5 - ZU HAUSE

Ich zuckte zusammen, wirbelte herum und riss abwehrend meinen rechten Arm hoch. Vor mir stand der Schaffner aus dem Zug. Erstaunt blickte er mich an. »Entschuldigung«, sagte er und hob beschwichtigend die

Hände. »Sie standen da so, als ob Sie Hilfe bräuchten.« »Und warum fassen Sie mich dann einfach an?« fauchte ich ihn an.

»Mein Gott, ich wollte doch nur helfen«, antwortete er und ging kopfschüttelnd weiter. Ich verfluchte mich. Noch keine Minute in der Stadt, und schon war ich unangenehm aufgefallen. Ich musste lernen, mich besser zu kontrollieren und mich unverdächtig zu benehmen. Vor allem aber ärgerte es mich, dass ich den herannahenden Schaffner nicht rechtzeitig gespürt hatte. Meine starken Gefühle angesichts der Rückkehr in meine Heimatstadt hatten mich unvorsichtig werden lassen. Ich atmete tief durch und machte mich sofort auf den Weg nach Hause. Es war noch nicht viel los auf dem Bahnhofsgelände. Ich schritt schnell und mit gesenktem Kopf an den Menschen vorbei. Niemand beachtete mich. Auf Umwegen, fernab der großen Straßen, die sich langsam mit Leben füllten, erreichte ich das Haus, in dem ich seit zwei Jahren zur Miete wohnte. Fast eine Minute lang stand ich reglos im Schatten eines Baumes und beobachtete den Eingang und die Fenster meiner Wohnung. Ich konnte nichts Verdächtiges feststellen. Also rannte ich schnell über die Straße, schloss die Haustür auf und lief die Treppen nach oben. Mein Herz pochte wie wild. Nur noch ein paar Stufen, dann würde ich endlich ein bisschen Ruhe finden. Doch gerade, als ich das Stockwerk mit meinem Appartement erreicht hatte, ging plötzlich die Wohnungstür meiner Nachbarin auf. Verdammt – so kurz vor dem Ziel. In Sekundenbruchteilen überdachte ich die Lage. Was konnte ich tun? Hinein in die Wohnung und die alte Frau töten? Fliehen?

Ich sah, wie die Tür sich langsam öffnete. Ich stand keine drei Meter entfernt. In einer Sekunde würde die Frau mich sehen. Ich reagierte reflexhaft, drehte mich um und rannte mit aller Kraft zurück zur Treppe. Dabei geschah etwas Seltsames. Alles um mich herum wurde auf einmal undeutlich, Wind blies mir ins Gesicht und ich fand mich – nur einen Wimpernschlag später – ein ganzes Stockwerk tiefer. Offenbar besaß ich unter Stress die faszinierende Fähigkeit, mich mit ungeheurer Geschwindigkeit zu bewegen. Das schien allerdings sehr kräftezehrend zu sein, denn mein Herz klopfte bis zum Hals und ich spürte ein merkwürdiges Zittern in meinen Gliedern.

»Komisch«, hörte ich meine Nachbarin noch zu ihrem Mann in die Wohnung hineinrufen. »Mir war eben so, als wenn da jemand gestanden hätte. Aber nun ist da niemand mehr. Seltsam. Ich hätte schwören können…«

Ich hörte, wie sie in den Fahrstuhl schlurfte und ihr Mann die Wohnungstür schloss. Regungslos verharrte ich noch ein paar Minuten in Sicherheit. Erst dann schlich ich mich langsam die Treppe hinauf und schlüpfte so leise wie möglich in meine Wohnung. Sofort übermannte mich eine Welle von Geborgenheit. Hier war mein Zuhause. Und doch würde ich nicht bleiben können. Die Anzeige auf dem Anrufbeantworter blinkte. Ich drückte auf Nachrichten abhören«.

»Wo bist du? Was ist passiert? Wir alle machen uns Sorgen«, hörte ich Rebeccas Stimme. Meine Mutter bat flehentlich um Rückruf und warf mir mal wieder Sorglosigkeit vor. Und selbst Peter hatte sich einen Anruf abgerungen, um mir mitzuteilen, dass er von meiner Anwesenheit bei dem Picknick nichts gewusst habe. All die vertrauten Stimmen taten mir gut. Am liebsten hätte ich mich sofort ans Telefon gestürzt und Rebecca angerufen. Aber was um alles in der Welt hätte ich sagen sollen? »Sorry, Leute, ich bin ein Vampir geworden. Macht euch keine Sorgen. Euch tue ich schon nichts?«

Resigniert zog ich mich aus und ging unter die Dusche. Es tat verdammt gut, all den Dreck der letzten Tage abzuwaschen. Als ich mich abgetrocknet und mir frische Sachen angezogen hatte, fühlte ich mich das erste Mal seit vielen Tagen wieder richtig wohl.

Draußen war mittlerweile heller Tag. Ich warf einen prüfenden Blick auf die Straße und zog langsam die Vorhänge zu. Dann überlegte ich systematisch, was ich mitnehmen wollte. Was brauchte man, um sich eine neue, geheime Existenz aufzubauen? Vor allem Geld. Mit meiner Scheckkarte würde ich soviel abheben, wie es ging, dann mit einem Zug in die nächste größere Stadt fahren und mich dort irgendwo verkriechen. Ein Flugzeug würde mich zwar schneller und weiter wegbringen. Aber ich hatte Angst vor den vielen Kontrollen und dem totalen Ausgeliefertsein, wenn ich erst an Bord wäre. Ein Zug dagegen hielt ständig. Ich würde immer verschwinden können, wenn Gefahr drohte. Entschlossen warf ich meinen Pass, meine Lieblingskleidungsstücke und Toilettenartikel auf einen Haufen und verstaute dann alles in einer Reisetasche. Endlich fand ich auch meine Sonnenbrille, die ich fortan so dringend brauchen würde. Als alles gepackt war, legte ich mich auf mein Bett und schlief sofort erschöpft ein.

Der Traum kam wie eine Nebelwand. Ich sah mich in gebückter Haltung an einem großen, steinernen Tisch sitzen. Flackerndes Kerzenlicht warf unheimliche Schatten an die uralten Mauern eines gewaltigen Gewölbes. Ich bewegte mich nicht. Plötzlich betraten einige Frauen in schwarzen Gewändern mit langsamen Schritten den Raum. Kapuzen bedeckten ihre Gesichter. Wortlos setzten sie sich zu mir an den Tisch und warteten. Ich konnte ihre Gesichter nicht erkennen. Minutenlang sprach niemand. Ein Kratzen ließ mich zusammenzucken. Ein Geräusch, das Klauen erzeugen, wenn sie auf Stein treffen. Etwas war lautlos aus der Dunkelheit gekommen und hinter mich getreten. Genüsslich zog das Wesen seine langen, messerscharfen Fingernägel über die Wand hinter mir. Ein Luftzug ließ die Kerzen flackern, als es sich eine Sekunde später am zehn Meter entfernten Kopfende des Tisches niederließ. Sie war es! Die Frau, die mich geschaffen hatte. Sie war groß, schlank, und ihr bleiches Gesicht wirkte wie mit Pergament bespannt. Sie trug ein einfaches, schwarzes Gewand und bis auf einen roten Siegelring keinen Schmuck. Den Ring zierte ein großes V. Die Frau schien in sich hineinzuhorchen und hatte die Augen geschlossen. Im Traum schwebte ich immer näher an dieses sonderbare, fremdartige Gesicht heran. Immer näher. Und als ich direkt vor ihm war, schlug die Frau die Augen auf und öffnete ihren grauenhaften Mund.

Ich erwachte in absoluter Finsternis. Der Wecker neben meinem Bett zeigte 23 Uhr. Ich hatte den gesamten Tag in meiner Wohnung verschlafen. Was für ein Leichtsinn! Jederzeit hätten die Polizei, meine Eltern oder irgendwer auf der Suche nach mir hier auftauchen können. Ich machte mich etwas frisch, zog meinen Mantel an, griff mir meine Tasche und ging zur Wohnungstür. Trotz der Dunkelheit konnte ich im Flur gut sehen. An den Wänden hingen Fotos, die ich besonders liebte. Ich als Kind, mit meinen Klassenkameraden auf der Abschlussfeier, mit Rebecca im Urlaub, meine Eltern auf der Terrasse mit ihrem hässlichen kleinen Dackel. Normalität. Mein Leben.

Und was wäre, wenn ich versuchte, irgendwie in diesem Leben weiterzumachen? Wenn ich es ihnen erklären würde? Tränen schossen mir in die Augen. Ich fühlte mich auf einmal vollkommen hilflos und verlassen. Es gab ein paar Leute, die mich sehr liebten. Sie würden das mit mir durchstehen. Ich ließ die Tasche fallen und weinte hemmungslos.

Im Flur hing ein Spiegel. Ich stieß einen erstickten Schrei aus, als ich sah, dass keine Tränen, sondern Blutstropfen aus meinen Augen rannen und mit einem hässlichen Geräusch auf dem Parkettfußboden landeten.

Mit einem Mal war alle Sentimentalität verflogen. Ich sah ein, wie unmöglich es war, als Monster in die Gemeinschaft der Menschen zurückkehren zu wollen. Ich trocknete meine blutigen Tränen, nahm meine Tasche, horchte kurz, ob der Hausflur sicher war, und verließ mein Leben.