auf der Hauptstraße, die aus der Stadt zum Stadion führte, meistens Kabrioletts, in denen junge Leute saßen. Johlend rasten sie auf den großen Parkplatz, fuhren im Kreis herum oder lieferten sich Rennen.

Ich sah eine Zeitlang zu und näherte mich dann, ohne irgend etwas zu planen, langsam dem Parkplatz. Die Jugendlichen waren allesamt teuer gekleidet: Kinder reicher Leute, die sich am Stadtrand mal ein bisschen mit ihren schicken Autos austoben wollten.

Als ich nah genug war, spürte ich auch meinen quälenden Hunger wieder. Ich blieb am Rande des Parkplatzes stehen und starrte sie schweigend an.

Irgendwann bemerkte mich ein junges Paar in einem Porsche. Der Fahrer raste auf mich zu, bremste und kam mit quietschenden Reifen neben mir zum Stehen.

»Noch nie ’n Mann in einem Auto gesehen?« fragte er lachend, als ich ihn weiter wortlos ansah.

Seine Begleiterin lachte mit.

Der Hunger tat fast körperlich weh.

Andere Wagen näherten sich. Schließlich stand der ganze Pulk um mich herum.

»Was ist denn mit der los?« fragte eine junge Frau in einem atemberaubenden Seidenkleid.

»Die ist stumm und glotzt Autos an, wahrscheinlich vom Land«, antwortete eine männliche Stimme.

Gelächter.

Ich sah die Halsschlagader des Porschefahrers pulsieren.

»Hey, du!« rief eines der Mädchen. »Kannst bei Patrick mitfahren. Der ist heute solo.«

Wieder lachten alle.

»Lassß sie doch in Ruhe.« Eine Autotür klappte, und einer der jungen Männer kam auf mich zu, blieb schließlich vor mir stehen und sagte: »Hallo, ich bin Patrick. Mach dir nichts aus dem Gequatsche. Die sind heute mal wieder völlig daneben. Geht’s dir nicht gut?«

Erst jetzt sah ich ihn richtig an. Er war Anfang Zwanzig, hatte kurze blonde Haare und ein offenes, sympathisches Gesicht. Auch er trug teure Designerkleidung. Er hatte ein kleines Pflaster im Gesicht. Wahrscheinlich die Folge einer Unachtsamkeit beim Rasieren. Am Rande des Pflasters klebte ein winziger, geronnener Blutstropfen. Ich konnte meinen Blick nicht mehr davon losreißen. Der Hunger war unerträglich. Blut. Frisches, dunkles, rotes Blut!

Nur die Anwesenheit so vieler Menschen hinderte mich daran, sofort über Patrick herzufallen. Statt dessen sagte ich mit brüchiger Stimme: »Ich bin eben in der U-Bahn beraubt worden. Könntest du mich zur nächsten Polizeiwache fahren?« Ich war erstaunt, wie spontan mir die Lüge über die Lippen kam.

Patrick zögerte nur kurz.

»Natürlich. Steig ein.«

Ich ging hinter ihm her zu seinem Auto.

Die anderen kommentierten unser kurzes Gespräch mit sarkastischen Kommentaren. Aber schließlich fuhren alle mit quietschenden Reifen davon und setzten im Schatten des gigantischen Stadions ihre wilden Rennen fort.

Patrick fuhr los in Richtung Stadt.

Ich schwieg. Stumm vor Hunger und Gier.

»Was ist denn genau passiert?« fragte er.

»Zwei Männer«, antwortete ich gepresst. »Einer hat mir eine Knarre vors Gesicht gehalten, und der andere hat mir seelenruhig die Taschen ausgeraubt.«

»So was. Heutzutage ist man ja wohl nirgends mehr sicher. Wie heißt du überhaupt?«

»Ludmilla.«

»Gut, Ludmilla. Dann wollen wir dich mal, so schnell es geht, zu den Bullen bringen.«

Er beschleunigte. Draußen raste die Landschaft vorbei. Am Straßenrand wies ein Schild auf einen abgelegenen Rastplatz hin.

»Entschuldige«, sagte ich nach einer Minute. »Könntest du da vorn auf den Parkplatz in dem Wäldchen fahren? Mir ist nicht gut.«

»Na, klar.«

Als der Wagen endlich zum Stehen kam, schaltete Patrick den Motor ab und sah mich erwartungsvoll an.

»Und? Wolltest du nicht raus?«

»Nicht mehr, Patrick. Es tut mir leid.« Wir waren allein.

»Was tut dir leid?«

»Dass du es sein musst.«

Ich wollte es nicht tun. Aber der Hunger war übermächtig. Ehe Patrick reagieren konnte, hatte ich ihn gepackt und meine Zähne in seinen Hals gegraben. Er konnte meinem Griff nichts entgegensetzen. Er versuchte, sich zu wehren, schlug auf meinen Rücken ein. Aber seine Bewegungen wurden immer kraftloser. Er starb schnell, während ich mich satt trank.

Als es vorbei war, weinte ich. Er lag neben mir, bleich und zusammengesunken. Ich hatte noch nie jemanden getötet, mit dem ich vorher geredet hatte, der nett zu mir gewesen war und dessen Namen ich kannte. Patrick hatte diesen Tod nicht verdient. Vielleicht ein anderer aus seiner Gruppe verzogener, reicher Kids. Aber nicht er, der einzige von ihnen, der sich anständig benommen hatte. Ich hasste mich. Ich hasste, was ich getan hatte. Ich haste meine teuflische Existenz und die abstoßende Art, wie ich mein untotes Leben erhalten musste.

Aber schließlich raffte ich mich auf, zog Patricks Leiche auf den Beifahrersitz, setzte mich ans Steuer und fuhr los.

Erst jetzt wurde mir das ganze Ausmaß meines Verhaltens klar. Ich war mit Patrick vor Zeugen weggefahren. Seine Freunde würden ihn irgendwann vermissen, die Polizei benachrichtigen und eine detaillierte Beschreibung der Person abgeben können, die zuletzt mit ihm gesehen worden war. Zum Glück hatte ich meine große Sonnenbrille getragen. Zudem hatten meine langen Haare einen großen Teil meines Gesichtes verdeckt.

Trotzdem: Ich musste dringend seine Leiche und den Wagen verschwinden lassen. So würde er vorerst lediglich als vermisst und ich als mögliche Zeugin gelten. Vielleicht würden sie annehmen, er sei abgehauen, mit mir durchgebrannt oder sonst irgend etwas. Wenn sie erst seine Leiche hätten, könnte es schwierig werden für mich.

Ich bog ab auf eine Seitenstraße. Mittlerweile war es dunkel. Nach ein paar Kilometern erreichte ich das Ufer eines großen Sees. Die Straße stieg leicht an, und schließlich konnte ich das Wasser unter mir im Licht des Mondes funkeln sehen. Ich wusste nicht, wie tief der See war, aber ich musste es riskieren. Es war besser als nichts. Ich stoppte den Wagen, schob Patrick auf den Fahrersitz, drehte das Lenkrad bis zum Anschlag nach rechts und schob den Wagen langsam auf die Böschung zu. Er fiel direkt ins Wasser, etwa zwei Meter vom Ufer entfernt, und ging sofort unter. Nach ein paar Sekunden war die Oberfläche des Sees so ruhig wie vorher. Patrick hatte sein nasses Grab gefunden.

Ich lief zu Fuß zurück in die Stadt. Ohne müde zu werden, in gleichbleibendem Tempo, schneller als jede austrainierte Marathonläuferin. Ich schwor mir, nie wieder so lange zu warten, wenn ich den ersten Anflug von Hunger verspürte. Nie wieder.

Kurz vor 23 Uhr hatte ich Barkers Haus erreicht. In seinem Arbeitszimmer brannte noch Licht. Ich klingelte und trat etwas zurück in die Dunkelheit. Er kam an die Tür und öffnete wieder, ohne zu fragen, wer da sei. Als er mich sah, prallte er zurück.

»Mein Gott!« rief er entsetzt.

Im Spiegel hinter ihm sah ich, warum. Vor seiner Tür stand eine schwarze Silhouette, in deren Kopf zwei bläuliche Augen glommen.

»Ich habe Ihnen doch davon erzählt, Professor«, sagte ich. »Sie leuchten, wenn es geschehen ist. Lassen Sie mich trotzdem hinein? Sie wollen sich das doch sicherlich näher ansehen, oder?«

Er trat zur Seite und ließ mich vorbei.

»Wer?« fragte er.

»Ein Mann. Auf die Art, wie ich es versprochen hatte. Das muss Ihnen reichen.«

Ich ging direkt in sein Arbeitszimmer, löschte das Licht und ließ mich in einen der Sessel fallen.

Barker setzte sich hinter seinen Schreibtisch, fuhr sich mit den Händen übers Gesicht und sagte dann: »Kommissar Goldstein hat vorhin angerufen. Ich habe ihm von diesen Vampir-Zirkeln erzählt. Er will morgen herkommen. Ich habe gesagt, ich rufe am Morgen wegen eines Termins zurück.«

»Gut«, antwortete ich. »Bestellen Sie ihn doch am frühen Abend her. So um 19 Uhr. Ich werde etwas früher hier sein. Machen Sie sich keine Sorgen. Es wird nichts passieren. Ich werde hauptsächlich dasitzen und zuhören.«

Barker nickte nur und starrte mich weiter an.

»Unglaublich, diese Augen«, murmelte er.

»Kommen Sie ruhig näher. Ich beiße nicht«, lachte ich.

Barker verzog keine Miene. Er blieb reglos sitzen.

»Gut, dann bis morgen«, sagte ich, stand auf und ließ den alten Mann allein.