8 - FREUNDE

Ich stand im Schatten einer Säule und betrachtete das Treiben auf der Bühne. Ein absurd aufgedonnerter Transvestit unterhielt die Gäste im Stil von Dame Edna und anderen Stand-up-Comedians – und das gar nicht mal schlecht. Die Gags waren okay, die Zuschauer gingen mit, und Transvestit Gilda verstand es ziemlich gut, auf Zwischenrufe einzugehen.

Im Publikum saßen einige erstaunlich junge Szene-Typen mit genug Geld in der Tasche, die sich hier unterhalten ließen, etwas aßen oder einen Drink nahmen, bevor sie irgendwann weiterzogen. Der Rest waren betuchte Geschäftsleute, die gutes Essen mit einer Portion Verruchtheit garniert genießen wollten.

Als ich mich gerade umdrehen und in mein Zimmer gehen wollte, spürte ich, dass sich mir jemand von hinten näherte. Ich fuhr herum und sah Carl, der sofort beschwichtigend eine Hand hob.

»Nicht so schreckhaft, Kleines«, sagte er mit leiser Stimme. »Da Grant nun mal will, dass du hier arbeitest, kannst du gleich damit anfangen. In der Küche könnten sie noch jemanden gebrauchen.«

Ich schwieg. Küche, das bedeutete grelles Licht und Hektik, was ich im Augenblick wirklich nicht gebrauchen konnte. Ich wollte mir zwar eigentlich nicht sofort Ärger mit Carl einhandeln, aber es ging wohl nicht anders.

»Erstens«, sagte ich mit betont ruhiger Stimme, »heiße ich Ludmilla und nicht Kleines. Und zweitens werde ich an der Bar arbeiten, wie Grant es angeordnet hat.«

Carl blieb ruhig, aber ich spürte seine verhaltene Wut.

»Ich wusste, dassß du mir nichts als Ärger machen wirst«, sagte er mit gepresster Stimme. »Aber ich warne dich. Geh mir aus dem Weg. Wenn der Boss dir nicht irgend etwas schulden würde, hätte ich dir längst dein freches, kleines Maul gestopft.«

Ich sah ihn wortlos an. Schließlich drehte er sich um und zog ab. Mir war klar, dass er es gewohnt war, Frauen zu dominieren. Es musste ihm fast körperlich weh tun, dass er über mich keine Macht hatte.

Ich ging zur Bar. Dort begrüßte mich ein kleiner, kompakter Mann mit extrem kurzen Haaren. Er trug ein weißes Dinner-Jacket und eine viel zu große Fliege. »Du musst Ludmilla sein«, sagte er, und seine Stimme klang aufrichtig freundlich. »Der Boss hat uns alles erzählt. Ich bin Matti, der Mega-Mixer. Ich kann Cocktails zaubern, die Tote aufwecken. Freut mich, eine so tapfere Lady kennenzulernen.«

Er strahlte mich an und reichte mir die Hand. Ich nahm sie, lächelte und sagte: »Mich freut es auch, vor allem, wenn ausnahmsweise mal einer nett zu mir ist.«

»Ach, vergiss Carl«, antwortete er und senkte seine Stimme. »Der ist immer so. Man gewöhnt sich dran. Komm hinter die Bar, denn jetzt beginnt der Cocktail-Unterricht.«

Matti war eine Seele von Mensch, und ich mochte ihn auf Anhieb. Er schien sich über meine Anwesenheit ehrlich zu freuen und erklärte mir all seine speziellen Drinks und das Abrechnungssystem des Clubs. Matti war der perfekte Barmann. Er flirtete mit Frauen, kumpelte mit männlichen Gästen, war devot, wenn es geboten schien, und frotzelte, wenn es angemessen war. Und er versäumte nie, danke zu sagen, selbst als viel los war. Ich lernte schnell, reichte ihm Gläser an, schnitt Zitronen und machte mich nützlich, wo es nur ging. Einmal griff er hinter mir stehend über mich hinweg und berührte aus Versehen meine Brust. »Entschuldige«, sagte er sofort. »Erstens war das keine Absicht, und zweitens bin ich stockschwul. Du kannst mich also praktisch als Frau betrachten. Na ja, als ziemlich hässliche, versteht sich.«

Dann zwirbelte er etwas verlegen an seiner Fliege, strich sich kokett übers Haar und flog zurück zu einem männlichen Gast.

Matti war der erste Mensch seit meiner unheimlichen Verwandlung, der mich zum Lachen brachte. Ich begann so langsam, den Abend zu genießen, als plötzlich Linda hinter mir stand.

»Guter Arsch«, sagte sie trocken, als ich mich gerade nach einer Flasche bücken wollte. Ich sah auf. Linda war etwa Ende Vierzig, blond, klein und drall. Eine früh verblühte Schönheit, der man ansah, dass sie nichts in ihrem Leben ausgelassen hatte.

»Danke«, sagte ich. »Freut mich, dass Ihnen mein Hintern gefällt.«

Linda lachte. Es klang rau. Nach Whisky und vielen Zigaretten.

»Sag Linda zu mir. Wir duzen uns hier. Du bist Ludmilla?«

Ich nickte.

»Grant hat mir von dir erzählt. Alle Achtung, Kindchen, scheinst ja was drauf zu haben. Aber glaub nicht, dass er dich nur aus Dankbarkeit hierbehält. Du bist hübsch, stellst keine Fragen und kannst sogar mit randalierenden Männern fertigwerden. So was kann unser Richard immer brauchen.«

Ich beschloss, erst einmal zu schweigen.

»Nichts gegen Grant«, fuhr Linda fort. »Wir sind alte Freunde, Richard und ich. Ich sage es dir nur, damit du… ach, Scheiße, was rede ich hier eigentlich… Hat Matti dir schon beigebracht, seinen Spezial-Cocktail zu mixen – ›Die letzte Ölung‹? Den brauch ich jetzt. Ach, Quatsch, um das zu können, braucht man Jahre, stimmt’s, Matti, alte Schwuchtel?«

Ich zuckte zusammen. Aber Matti lächelte nur, murmelte: »Die Ölung kommt«, und griff sich ein Glas.

Linda schwieg ein paar Sekunden und sah dem Mixer zu.

»Matti ist so warm, dass er schon glüht«, sagte sie. »Aber gleichzeitig hat er soviel Angst vor Aids, dass er enthaltsam wie ein Mönch lebt. Dabei hat er unendlich viele Chancen, der kleine Charmeur.«

»Linda, halt dein Schandmaul«, antwortete Matti trocken und wandte sich mir zu.

»Nimm sie nicht allzu ernst. Seit Linda nicht mehr anschaffen geht, ist sie irgendwie so unausgeglichen.«

Linda lachte wieder wie ein asthmakranker Boxer und griff sich den Cocktail, den Matti ihr reichte.

Sie trank die Hälfte des Glases in einem Zug.

Später am Abend erfuhr ich, dass sie mal mit Grant liiert war, nach ihrer Trennung zu trinken angefangen hatte und tatsächlich eine Zeitlang auf den Strich gegangen war. Grant hatte sie schließlich von der Straße geholt und ihr den Job in seinem Club als Mädchen für alles besorgt. Sie kümmerte sich um das Showprogramm, buchte die Künstler, Tänzerinnen und Musiker und sorgte mit Carl zusammen für den Einkauf. Niemand wusste, warum Grant sie damals überhaupt eingestellt hatte. Er galt als fairer, aber knallharter Geschäftsmann. Wer nicht reibungslos funktionierte, flog raus. Drogen und Alkohol duldete er nur bei seinen Gästen, nicht aber bei seinen Mitarbeitern. Bei Linda drückte er allerdings beide Augen zu.

Als der Club sich langsam leerte, setzte sich Linda zu mir, klopfte mir auf die Schulter und sagte: »Siehst eigentlich aus wie eine höhere Tochter, Mädchen. Erzähl mal was von dir. Wo kommst du her?«

Ich schwieg für einen Moment erschreckt. Typisch, dass ich mir nicht längst in Ruhe eine neue Biographie zurechtgelegt hatte. Zum Glück rettete mich Grant, der plötzlich auftauchte.

»Na, Ludmilla, ich sehe, dass du schon zwei unserer Besten kennengelernt hast. Matti, ich brauche einen Absacker. Mach mir ’ne Ölung.«

Es war bereits drei Uhr nachts. Höchstens fünf Gäste saßen noch an den Tischen. Lindas Frage schwebte trotz der Unterbrechung durch Grant immer noch im Raum, und ich spürte auch Mattis Neugierde.

Schnell stand ich auf. »Ich danke euch für den netten Empfang. Seid mir nicht böse. Aber ich fühle mich nicht sonderlich wohl. Ich gehe draußen noch ein paar Schritte.«

Dann verließ ich eilig den Club. Die anderen hatten nichts erwidert. Aber ich wusste, dass ich sie durch mein sonderbares Verhalten nur noch neugieriger gemacht hatte.

Die kühle Luft belebte mich auf der Stelle. Auf den Straßen war immer noch viel los. Musik tönte aus den Lokalen. Schwer alkoholisierte Menschen zogen im Pulk umher und machten einen Heidenlärm. Ich lief ziellos umher. Leute sprachen mich an, aber ich ging wortlos weiter und dachte nach. Lindas Bitte, etwas von mir zu erzählen, hatte mich unvorbereitet erwischt. Aber ich spürte, dass mich noch etwas anderes beunruhigte. Und auf einmal wusste ich, was es war. Die Freundlichkeit, die Sympathie, die mir Matti, Linda und Grant entgegenbrachten, machte mich schwach, verwirrte mich. Sie waren Menschen und ich ein Vampir. Konnte es zwischen uns überhaupt so etwas wie Freundschaft geben? Oder würde ich sie irgendwann, wenn der Hunger kam, als bloßes Schlachtvieh missbrauchen?

Ich blieb stehen. Es war stiller um mich herum geworden. Ich hatte das Rotlichtviertel hinter mir gelassen. Direkt vor mir sah ich ein gusseisernes Tor und einen Zaun. Der Eingang zu einem Friedhof! Mir lief ein Schauer über den Rücken, und gleichzeitig musste ich lachen: Würde ich mich jetzt wie die Vampire in den Hollywood-Filmen in eine Gruft schleichen und den Tag in einem Sarg verbringen? Ich horchte in mich hinein, aber ich verspürte nicht das geringste Bedürfnis nach Särgen, Grüften oder anderen Plätzen, die den Toten gehörten. Statt dessen hatte ich eine diffuse Lust auf Weite und Höhe. Mein Blick fiel auf eine Baustelle. Neben dem unfertigen Gerippe eines Hochhauses stand ein Kran. Und ehe ich mich versah, war ich dabei, das riesige Ungetüm aus Stahl zu besteigen. Schnell, kraftvoll und ohne Angst. Früher konnte ich keinen Baum ohne Herzklopfen hochklettern, und jetzt war ich bereits über zwanzig Meter über dem Erdboden und fühlte mich mit jeder Sekunde besser. Schließlich war ich ganz oben und blieb regungslos stehen. Eine sonderbare Ruhe überkam mich. Meine Gedanken hörten auf zu kreisen. Der Wind zerrte an meinem Mantel, aber ich wankte keinen Zentimeter. Unter mir lag die Stadt. Meine neue Heimat. Mein Jagdrevier. Ich vergaß Linda, Matti und Grant und fühlte nur noch die Kraft eines Raubvogels, der von einer Felsnadel in eine Schlucht hinabstarrt. Hätte unten ein zufällig vorbeigehender Passant seinen Blick erhoben, würde er denken, dort stünde im fahlen Licht des Mondes ein Wahnsinniger auf der äußersten Spitze des Krans. Ich bewegte mich nicht, bis der Morgen graute. Dann stieg ich hinab und kehrte in den Club zurück.