20 - BEGEGNUNG

Am Spätnachmittag des nächsten Tages besuchte ich endlich Linda im Krankenhaus. Das Gebäude strahlte eine Atmosphäre von Krankheit und Tod aus. Ich fühlte mich unwohl, als ich die langen, weißen Korridore entlangging, bis ich endlich die Tür zu Lindas Zimmer fand. Sie lag in ihrem Bett und schlief. Vorsichtig setzte ich mich neben ihr Bett auf einen Stuhl und sah sie schweigend an. Linda hatte verdammt viel Glück gehabt. Trotzdem würde es noch eine ganze Weile dauern, bis sie wieder ganz die alte sein würde. Wenigstens würde Grant Linda niemals im Stich lassen, solange er den Club weiterführen konnte.

Wer hätte das gedacht? Eine alternde, saufende Ex-Prostituierte war zu meiner besten Freundin geworden. Ich hoffte inbrünstig, sie bald wieder in meiner Nähe zu haben. »Und dann, Linda«, flüsterte ich, »brauchst du keine Angst mehr zu haben. Ich habe mich um das Schwein gekümmert, das dir das angetan hat.« Mit leichtem Entsetzen spürte ich, wie eine Welle von Genugtuung durch meinen Körper wogte. Ja, ich hatte Rache genommen. Und ich hatte Spaß daran gehabt. Zuviel Spaß!

Abrupt stand ich auf, drückte sanft Lindas Hand und verließ eilig den Raum.

Draußen vor dem Krankenhaus atmete ich tief durch, froh der bedrückenden Atmosphäre des Gebäudes entkommen zu sein. Es war bereits dunkel. Ich lief noch eine Zeitlang ziellos durch die Gegend und machte mich dann auf den Weg zu Barkers Haus.

Ich war sonderbar aufgeregt, als ich schließlich die Auffahrt zum Haus des Professors hochging und an seiner Tür klingelte. In ein paar Stunden würde ich Goldstein treffen. Schon jetzt spürte ich ein angenehmes Prickeln, als ich an meine kleine Lügenvorstellung als Barkers Sekretärin dachte. Was für ein amüsanter Gedanke: ich würde die Person, die auf der Jagd nach mir war, beraten.

Barker öffnete die Tür. Ich merkte sofort, dass er sich in seiner Haut nicht wohl fühlte.

»Hören Sie, Professor«, versuchte ich ihn zu beruhigen, als wir in sein Arbeitszimmer gingen. »Es besteht wirklich kein Grund zur Sorge. Was soll der Mann merken? Außerdem war ich immerhin Archäologie-Studentin. Also, jetzt machen Sie bitte nicht so ein Gesicht. Was genau wollen Sie dem Kommissar denn eigentlich erzählen?«

»Nun, er will ja wissen, ob es unter den Leuten, die sich für das Okkulte interessieren, möglicherweise irgendwelche Spinner gibt, die solche Morde begehen könnten. Ich kenne mich ganz gut in der Szene aus. Ich weiß, dass es da ein paar wirklich verrückte Vögel gibt. Und die werde ich ihm nennen. Was bleibt mir übrig. Ich kann ihm ja schlecht sagen, wen er eigentlich suchen sollte, nicht wahr?«

»Was hat es denn nun mit diesen Vampir-Zirkeln auf sich?« fragte ich, ohne auf seine letzte Bemerkung einzugehen.

»Na ja, es gibt da alles mögliche: Horrorfilm-Fans und so weiter, aber auch eine Gruppe, die sich ›Die Jünger Draculas‹ nennt. Die laufen nachts auf Friedhöfen rum, opfern Tiere, trinken deren Blut und all solche Sachen.«

Ich wurde hellhörig. »Die halten sich also für Vampire?«

»Sozusagen.«

»Und warum haben Sie mir bisher noch nichts von diesen Leuten erzählt?«

Barker sah mich erstaunt an. »Ludmilla, ich rede hier von irgendwelchen Spinnern. Das hat nicht das geringste mit dem zu tun, was… was Sie sind.«

»Trotzdem«, sagte ich gereizt. »Ich werde mir diese Leute mal ansehen. Auch ich muss jeder Spur nachgehen, egal, wie absurd es auch klingen mag.«

»Machen Sie, was Sie wollen«, seufzte Barker. »Die ganze Sache wächst mir langsam sowieso über den Kopf.«

Ich hatte sofort ein schlechtes Gewissen, stand auf und legte meine Hand auf Barkers Schulter.

»Entschuldigen Sie, Professor. Es tut mir leid, wenn ich eben unfreundlich war. Lassen Sie uns von was anderem reden. Haben Sie dieses alte Dokument weiter übersetzt?«

Barker nickte, und ich merkte, dass seine alte Vitalität wieder erwachte, als er in seinen Notizen wühlte.

»Hier«, sagte er. »Ich habe zwei weitere Absätze entschlüsselt. Wie es heißt, verbergen sich die einzelnen Orden der ›Dunklen Schwestern‹ stets in unterirdischen Gewölben. Sie sind allerdings nicht die ganze Zeit dort. Wir müssen jetzt…«

Die Türklingel schrillte.

Barker sprang auf.

»Goldstein! Er ist viel zu früh dran!«

»Ganz ruhig, Professor, bleiben Sie sitzen. Ich mache schon auf. Entspannen Sie sich und überlassen Sie das Reden bis auf weiteres mir.«

Ehe er antworten konnte, war ich schon auf dem Flur und öffnete die Haustür.

Goldstein klappte der Kiefer herunter. »Sie?«

»Guten Abend, Herr Kommissar. Ja, ich hier. Passt es nicht in Ihr Weltbild, dass man in ›Grants Club‹ bedient und trotzdem gelegentlich für einen Professor als dessen Assistentin arbeiten kann? Ich studiere Archäologie, Herr Kommissar.«

Goldstein trat wortlos ein. Dann gab er sich einen Ruck und reichte mir die Hand. Sie war angenehm warm. Ich fühlte ein sonderbares Prickeln in meinem Rücken.

»Und? Kann ich jetzt den Professor sehen?« fragte er und sah betont auf seine Uhr.

»Natürlich«, hörte ich die Stimme des Professors.

Barker stand in der Tür seines Arbeitszimmers. Krampfhaft versuchte er, seine Nervosität zu überspielen.

»Kommissar Goldstein, kommen Sie rein und setzen Sie sich.«

»Danke, dass Sie mich heute Abend schon wieder empfangen, Herr Professor«, sagte Goldstein. »Sie sagten, Sie hätten Informationen für mich?«

»Nun, wie man’s nimmt«, antwortete Goldstein. »Ich habe das recherchiert, was Sie wissen wollten. Versprechen Sie sich nicht zuviel davon.«

Dann hielt Barker einen längeren Vortrag über okkulte Vereinigungen, Vampirfreaks und all die anderen sonderbaren Menschen in der Stadt. Ziemlich schnell wurde klar, dass es sich zumeist um harmlose Zeitgenossen handelte, die vom Übersinnlichen fasziniert waren, einschlägige Literatur sammelten und tauschten, sich zu »Fachgesprächen« trafen oder Videoabende mit Horror-Filmen veranstalteten. Am äußersten Rand dieses Spektrums gab es allerdings auch ein paar Verrückte, die Schwarze Messen zelebrierten oder – wie im Falle der »Jünger Draculas« – sich als Vampire gebärdeten, Gräber schändeten und sich an Tieren vergriffen.

Goldstein hörte konzentriert zu, machte sich ab und zu Notizen und verzog keine Miene. Ab und zu sah er mich kurz an. Ich beobachtete ihn. Was faszinierte mich nur so an diesem Mann? Er war nicht mal besonders freundlich zu mir.

Als der Professor geendet hatte, blätterte Goldstein nachdenklich in seinen Notizen. »Vielen Dank, Herr Professor«, sagte er schließlich. »Das war sehr aufschlussreich.«

Er sah mich an.

»Was meinen Sie denn zu alldem, Ludmilla.«

»Man kann nie wissen«, antwortete ich. »Das Böse fasziniert die Menschen. Aber letztendlich glaube ich, dass das alles Spinner sind.«

»Auch Spinner morden«, sagte Goldstein.

Barker raffte seine Notizen zusammen und resümierte: »Wie dem auch sei, ich denke, diese ›Jünger Draculas‹ sind – zumindest was den Bereich Vampire betrifft – die einzigen, die wirklich so etwas wie kriminelle Energie entwickelt haben.«

Goldstein blickte auf.

»Sie meinen diese Typen, die nachts auf Friedhöfen rumgeistern?«

»Genau, die. Aber Mord… ich weiß nicht…«

»Keine Sorge, Herr Professor. Ich verhafte ja nicht gleich irgend jemanden. Wir ermitteln lediglich in alle möglichen Richtungen und sammeln Informationen. Ich denke, ich werde diese ›Jünger Draculas‹ mal besuchen. Haben Sie eine Adresse?«

Barker kritzelte etwas auf einen Zettel. »Hier. Ihr Chef nennt sich Alucard. Das ist Dracula rückwärts gesprochen. Sehr sinnig, nicht wahr? Sein richtiger Name ist Mark Polder.«

Goldstein stand auf und steckte den Zettel in die Tasche. »Ich danke Ihnen beiden, dass Sie mir Ihre Zeit geopfert haben. Ich sollte jetzt wirklich gehen.«

»Ich muss auch los, Professor«, beeilte ich mich zu sagen und stand auf.

»Soll ich Sie ein Stück mitnehmen?« Goldstein lächelte mich erstaunlicherweise an. »Soweit ich mich erinnere, stand draußen kein Auto.«

»Richtig beobachtet, Herr Kommissar. Ich fahre gern mit«, sagte ich und lächelte zurück.

Als ich auf ihn zuging, sah er mir etwas zu lange in die Augen.

»Ich habe seltsame Augen. Das haben Sie doch gerade gedacht, nicht wahr?« fragte ich.

»Ungewöhnlich, aber sehr schön«, sagte Goldstein beeindruckend souverän und griff nach seinem Mantel.

Nachdem wir uns vom Professor verabschiedet hatten, gingen wir zusammen hinaus. Es war ein warmer Sommerabend. Goldstein öffnete das Verdeck seines Wagens und fuhr los.

»Wohin darf ich Sie bringen, Ludmilla?« fragte er.

»Wo fahren Sie denn hin, Herr Kommissar?«

»Nennen Sie mich Michael«, sagte er. »Ich fahre stadteinwärts und werde wohl noch diesem Polder einen Besuch abstatten. Ich verspreche mir nicht allzu viel davon. Aber irgendwo muss ich ja anfangen.«

»Ich würde Sie gern begleiten, Michael«, sagte ich.

Goldstein sah mich erstaunt an.

»Warum?«

»Nun, ich möchte gern wissen, wie jemand aussieht, der sich für einen Vampir hält.«

Das war noch nicht einmal gelogen.

»Das geht nicht, Ludmilla.«

»Ach, kommen Sie«, sagte ich und lächelte ihn an. »Ich werde meinen Mund halten, und außerdem kann ich Ihnen ja vielleicht sogar Hinweise geben. Oder kennen Sie all die geheimen Abzeichen, die solche Leute tragen und die auf mögliche Querverbindungen zu anderen Gruppierungen hinweisen?«

Ich hoffte, er würde mich nicht weiter nach solchen Abzeichen fragen. Ich kannte nicht eines, ja ich wusste noch nicht einmal, ob es sie überhaupt gab.

Aber Goldstein lächelte nur und sagte: »Okay. Sie haben gewonnen.«

Gegen 21 Uhr kamen wir am Haus des sogenannten Herrn Alucard an. Er wohnte in einer heruntergekommenen Mietskaserne. Goldstein klingelte. Nach einer halben Minute tönte eine scheppernde Stimme aus einem Lautsprecher neben dem Eingang. »Ja, bitte?«

»Polizei«, sagte Goldstein. »Ich habe ein paar Fragen an Herrn Polder.«

Seine Stimme klang jetzt ganz anders. Viel härter, unnachgiebiger.

»Moment«, bellte der Lautsprecher.

Ein Summer ertönte. Wir drückten die Tür auf und betraten das Treppenhaus.

»Dritter Stock«, erscholl es von oben.

Schließlich standen wir vor Mark Polder, genannt Alucard, dem Vorsitzenden der »Jünger Draculas«. Er war allerhöchstens dreißig Jahre alt, sehr schlank, etwa einsneunzig groß, und er wirkte ungepflegt. Seine Augen waren trübe. Er hatte offenbar Drogen genommen. Polder stand in der halbgeöffneten Tür und versperrte uns die Sicht nach innen.

»Hat uns wieder jemand wegen Tierquälerei angezeigt?« fragte er gelangweilt.

»Eigentlich habe ich an Sie und Ihre Freunde vorerst nur ein paar Fragen«, sagte Goldstein.

»Hören Sie«, sagte Polder mit träger Stimme. »Heute Abend geht es nicht. Ich habe Besuch. Und einen Durchsuchungsbefehl sehe ich nirgends. Rufen Sie mich an, dann machen wir einen Termin.«

Dann wollte er die Tür zuknallen. Aber Goldstein stellte blitzschnell seinen Fuß dazwischen und stieß die Tür mit ganzer Kraft wieder auf. Polder flog zurück in den Flur.

»Sie haben soeben einen Polizisten angegriffen«, sagte Goldstein mit ruhiger Stimme. »Das gibt Ärger.«

Polder rappelte sich auf. »Ich? Sie angegriffen? Sie haben…«

»Schnauze«, sagte Goldstein. »Guck dir meinen Schuh an. Du hast mir den Schuh versaut mit deiner Scheißtür. Also, hör zu. Morgen um zehn Uhr will ich dich im Präsidium sehen. Und dann erinnerst du dich gut, was du in den letzten Wochen so getan hast und wer das bezeugen kann, verstanden?«

Dann drehte sich Goldstein um und ging die Treppen hinunter. Ich spürte seine mühsam unterdrückte Wut. Sie strahlte von seinem Körper ab wie Hitzewellen. Ich erschauerte.

Draußen vor der Tür blieb er stehen. »Vielleicht ist das ein Spinner«, sagte er. »Aber ich werde ihn und seine dämlichen Jünger beschatten lassen.«

»Ich habe das Gefühl, dass Sie hier nicht viel weiter kommen, Michael«, sagte ich. »Das ist doch bloß ein zugekiffter Penner, der am Wochenende mit ein paar Freaks den Gruftie-King spielt.«

»Mag sein, dass Sie recht haben. Aber ich gehe jeder Spur in diesem Fall nach. Jeder.«

Dann blickte er kurz in den wolkenlosen Nachthimmel, drehte sich plötzlich zu mir um, lächelte und fragte: »Wollen wir noch zusammen irgendwo etwas trinken? Es ist so ein schöner Abend.«

»Gern«, sagte ich, obwohl alle Warnleuchten vor meinem geistigen Auge hektisch blinkten. Worauf ließ ich mich da nur ein?

Goldstein fuhr mit mir zu einem kleinen Lokal, gar nicht weit von »Grants Club« entfernt.

Wir saßen uns an einem kleinen Tisch gegenüber. Zwischen uns stand eine Kerze. Goldstein bestellte Rotwein und sah mich an.

»Wie kommt es, dass jemand wie Sie in ›Grants Club‹ arbeitet. Das ist doch nichts für Sie.«

»Ich muss Geld verdienen«, sagte ich. »Oder wollen Sie mein Studium finanzieren, Herr Kommissar?«

»Es gibt andere Jobs«, sagte er und drehte das Glas in seinen Händen.

»Aber kaum welche, bei denen man soviel Geld in so kurzer Zeit verdient. Nun seien Sie mal nicht so moralinsauer, Michael. Ich kellnere, mixe Drinks und mache mich sonst wie nützlich. Grant ist ein fairer Chef, und ich habe immer noch genug Zeit für mein Studium.«

Goldstein runzelte die Stirn.

»Ludmilla, Sie tun ja gerade so, als ob es die Schießerei überhaupt nicht gegeben hätte. Im Viertel ist die Hölle los. Menschen sterben. Erst der Anschlag auf den Club. Dann Serges mysteriöser Tod. Ich kenne Grant. Er ist nicht der Typ, der Killer losschickt. Aber trotzdem könnte ein Zusammenhang bestehen. Ludmilla, sagen Sie mir, was da los ist.«

»Ach, so ist das«, antwortete ich. »Ein kleines Verhör bei einem Gläschen Wein.«

Ich stand auf.

»Das war also der Grund für Ihre Einladung. Sie wollen mich aushorchen. Ich gehe jetzt wohl besser.«

»Sieh an, eine sehr empfindliche junge Dame. Darf ich Sie daran erinnern, dass Sie sich angeboten haben, mir bei meinen Ermittlungen zu helfen?«

Ich zog wortlos meine Jacke an.

Goldstein lächelte amüsiert.

»Okay, ich wäre froh, wenn Sie mir etwas über den Ärger im Viertel erzählen könnten«, fuhr er fort. »Aber das war nicht der einzige Grund, mit Ihnen hierher zu gehen. Sie gefallen mir, Ludmilla.«

Er sah mir in die Augen.

»Auf Wiedersehen, Herr Kommissar«, sagte ich.

Dann rannte ich zur Tür hinaus. Die Nacht umfing mich wie ein alter Freund.

Ich lief zu Fuß nach Hause. Unruhig wie eine Raubkatze ging ich in meiner Wohnung hin und her. Goldstein hatte mich wütend gemacht. Und trotzdem hatte mir sein freches Kompliment gefallen. Was war nur mit mir los? Warum musste ich mich zu allem Unglück auch noch zu einem selbstzufriedenen Polizisten hingezogen fühlen? Moment, was hieß eigentlich selbstzufrieden? Goldstein wirkte souverän und unantastbar. Aber er war verletzbar. Mir fiel Mattis Geschichte von Michaels Frau Marian ein, die ihn verlassen hatte. Hatte er mich eingeladen, um sich eine nette Ablenkung zu suchen? Oder wollte er mich wirklich nur aushorchen? Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie es mit Goldstein weitergehen sollte.

Ich wollte jetzt nicht allein sein und beschloss, Grant noch einen Besuch abzustatten.

Der Club erstrahlte in altem Glanz. Von den Spuren der Schüsse war nichts mehr zu sehen.

Ich ging ums Gebäude herum und schloss die Hintertür auf. Der erste, den ich sah, war Carl. Er hatte eine Kiste Bier in der Hand und blickte mich mit unverhohlener Verachtung an.

»Na, bequemt sich die kleine Lady auch mal wieder her?« fragte er mit vor Sarkasmus triefender Stimme. »Vielleicht möchtest du auch gleich wieder ein bisschen Chefin spielen und dich persönlich um die besten Kunden kümmern. Natürlich nur, falls du gerade nichts Besseres vorhast.«

»Was habe ich dir nur getan, das du mich so hasst, Carl?« Er drehte sich um und ging.

Ich fand Grant in seinem Büro. Er war begeistert, mich

zu sehen, und erzählte mir, dass er ein paar neue Tänzerinnen eingestellt habe. Die Stimmung im Club war, so Grant, allerdings immer noch gedrückt. Mattis Tod war noch nicht vergessen und Linda noch lange nicht wieder auf den Beinen. Trotzdem: Das Leben musste weitergehen, und Grant war froh, dass das Publikum weiterhin zahlreich erschien.

Es tat gut, bei ihm im Büro zu sitzen, über das Geschäft und die weitere Zukunft zu reden. Grant wollte mich nicht drängen, signalisierte jedoch, dass er mich gern wieder häufiger im Club sähe. Einige Stammgäste hätten schon nach mir gefragt.

»Carl wird es nicht freuen, mich wieder in seiner Nähe zu haben«, sagte ich.

»Damit muss er sich abfinden«, brummte Grant. »Ich will, dass du eher eine noch größere Rolle als bisher spielst, und das werde ich ihm auch bald sagen. Du kommst gut bei den Gästen an, Ludmilla. Carl ist ein hervorragender Organisator, aber keiner, der gut mit Menschen umgehen kann.«

Ich wusste nicht, ob er sich vorstellen konnte, wie Carl diese Nachricht aufnehmen würde. Aber letztendlich war es mir egal.

Wir saßen noch eine ganze Zeit zusammen und gingen dann runter in den Club. Als ich den neuen Mann an der Bar sah, vermisste ich Matti mit einer Heftigkeit, die mich erstaunte. Seine Freundschaft, seine ungezwungene Herzlichkeit fehlten mir sehr.

Ich setzte mich an einen Tisch und starrte Löcher in die Luft. Dann fühlte ich eine Hand auf meiner Schulter. Ich fuhr herum. Es war Pia.

»Hallo«, sagte sie und setzte sich neben mich. »Hab gehört, was hier passiert ist. Du mochtest den Barmann sehr, stimmt’s?«

»Ja, sehr«, antwortete ich.

»Musst du heute die ganze Nacht arbeiten?«

»Warum fragst du?«

»Nun, ich bin zu einer Party eingeladen. Ein paar Leute von der Uni. Ich dachte, du willst vielleicht mitkommen.« Sie sah mich erwartungsvoll an.

Sofort kamen mir Erinnerungen an mein früheres Leben. Partys. Lachen, tanzen, etwas trinken, Sex. Auf einmal verspürte ich wahnsinnige Lust, so etwas wieder zu erleben.

»Ja«, sagte ich. »Das würde ich tatsächlich gern. Warte.«

Ich ging zu Grant, um mir für den Abend frei zu nehmen. Er war nicht begeistert, spürte aber offenbar, dass mir Ablenkung guttun würde, und sagte schließlich zu.

Eine Stunde später betraten Pia und ich eine große Altbauwohnung. Schon von draußen konnte man laute Musik hören. Drinnen drängten sich ungefähr vierzig junge Leute, die ausgelassen feierten. Pia stellte mich ein paar Leuten vor. Dann verschwand sie in der Menge.

Jemand drückte mir ein Glas in die Hand. Ein junger Dunkelhaariger stellte sich neben mich, beugte sich dicht an mein Ohr und rief: »Kennst du Pia von der Uni?«

Ich schüttelte nur benommen den Kopf. Alles um mich herum wirkte so unwirklich. Wie ein ferner Nachhall aus alten, längst vergangenen Zeiten. Der Dunkelhaarige lächelte mich erwartungsvoll an. Aber ich konnte nichts sagen. Mir war klar: hier gehörte ich nicht hin. Ich war keine junge Frau mehr, die einfach so mit anderen Spaß haben konnte. Ich war ein Monster, das tötete, wenn die Zeit gekommen war.

»Entschuldige«, rief ich, um die laute Musik zu übertönen. »Kannst du mir sagen, wo die Toilette ist?« »Gleich da vorn.«

Er deutete auf eine Tür.

Ich drängelte mich an den Umstehenden vorbei, öffnete die Tür des Badezimmers und schloss hinter mir ab.

Seufzend setzte ich mich auf den Badewannenrand. Was für eine blöde Idee, mit hierher zu kommen. Pia hatte es sicher gut gemeint. Aber nachdem, was ich in den letzten Tagen durchgemacht hatte, gelang es mir erst recht nicht mehr, Normalität vorzutäuschen.

»Zeit zu verschwinden, Ludmilla«, sagte ich mir, stand auf, öffnete die Tür und drängelte mich geradewegs zum Ausgang durch. Pia stand direkt vor der Tür. Sie wollte etwas sagen, sah meinen Blick, schwieg dann schließlich, nickte mit dem Kopf und trat zur Seite.

Ich drückte kurz ihren Arm und lief hinaus.

Draußen in der Kühle der Nacht fühlte ich mich sofort besser. Ich beschloss, mir kein Taxi zu nehmen, sondern ging zu Fuß durch die leeren Straßen der Stadt. Nach ein paar hundert Metern kam ich an einem Spielsalon vorbei. Davor stand eine Gruppe junger Skinheads. Sie blickte gelangweilt in meine Richtung. Natürlich würde ich die Straßenseite wechseln, dachten sie. So waren sie es nachts in ihrem Viertel gewohnt. Ich tat es nicht. Der Gedanke, einer solchen Horde Blödmänner einfach auszuweichen, ärgerte mich. Langsam näherte ich mich der Gruppe. Jetzt hatte ich ihre Aufmerksamkeit erregt.

»Die Kleine will hier vorbei«, sagte einer. »Mach Platz, Paul.« Er lachte.

»Ich will aber nicht Platz machen«, sagte der Angesprochene und stellte sich mir direkt in den Weg.

Ich blieb dicht vor ihm stehen.

»Lass mich durch«, bat ich.

»Du musst bitte sagen«, antwortete er.

»Bitte«, sagte ich. Doch ich spürte, wie unbändige Wut in mir hochstieg. Reiß dich zusammen, Ludmilla, dachte ich. Du kannst nicht noch mehr Ärger brauchen.

Aber das andere war stärker. Meine Hände verkrampften sich.

»Du musst bitte, bitte, bitte sagen«, lachte Paul.

»Verpiss dich«, fauchte ich.

Paul zuckte zusammen.

»Oho«, tönten die anderen. »Paul, du kriegst Probleme.«

Sie umringten mich.

Paul griff nach meinen Haaren.

Ich drehte meinen Kopf weg und brach ihm mit einer schnellen Bewegung das Handgelenk. Dann trat ich nacheinander mit übernatürlicher Geschwindigkeit jedem in der Gruppe in den Unterleib.

Und dann lagen sie vor mir, zuckend, wimmernd, ungläubig.

»Seht ihr, das kommt davon, wenn man sich jungen Frauen grundlos in den Weg stellt«, sagte ich. »Das nächste Mal reiß ich euch die Eier ganz ab.«

Dann ging ich weiter. Auf einmal hatte ich viel bessere Laune.

Kurz vor meiner Haustür kaufte ich einem Jungen eine Abendzeitung ab. Auf der letzten Seite stand eine Meldung über das Verschwinden eines gewissen Patrick Weiss, Sohn eines reichen Kaufmanns. Eine Entführung sei nicht ausgeschlossen. Dringend gesucht wurde eine schlanke, schwarzhaarige junge Frau zwischen zwanzig und dreißig Jahren, die zuletzt mit dem Verschwundenen gesehen worden sei. Die Frau wurde ersucht, sich mit den Behörden in Verbindung zu setzen.

Ich hatte Glück gehabt. Keiner von Patricks Freunden hatte mich offenbar genauer beschreiben können. Trotzdem war klar: So etwas durfte mir nie wieder passieren.

Die Erinnerung an Patrick hatte mich sofort wieder tief deprimiert. Mein zweites Leben war in ziemliche Unordnung geraten. Ich hatte einen dummen und gefährlichen Fehler gemacht und war dabei, mich auch noch in einen Polizisten zu verlieben. Wie sollte es jetzt weitergehen?

Ich schloss meine Wohnung auf, ging hinein und sah lange aus dem Fenster. »Wo seid ihr, meine Schwestern?« flüsterte ich. Eine Träne rollte mir über die Wange und fiel blutrot auf die weiße Fensterbank.