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STREIT
Draußen auf dem Gang kam ich langsam wieder zu mir. Mir war klar, dass etwas Ungeheures geschehen war. Ich ging langsam zurück in Richtung Versammlungsraum. Als ich die Kammer passierte, hörte ich das grauenvolle Wimmern der gefangenen Vampirin und beschleunigte meinen Schritt. Plötzlich stand Dinah vor mir.
»Was wollte die Oberin von dir?« zischte sie und packte
meinen Arm. Ich wollte versuchen, mich loszureißen, besann mich aber eines Besseren und antwortete lächelnd: »Sie hat mir ein Bild gezeigt.«
Überraschenderweise lächelte Dinah, ließ meinen Arm los und befahl: »Los, zurück mit dir zu den anderen.«
Ich spürte ihren Blick in meinem Rücken, als ich zurück in den Versammlungsraum ging.
Dort war die Stimmung ohne Dinah, Solveigh und Var viel gelöster. Ich hörte die Novizinnen schon draußen lachen und schwatzen. Als ich eintrat, verstummten die Gespräche. Dann bestürmten mich alle mit Fragen. »Was wollte Var von dir?«
»Was hat sie gesagt?«
»So sag doch!«
Ich überlegte kurz. Var hatte mich lediglich verpflichtet, nichts über den Bluttrank zu sagen. Also erklärte ich, dass die Oberin mir erzählt hatte, ich erinnere sie an ihre Tochter.
»An ihre Tochter?« Pia kam auf mich zu. »An welche Tochter?«
»Die, die sie als Mensch hatte«, antwortete ich.
»Aber das ist über zweitausend Jahre her«, sagte Pia.
Ich zuckte mit den Schultern.
»Das ist kein gutes Zeichen«, meinte nachdenklich eine andere Vampirin.
»Warum?« fragte ich.
»Es heißt«, antwortete Pia, »dass Vampire sich im Herbst ihres Lebens wieder intensiv an ihre Tage als Mensch erinnern. Es ist ein Zeichen, dass sie ihrer übernatürlichen Existenz müde sind und das Ende herbeisehnen. Var hat bisher noch nie über ihre Tochter gesprochen. Der Wechsel steht bevor.«
Wir sprachen in dieser Nacht noch lange über Var, die Zukunft des Ordens und unsere Erlebnisse im alltäglichen Leben unter Menschen. In diesen Stunden fühlte ich mich erstmals einigermaßen wohl im Gewölbe. Ich war unter meinesgleichen, teilte ihre Freuden und Sorgen und fühlte mich endlich als Teil einer Gruppe.
Aber meine Gedanken schweiften immer wieder zurück in das Zimmer der Oberin. Ich hatte von ihrem Blut getrunken, fühlte eine ungeheure Energie und Kraft in mir und bedauerte, dass ich den anderen nichts von meinem Erlebnis erzählen durfte.
Stunden später fuhren Pia und ich zurück in die Stadt. Sie war immer noch neugierig und ließ sich noch einmal alles wiederholen, was sich in Vars Zimmer zugetragen hatte.
Dann schwieg sie und fuhr schweigend durch die Nacht. Ich spürte, dass sie Angst vor dem drohenden Machtwechsel im Orden hatte.
Plötzlich fiel mir mein letztes Zusammentreffen mit dem Professor ein.
»Pia«, durchbrach ich unser dumpfes Schweigen. »Hast du jemals etwas von einem Vampir namens Gregor gehört?«
»Ja, aber woher weißt du von ihm? Ich habe bisher…«
»Barker besitzt ein Dokument, in dem die Rede von ihm ist«, erklärte ich.
»Gregor ist ein Mythos. Sein Name schwirrt schon seit Jahrhunderten im Orden herum, aber niemand weiß etwas Genaues. Es heißt, er sei der letzte lebende männliche Vampir, der sich versteckt hält und auf seine Stunde wartet. Ich glaube nicht, dass es ihn wirklich gibt. Niemand von uns hat je mit einem männlichen Vampir zu tun gehabt. Aber wir alle wüssten im stillen gern, wie es wohl wäre, einen Mann zu treffen, der wie wir ist. Unsterblich, stark, ein Blutsbruder. Gregor ist die Inkarnation heimlicher Wünsche, wenn du mich fragst.«
Pia setzte mich im Morgengrauen vor meiner Wohnung ab. Ich fand lange keinen Schlaf. Zuviel war passiert. Ruhelos streifte ich durch mein Appartement und versuchte, das Geschehene zu verarbeiten.
Als ich endlich einschlief, träumte ich von Michael. Er trug das Gewand der Vampire. Ich küsste ihn zärtlich inmitten der Mauern des Gewölbes und hörte Var mit sanfter Stimme sagen: »Gregor ist zurück, und er ist willkommen, weil du, meine Tochter, ihn liebst.«
Michael lachte, und seine Eckzähne waren lang und spitz. Ich erwachte am Nachmittag, weil es an meiner Tür klingelte. Über die Sprechanlage fragte ich, wer da sei, und Michael antwortete. Seine Stimme klang wütend. Ich hörte ihn energisch die Treppe hinauflaufen.
Dann stand er außer Atem in meiner Wohnung, warf seinen Mantel mit zorniger Geste auf einen Sessel und sagte: »So kann es nicht weitergehen, Ludmilla. Ich riskiere meinen Job.«
»Michael, was ist denn?«
Ich ging zu ihm und versuchte ihn zu umarmen.
Er drehte sich weg.
»Ludmilla. Der Mord an Matti und die Sache mit Serge sind immer noch nicht aufgeklärt. Wir haben bei unseren routinemäßigen Ermittlungen auch jeden im Club überprüft, bei Grant die Papiere eingesehen und unsere Datenbestände gecheckt. Ich habe meine Leute angewiesen, dich erst mal aus dem Spiel zu lassen, und gesagt, dass ich mich selbst um die geheimnisvolle Ludmilla kümmern wolle. Und das habe ich getan. Und siehe da: Grant hat nichts. Er hat keinen Vertrag mit dir, es gibt keine Arbeitspapiere. Er weiß noch nicht einmal deinen vollen Namen. Du bist in dieser Wohnung nicht gemeldet. Ludmilla, du bist so etwas wie eine Illegale. Eigentlich müsste ich dich sofort verhaften, um deine Identität zu klären.«
Ich schwieg betroffen. Warum hatte ich mich nur um all das nicht gekümmert? Andererseits hätte Michael falsche Papiere ohnehin schnell erkannt.
»Bisher habe ich dir vertraut und dich in Ruhe gelassen,« fuhr Michael wütend fort. »Weil ich dich liebe und dir Zeit geben wollte, mir alles zu erklären. Jetzt kann ich dich nicht weiter decken. Du erklärst mir hier und jetzt, wer du bist und wovor du fliehst, sonst sehen wir uns nicht wieder.«
Was sollte ich ihm sagen? Die Wahrheit würde ihn umbringen, so oder so. Lügen halfen mir nicht mehr. Ich musste Zeit gewinnen, um über eine Lösung nachzudenken.
»Gut, Michael« sagte ich schließlich verzweifelt. »Heute Abend im Club in meinem Zimmer sollst du alles erfahren. Ich muss nur…«
»Nein, jetzt«, brüllte er. »Jetzt will ich die Wahrheit wissen. Hör auf, mich hinzuhalten.«
Er war rot vor Zorn.
»Schrei mich nicht an, Michael! So erfährst du erst recht nichts von mir.«
»Dann nicht!« brüllte er und trat mit voller Wucht gegen einen Tisch. Eine Blumenvase fiel klirrend zu Boden.
Michael packte seinen Mantel und rannte hinaus. Im Treppenhaus hielt er noch einmal inne und rief: »Innerhalb von drei Tagen erscheinst du bei mir im Büro und erklärst mir alles. Sonst kann ich nichts mehr für dich tun.«
Ich ließ mich auf mein Bett fallen und begann hemmungslos zu weinen.
»Vergiss die Menschen«, hörte ich Pias Stimme aus weiter Ferne zu mir sagen.