4 - IN DER STADT

Aber ich tat es doch. Mein zweites Opfer war ein Wanderer, der zufällig im Wald meinen Weg kreuzte, als ich bereits halb wahnsinnig vor Hunger war. Er pfiff vor sich hin, und ich roch ihn schon, lange bevor ich ihn hören konnte. Wie ein Raubtier hockte ich bewegungslos hinter einem Gebüsch. Er kam näher. Ich ließ ihn passieren, folgte ihm lautlos im Schutze des Dickichts. Meine Bewegungen waren fließend, katzenhaft. Warum schlug ich nicht zu? Etwas in mir hielt mich zurück. Nein, tu es nicht. Er ist ein Mensch. Nimm ein Tier. Es ist Mord. Doch der Hunger und die Gier waren zu stark. Mit einem gewaltigen Sprung löste ich mich schließlich aus dem Schutz des Waldes und griff ihn an.

Es ging alles sehr schnell. Der Mann gab nur einen unterdrückten Laut von sich, bevor ich ihn von hinten mit einem harten Schlag bewusstlos schlug. Er lag schlaff in meinen Armen. Seine Halsschlagader pulsierte. Tränen schossen mir in die Augen, als ich zubiss und ihn leertrank wie eine Verdurstende.

Nachdem der unmittelbare Rausch verflogen war, kamen die Gewissensbisse. Der Jäger in der Hütte hatte mich angegriffen, aber dieser Mann war ein unschuldiges Opfer. Ich machte mir bittere Vorwürfe und ekelte mich vor mir selbst. Aus Ludmilla, der Studentin, war ein Ding geworden, das Menschen tötete und ihr Blut trank. Menschen! Ich spürte, wie einsam ich war, sehnte mich nach Gesellschaft. Nach Gesprächen. Mir war klar, dass ich meine Eltern, meine Freunde nie wiedersehen konnte. Nur Fremde würden nicht bemerken, wie sehr ich mich verändert hatte. Aber konnte ich Menschen überhaupt noch normal begegnen, mich unterhalten, lachen, ohne daran zu denken, dass in ihren sterblichen Körpern meine köstliche Nahrung pulsierte? Oder würde ich Wesen wie mich, andere Vampire, finden müssen, um mein Bedürfnis nach Gesellschaft zu stillen? Allerdings verspürte ich keinerlei Lust, die Frau wiederzusehen, der ich mein zweites, unmenschliches Leben zu verdanken hatte. Aber egal, was die Zukunft bringen würde: im Wald konnte und wollte ich nicht länger bleiben. Ich brauchte das Leben und vor allem die Anonymität einer großen Stadt. Der Wanderer hatte etwas Geld bei sich getragen. Es würde reichen, um mir eine Zugfahrkarte zu kaufen. Ich musste mich auf die Suche nach einem Bahnhof machen.

Entschlossen lief ich noch in derselben Nacht los. Irgendwann musste dieser Wald ja einmal ein Ende haben. Es war erschreckend und faszinierend zugleich, wie schnell und behende ich mir den Weg durch die Dunkelheit bahnte. Ich spürte keinerlei Erschöpfung oder Müdigkeit. Nicht einmal mein Atem ging schneller. Ich fragte mich, wie sehr sich wohl mein Äußeres verändert haben mochte, und brannte darauf, mich in einem Spiegel zu sehen.

Nach sechs Stunden lichtete sich der Wald. Die ersten Häuser tauchten auf. Hunde bellten, wenn ich mich näherte, um sich schließlich winselnd zu verkriechen. Es war immer noch dunkel und keine Menschenseele unterwegs. Ich lief unermüdlich weiter. Endlich spürte ich Asphalt unter meinen Füßen. Reihenhaussiedlungen prägten jetzt das Bild. Die Straßen wurden breiter. Ich blieb stehen und lauschte. Mit meinem feinen Gehör analysierte ich die verschiedenen Geräusche in der Umgebung. Autos, Gespräche, ein unspezifisches Brummen irgendwelcher Maschinen. Ich stand bewegungslos auf der Straße und konzentrierte mich auf ein bestimmtes Geräusch. Endlich konnte ich das Rattern von Rädern auf Schienen hören. Es nahm ab, Bremsen quietschten. Ein Zug hielt. Irgendwo in der Nähe musste ein Bahnhof sein. Eilig folgte ich dem Geräusch.

Plötzlich hörte ich ein Auto hinter mir. Es überholte mich, und mit Entsetzen sah ich, dass es ein Polizeiwagen war. Der Wagen hielt am Straßenrand. Ein schwerer Mann mittleren Alters in Uniform stieg aus. Ich spürte, dass er zwar neugierig, aber nicht aufgeregt war. Er fand es wohl lediglich merkwürdig, dass eine junge Frau nachts mitten auf der Straße herumlief. Ich registrierte, dass ich offensichtlich in der Lage war, die emotionale Befindlichkeit von Menschen zu spüren. Der Polizist kam langsam auf mich zu. Bei jedem Schritt schwang der Revolver gegen seinen mächtigen Oberschenkel. Ob eine Kugel mich wohl töten konnte?

»Können wir Ihnen helfen, junge Dame?« sagte er mit ruhiger Stimme. Ich schwieg. »Ist irgend etwas passiert?« insistierte er weiter. »Laufen Sie vor irgendwas weg?« Jetzt stieg noch ein Uniformierter aus dem Wagen. Jünger, schlanker und misstrauischer, wie ich sofort spürte. Ein entscheidender Moment war gekommen. Würde ich die Rolle eines Menschen weiterspielen können? Schließlich konnte ich ja nicht jeden, dem ich begegnete, umbringen. Und außerdem wusste ich nicht, wie sehr mich die Waffen der Beamten verletzen konnten. »Oh, nein, ich laufe nicht weg«, hörte ich plötzlich meine Stimme antworten. Rauer als früher, aber unverkennbar. Ich staunte selber, wie freundlich und selbstsicher ich klang. »Sie wundern sich sicher, dass ich hier mitten in der Nacht herumlaufe…« »Ganz genau«, antwortete der jüngere Polizist und leuchtete mir mit einer Taschenlampe ins Gesicht. Ich zuckte zurück und riss meinen Arm hoch.»Was soll das, Harry?« rief der Ältere und drückte den Arm seines Kollegen herunter. »Nun lass die Frau doch erst mal was sagen.« »Danke«, sagte ich. »Also, eigentlich hatten Sie recht. Ich laufe eigentlich doch weg. Aber nicht, weil mich jemand verfolgt, sondern eher im Gegenteil, weil mich jemand verlassen hat. Mein Freund, genaugenommen. Ich bin Sportlerin, und immer wenn es mir schlechtgeht, laufe ich, bis ich nicht mehr kann.« Ich lächelte. Es war ja noch nicht einmal komplett gelogen. Peter fiel mir auf einmal ein, und ich fragte mich für einen kurzen Moment, wie wohl sein Blut schmecken würde. Die Polizisten schwiegen. Der Jüngere sah an mir herunter und betrachtete meine zerrissene Jacke und die schmutzige Hose, um schließlich kopfschüttelnd bei meinen Haaren zu verweilen, die wirr und strähnig herunterhingen. »Hören Sie«, sagte ich und unterdrückte meinen Zorn. »Ich pflege mich nicht umzuziehen, bevor ich Streit mit meinem Freund anfange. Es geht mir nicht sehr gut, aber ich bin weder in Gefahr noch habe ich etwas getan, und meines Wissens gibt es in diesem Lande kein Gesetz, das nächtliches Joggen in heruntergekommener Kleidung verbietet, und außerdem…«»Schon gut«, sagte der Ältere. »Wir tun ja nur unsere Pflicht. Können wir noch irgend etwas für Sie tun?« »Ja«, sagte ich schnell in versöhnlichem Ton. »Sie können mir sagen, wo der Bahnhof ist.« »Oh, da müssen Sie noch etwa zwanzig Minuten diese Straße entlanglaufen«, sagte der Jüngere. »Sollen wir Sie hinbringen?« »Danke, nein«, beeilte ich mich zu sagen und lief los. Die Polizisten folgten mir nicht.

Das Gespräch mit den beiden Beamten hatte mich tief beunruhigt. Ich musste dringend etwas tun, um nicht aufzufallen. Ich brauchte eine Dusche, neue Kleidung und mehr Geld. Abrupt blieb ich stehen. Plötzlich sehnte ich mich mit unerwarteter Heftigkeit nach meinem Zuhause. Meiner kleinen Wohnung, meinen Kleidern, meinen Sachen. Ich brauchte ein Nest, einen Ort, an den ich mich wenigstens für kurze Zeit zurückziehen konnte, um alles in Ruhe zu überdenken. Aber warum eigentlich nicht nach Hause? Sicher, ich war seit über einer Woche verschwunden. Vielleicht war die Polizei schon dagewesen. Sie hatten sicher nachgesehen, nichts Verdächtiges entdeckt und waren wieder verschwunden. Warum sollten sie die Wohnung einer Verschwundenen so schnell versiegeln? Meine Schlüssel besaß ich noch. Es musste mir nur gelingen, unerkannt in mein Appartement zu kommen und auch wieder zu verschwinden. Das konnte doch nicht so schwer sein. Wenn ich Glück hatte, würde ich mit dem Zug noch in den frühen Morgenstunden zu Hause sein.

Ich rannte los. Schon nach wenigen Minuten wurden die Bahnhofsgeräusche immer deutlicher. Um diese Zeit war nicht mehr viel los, und so trat ich ins Licht an den Fahrkartenautomaten und löste ein Ticket. Aus einem anderen Automaten zog ich Seife, Shampoo und billiges Parfüm. Dann wartete ich.

Nach etwa einer Stunde kam ein Zug. Ich stieg ohne Hast ein, fand sofort ein leeres Abteil, löschte das Licht und atmete tief durch, als der Zug endlich abfuhr. Das Rattern der Gleise lullte mich ein, meine Unruhe verflog, und nach etwa der Hälfte der Strecke wagte ich mich vorsichtig in den Gang hinaus. Kein Mensch war zu sehen. Mit ein paar schnellen Schritten war ich auf der Toilette und blickte das erste Mal seit acht Tagen in einen Spiegel.

Ein fremdes, ebenso erschreckendes wie faszinierendes Wesen sah mich an. Schmutzig, bleich, mit hohen Wangenknochen. Es war, als hätte ein Bildhauer meine Gesichtszüge nachträglich bearbeitet und versucht, ihnen mit wütender Intensität mehr Ausdruck zu verleihen. Alles wirkte schärfer, kantiger. Hässlich war es nicht, aber in seiner Dynamik und Härte ungewohnt. Am seltsamsten aber waren die Augen mit ihren äußerst merkwürdigen Pupillen. Sie waren leicht oval und von eigentümlichem Blau. »Nachtblau«, schoss es mir durch den Kopf. Aber schon im nächsten Moment zogen winzige rote Schleier durch sie hindurch, als ob sie einen kleinen, eigenständigen Mikrokosmos bildeten. Meine Lippen wirkten voller. Ich zog sie mit beiden Zeigefingern zurück und betrachtete die Eckzähne. Sie waren nur ein kleines Stückchen länger als früher, aber sehr spitz.

Ich wusch mir das Gesicht und die Hände und säuberte mein Haar, so gut es in dem winzigen Waschbecken ging. Dann zog ich mich aus und betrachtete meinen Körper. Er wirkte, als hätte ich in den letzten Monaten intensiv Sport getrieben, jedoch ohne Muskelpakete aufzubauen. Arme, Beine und Torso strahlten eine fast sinnliche Drahtigkeit aus. Ich musste unwillkürlich lächeln. So hatte ich immer aussehen wollen, aber nie die Disziplin aufgebracht, das dafür nötige Trainingsprogramm zu absolvieren. Jetzt, in meinem neuen, unheimlichen Leben, war ich am Ziel meiner heimlichen Wünsche. Für einen verdammt hohen Preis. Ich würde andere Menschen töten müssen, um diesen Körper zu befriedigen.

Ich verdrängte den Gedanken, säuberte geduldig meine Kleidung und zog mich wieder an. Jetzt konnte ich mich wieder unter Leute wagen. Mein Aussehen war zwar etwas ungewöhnlich, aber zur Not würde ich als attraktive Exzentrikerin in unorthodoxer Kleidung durchgehen. Ich musste ja nicht gleich jedem Zugreisenden tief in die Augen blicken.

Die Begegnung mit dem Schaffner zehn Minuten später war die Nagelprobe. Ich bat ihn, das Licht im Abteil auszulassen, da ich empfindliche Augen hätte. Kommentarlos nahm er mein Ticket, schritt auf den erleuchteten Gang zurück, entwertete es und gab mir die Fahrkarte mit einem flüchtigen Lächeln zurück.

Etwa gegen sechs Uhr morgens stand ich dann im Schatten einer Litfaßsäule auf dem Bahnsteig meiner Heimatstadt und versuchte, meine Gefühle unter Kontrolle zu bringen. Ich war zu Hause und doch in der Fremde. Alles, was mir vertraut war, würde von jetzt an eine Gefahr bedeuten. Meine Familie, meine Freunde, Peter. Niemand durfte erfahren, was aus mir geworden war. Ich hatte gerade beschlossen, zu Fuß durch Seitenstraßen in meine Wohnung zu gehen, als ich plötzlich eine Hand auf meiner Schulter spürte.