2 - DER HUND

Alles begann an einem warmen Sommertag. Ich hatte mich überreden lassen, bei einem Picknick in den nahe gelegenen Wäldern mitzumachen. Eigentlich war ich nicht in Stimmung für solche Gemeinschaftsunternehmungen, denn die Trennung von meinem Freund Peter saß mir immer noch in den Knochen. Ich fühlte mich leer und antriebslos und war sogar kurz davor, mein Studium hinzuschmeißen. Rebecca, meine beste Freundin, ließ nichts unversucht, um mich irgendwie aufzuheitern.

»Es kommen nette Leute mit, und das bringt dich auf andere Gedanken«, warb sie unermüdlich. Schließlich sagte ich zu, hauptsächlich um meine Ruhe zu haben und weiter in meinem Selbstmitleid baden zu können.

Rebecca holte mich frühmorgens mit ihrem Auto ab. Wir fuhren mit zwei ziemlich albernen Jungs, die sich ständig auf die Schenkel klopften und verschwörerisch prusteten. Nach einer zweistündigen Fahrt parkten wir in der Nähe einer Lichtung, die einen wirklich atemberaubenden Anblick bot. Riesige Fichten standen wie gewaltige Wächter um ein tennisplatzgroßes Areal, und mitten hindurch kämpfte sich ein kleiner, unermüdlicher Fluss unbeirrbar seinen Weg. Die Luft flimmerte vor Hitze.

Es waren schon etwa zehn Leute da. Sie saßen auf Decken, verteilten das mitgebrachte Essen und sammelten Holz für ein großes Lagerfeuer. Endlich entspannte ich mich und wurde sogar von der guten Laune der anderen angesteckt.

»Es gibt ein Leben nach Peter«, sagte ich im stillen zu mir und rang mir sogar ein Lächeln für einen jungen Mann ab, der mich angrinste und eine Flasche Champagner schwenkte.

»Noch kalt!« rief er. »Willst du ein Glas?«

Dann sah ich Peter. Er kam mit einem Kasten Bier in den Händen hinter einem Auto hervor, stutzte und starrte mich blöd an. Mein Kopf fuhr herum zu Rebecca.

»Ich wusste nicht, dass er auch kommt«, beeilte sie sich zu sagen. »Er sollte eigentlich arbeiten. Ich weiß auch nicht…«

Ich ließ sie stehen und lief zum Auto zurück. Mein Herz raste. Es tat immer noch weh. Peter und ich hatten uns auf ziemlich dramatische Weise getrennt. Er hatte mich betrogen und fand das noch nicht einmal besonders schlimm. Ich erfuhr es natürlich als letzte, und er hatte nur die üblichen Sprüche drauf. Das hätte nichts mit uns zu tun gehabt. Es sei »nur so« passiert. Und es käme nie wieder vor. All dieser Unsinn, den Männer erzählen, wenn sie einem das Herz gebrochen haben. Ich war zu stolz, um ihm das jemals zu verzeihen. Er wollte die Trennung anfangs nicht akzeptieren. Wir lieferten uns einige sehr unerfreuliche Szenen, die ich gern aus meinem Gedächtnis gestrichen hätte. Und nun kam alles wieder hoch.

Peter stand unschlüssig herum. Eine blonde, junge Frau ging auf ihn zu, umarmte ihn zärtlich und blickte fragend in meine Richtung.

Das gab mir den Rest. Ich drehte mich um und lief los. Schon während ich rannte, wurde mir die Peinlichkeit der ganzen Situation bewusst. Ich hatte eine filmreife Szene hingelegt. Nach hundert Metern wurde ich langsamer, blieb schließlich stehen und wartete auf Rebecca, die mir die ganze Strecke hinterhergelaufen war.

»Ich weiß«, sagte ich. »Du kannst nichts dafür. Aber ich kann da unmöglich wieder hingehen. Niemals. Das alles ist so unglaublich blöd und peinlich.«

Rebecca sagte nichts und nahm mich in den Arm. Ich fing tatsächlich an zu weinen und hasste mich sofort dafür.

»Pass auf«, sagte ich schließlich. »Ich will dir nicht den schönen Tag verderben. Ich werde ganz einfach nach Hause trampen, und du kannst mit deinen lustigen Jungs hierbleiben.«

Rebecca protestierte natürlich, aber ich spürte, dass sie innerlich aufatmete. Sie brachte mir meine Sachen, ich umarmte sie kurz und lief los, ohne mich noch mal umzudrehen.

Als ich die Landstraße erreichte, war ich erst mal nur erleichtert und froh über meine spontane Entscheidung. Die stolze Ludmilla zog es eben vor, dezent zu verschwinden, statt gute Miene zum peinlichen Spiel zu machen.

Ich ging etwa einen Kilometer in Richtung Stadt. Die Sonne wärmte mein Gesicht, und ich war froh, allein zu sein. Mehrere Autos fuhren vorbei, aber noch verspürte ich keine Lust, irgendwo mitzufahren und mich unterhalten zu müssen. Wie immer, wenn ich allein spazieren ging oder joggte, dachte ich über mein Leben nach und versuchte, Pläne zu schmieden. Von der Sache mit Peter einmal abgesehen, konnte ich mich eigentlich nicht beklagen. Ich studierte im sechsten Semester und mit großer Begeisterung Archäologie, hatte ein kleines Appartement in Uni-Nähe und verdiente mir meinen Lebensunterhalt durch Arbeit in der Uni-Bibliothek und gelegentliche Jobs als Aushilfe in einer Buchhandlung. Bücher! Meine große Leidenschaft. Ich konnte stundenlang lesen. Egal, ob Sachbücher oder Romane – alles, was mich forttrug in fremde, geheimnisvolle Welten, faszinierte mich. Rebecca meinte einmal zu mir, dass ich statt in meinen Büchern lieber intensiver in der Realität leben sollte. »Mensch, so wie du aussiehst. Warum kommst du nicht mehr aus dir heraus?« hatte sie gefragt.

Ja, warum? Ich wusste, dass ich oft zögerlich und zurückhaltend war und mich vor mancher Entscheidung drückte. Aber ich fühlte mich dabei nicht wirklich schlecht. Oft war ich mir selbst genug und hatte keine Lust auf all die kleinen Spielchen und Oberflächlichkeiten. Das brachte mir den Ruf ein, unnahbar zu sein. Was die Sache ziemlich genau traf. Ich hielt nichts von allzu schneller, allzu großer Nähe, war aber auch keine Einzelgängerin. Bei mir dauerte es eben etwas, bevor ich mich anderen gegenüber öffnete. Dann jedoch war ich eine gute und treue Freundin. Darüber hinaus fand ich mich selber nicht sonderlich attraktiv. Gut, ich war schlank, mittelgroß und hatte ganz ansehnliches dunkles Haar. Aber ich fand meine Nase zu groß, meinen Busen zu klein und meine Zähne zu unregelmäßig. Ich blieb stehen und sah an mir herunter. Jeans, Turnschuhe, T-Shirt und eine verschlissene Blouson-Jacke. So lief ich am liebsten herum.

Peter hatte sich oft beklagt, dass ich keinen Sinn für Modisches hätte, schon gar nicht für Sachen, die irgendwie sexy aussähen. Und er hatte recht. Ich glaube, im Grunde wollte ich einfach nicht begehrenswert aussehen. Das lag wohl an meiner Erziehung, denn ich sollte mich vor allem »anständig« benehmen, was immer meine Eltern damit meinten. Hatte ich Peter verloren, weil ich zu verklemmt war? Nein, das konnte nicht der Grund sein. Ich hatte Spaß am Sex. Nicht, dass ich mich für meine Liebhaber in roten High Heels und halterlosen Strümpfen im Bett gewälzt hätte, aber ich war selbstbewusst und machte klar, was mir gefiel. Peter! Die Gedanken an ihn machten mich erneut wütend.

Auf einmal hatte ich auch genug von der Lauferei. Es war schon früher Nachmittag, und ich wollte unbedingt vor Anbruch der Dunkelheit zu Hause sein. Also stellte ich mich an den Straßenrand und trampte. Nach einer Stunde hielt endlich ein Auto an. Der Fahrer, ein Mann Anfang Siebzig, war zum Plaudern aufgelegt. »Na, Mädel, was machst du denn bei diesem Traumwetter hier allein auf der Straße?« meinte er ungeniert, als ich mich zu ihm auf den Beifahrersitz setzte. Er hatte einen umwerfenden Alt-Herren-Charme und fragte mich mit schonungsloser, aber erfrischender Offenheit aus. Ich erzählte ihm bereitwillig, was vorgefallen war, froh darüber, mir endlich einmal alles von der Seele reden zu können.

Es war das letzte Mal, dass ich als Mensch mit einem anderen Menschen sprach. Ich hatte noch etwa acht Stunden zu leben.

Der alte Charmeur konnte mich nur bis zur Hälfte der Strecke mitnehmen. Aus Höflichkeit schlug ich seine Einladung zu einem Kaffee in einem Straßencafé nicht aus, obwohl ich bereits unruhig wurde. Die Zeit rannte mir davon. Er verabschiedete mich mit freundlichen Worten. »Wirst sehen, Ludmilla, schon bald findest du einen Kerl, der dich verdient. Wirst sehen, Ludmilla.«

Ich verließ das Café am frühen Abend und schlenderte weiter neben der Landstraße in Richtung Stadt. Es kamen kaum noch Autos vorbei. Meine Stimmung verschlechterte sich zunehmend. Ich hatte noch nicht einmal genug Geld für ein Hotel bei mir. Was eigentlich nicht weiter tragisch war, denn ich sah weit und breit keines. Das Straßencafé war anscheinend der letzte Posten der Zivilisation. Die Stadt war noch eine gute Autostunde entfernt.

»Na, das hast du ja super hingekriegt, Ludmilla«, sagte ich zu mir, als ich mich erschöpft auf einen Baumstumpf setzte. Gerade hatte ich beschlossen, zum Café zurückzukehren, als ich plötzlich ein tiefes, bedrohliches Knurren aus dem Wald hörte. Voller Panik blickte ich hinter mich und sah einen großen, verwilderten Hund aus dem Schutz der Wälder langsam auf mich zukommen. Er fletschte die Zähne und blickte mich mit blutunterlaufenen Augen an. Ich wollte wegrennen, aber ich wusste, dass das den Hund erst recht wild machen würde. Langsam stand ich auf und bewegte mich vorsichtig in Richtung Straße. Der Hund, offenbar eines dieser entlaufenen, wildernden Monster, folgte mir. Ich war einer Ohnmacht nahe. Mit hektischen Blicken suchte ich die Umgebung nach einem Stock oder irgend etwas Ähnlichem ab, mit dem ich mich verteidigen konnte. Nichts. Endlich sah ich einen faustgroßen Stein, hob ihn schnell auf und schleuderte ihn mit aller Kraft in Richtung der Bestie. Die machte einen kurzen Satz zur Seite, knurrte wütend und rannte auf mich zu. Ich lief sofort los, jeden Moment mit dem scharfen Schmerz des Bisses rechnend. In meiner Panik war ich mitten in den Wald gelaufen. Doch der Hund holte mich überraschenderweise nicht ein. Als ich es wagte, mich umzudrehen, sah ich, dass er mich zwar verfolgte, dabei aber stark hinkte. Er hatte offensichtlich ein verletztes Bein und konnte mein Tempo nicht halten. Ich fasste neuen Mut und lief in einem großen Bogen zurück in Richtung Straße. Als ich sie endlich erreichte, war die Bestie immer noch hinter mir, aber der Abstand hatte sich vergrößert. Ich lief jetzt mitten auf dem Asphalt, bereit, jedes Auto, egal aus welcher Richtung, anzuhalten. Der Hund schien rasend vor Hunger und Wut zu sein, denn er gab trotz seiner Behinderung seine Verfolgung nicht auf.

Endlich sah ich am Horizont die Silhouette eines Wagens. Er kam schnell näher. Ich winkte hektisch und lief direkt auf ihn zu. Es war ein großes, dunkles Auto mit getönten Scheiben. Der Wagen hielt am Straßenrand, aber niemand stieg aus. Offensichtlich analysierte der Fahrer erst einmal die seltsame Situation: eine hysterische Frau, allein mitten auf der Straße, verschwitzt und mit angstverzerrtem Gesicht. Ich konnte es ihm nicht verdenken. In meiner Angst rüttelte ich wild an den verschlossenen Türen und schrie. »Helfen Sie mir, ein wilder Hund verfolgt mich. Um Gottes willen, lassen Sie mich einsteigen!«

Eine Tür klappte. Irgend etwas bewegte sich neben mir. Ich spürte einen Hauch. Und im gleichen Augenblick jaulte der Hund hinter mir furchtbar auf. Als ich mich umdrehte, lag er blutend und reglos mitten auf der Straße, den Kopf in einem absurden Winkel verdreht. Ehe ich auch nur reagieren konnte, hörte ich eine seltsame, dunkle Stimme. »Natürlich helfe ich Ihnen. Kommen Sie.«

Die Frau, die wie aus dem Nichts vor mir aufgetaucht war, war groß, blass und schlank, trug eine dunkle Brille und lächelte mit geschlossenen Lippen. Als die untergehende Sonne noch einmal kurz hinter einer Wolkenwand hervorlugte, verzog sie kurz missbilligend das Gesicht und zeigte auf ihr Auto. »Bitte, junge Frau. Ich denke, dort werden wir uns angesichts der Umstände wohler fühlen.«

Wie hypnotisiert stieg ich ins Innere des Autos. Es war angenehm kühl darin. Die getönten Scheiben sorgten für ein seltsames Zwielicht.

Die Frau setzte sich auf den Fahrersitz, drehte den Kopf in meine Richtung und sagte: »Sie hätten gekämpft, nicht wahr?«

»Sie meinen gegen den Hund?«

»Ja, gegen dieses bedauernswerte, hungrige Wesen.«

»Ich weiß nicht, wahrscheinlich«, antwortete ich.

»Doch, das hätten Sie. Mit Ihren Händen, Füßen, mit Ihren Zähnen. Ich spüre es. Sie hätten sich nicht kampflos ergeben. Sie sind etwas Besonderes. Ich treffe nicht oft Menschen wie Sie. Starke Menschen.«

»Aber ich bitte Sie, ich bin weggelaufen«, sagte ich und wurde rot.

»Weil Sie den Kampf nicht wollten«, antwortete sie. »Was immer schlauer ist. Aber Sie hätten gekämpft. Doch genug davon. Geht es Ihnen gut, liebe …« Sie sah mich fragend an.

»Ludmilla«, sagte ich. »Ich heiße Ludmilla.«

»Ludmilla«, sagte sie langsam. »Wie schön…«

Dann schwieg sie, und wir fuhren in die beginnende Dämmerung hinein.

Schon nach wenigen Minuten wurde ich schläfrig. Mein letzter wacher Gedanke war, dass ich eigentlich nach dem Hund fragen wollte. Irgend etwas war mit dem Tier geschehen. Irgend etwas, das nicht normal war. Doch der Schlaf war stärker, und ich sackte weg ins Nichts. Als ich erwachte, war es draußen stockfinster. Die Scheinwerfer schnitten Lichtsäulen in die Schwärze. Ich wusste nicht, wo ich war. Abrupt kam die Erinnerung. Mein Kopf fuhr herum. Die Frau saß am Steuer, ruhig, vollkommen entspannt. Dann drehte sie ihren Kopf zu mir und sah mich an.

Ich wollte schreien. Ich wollte die Tür aufreißen, wollte meine Arme hochreißen und mich vor diesem Anblick schützen. Doch ihr Blick lähmte mich. Ich konnte keinen Finger bewegen. Ich sah nur diese grauenhaften Augen. Funkelnd und kalt wie die eines Raubtieres. Mit sonderbaren Pupillen, die nicht menschlich wirkten. Sie lächelte und entblößte ein blendend weißes Gebiss. Die Eckzähne waren zwar klein, aber unnatürlich spitz. Ich schaffte es mit ungeheurer Anstrengung, den Kopf von ihr wegzudrehen, und sah, dass wir nicht mehr auf der Landstraße fuhren. Der Wagen knirschte und ruckelte auf einem unwegsamen Waldweg. Ich sah ein Hinweisschild und für eine Sekunde einen gewaltigen Felsen in der Form eines Vs. »Hab keine Angst, Ludmilla«, sagte sie. »Ich mache dir ein Geschenk. Ich schenke dir etwas, das dir kein Mann geben kann. Ich schenke dir die Ewigkeit.«

Sie lachte, hob ihren Arm und strich mir mit ihrer Hand über den Kopf. Sie war kalt wie der Tod. Dann sah und fühlte ich nur noch Schwärze.