34 -
MICHAEL
Wir machten uns sofort auf den Weg in die Klinik, in der Michael lag. Wenn wir jetzt nicht handelten, würde Michael mit großer Sicherheit sterben. Und ich würde mit dieser Schuld leben müssen. Ich musste es einfach tun. Alles andere in meinem Denken hatte ich ausgeblendet. Jeden einzelnen der vielen Gründe, die dagegen sprachen.
Gregor hatte vor seinem Haus ein Taxi angehalten, den Fahrer niedergeschlagen, und dann waren wir losgerast. Mit Hilfe einer Karte, die im Taxi lag, prägten wir uns den genauen Weg zum Felsen des Vlad ein. Unser Plan war einfach. Ich wollte mir, als Krankenschwester getarnt, Zugang zu Michaels Station verschaffen, ihn auf eine Trage legen, das Haus verlassen und ihn dann in das Taxi schaffen. Gregor sollte im Wagen warten. Seine Erscheinung war einfach zu auffällig. Auf dem Weg ins Krankenhaus fiel mir plötzlich Linda ein. Ich hatte meine alte Freundin in der Aufregung völlig vergessen. Sie war in Lebensgefahr. Die anderen würden sie töten. Es gab nur eine Möglichkeit. Wir mussten sie mitnehmen und ihr irgendwie die Flucht ermöglichen. Gregor war dagegen, gab zu bedenken, wie wenig Zeit uns blieb, was für Angst Linda ausstehen würde, was sie mitanzusehen hätte. Aber ich bestand darauf, zu ihr zu fahren. Als Linda nach quälend langer Zeit auf mein Klingeln nicht öffnete, brach ich schließlich die Tür auf – und sah sie auf ihrem Bett liegen. Mein Gott! Die anderen – sie waren schon dagewesen.
Aber plötzlich bewegte sich Linda und murmelte irgend etwas. Und dann sah ich die Flaschen neben ihrem Bett. Sie war total betrunken!
Ich packte sie, hob sie hoch, ignorierte ihre gelallten Proteste und schob sie nach hinten ins Auto. Sie schlief sofort wieder ein, als wir losfuhren.
Nach zehn Minuten
hielten wir vor dem Krankenhaus, und ich stieg
aus.
Der Weg ins Gebäude hinein war kein
Problem. Schließlich besuchten viele berufstätige Menschen nach
Feierabend noch ihre Angehörigen. Dann aber begannen die
Schwierigkeiten. Die Intensivstation, auf der Michael lag, war im
Kellergeschoß untergebracht, wo sich auch die Operationsräume
befanden und die Unfallwagen anfuhren. Auf den Gängen herrschte
hektisches Treiben. Ich schlich mich hinunter und versteckte mich
in einem kleinen Raum, auf dessen Tür »Pflege- und Arbeitsraum«
stand. Er war dunkel und enthielt zahlreiche Utensilien für die
Versorgung der Patienten sowie die Arbeitskleidung der Ärzte und
Schwestern. Außerdem standen darin zwei Rollstühle. Ich zog zur
Sicherheit einen weißen Kittel über, öffnete die Tür einen Spalt
und wartete. Gleich gegenüber lag die Intensivstation.
Aus Gesprächen zwischen Besuchern und Klinikpersonal, die ich mithörte, wurde schnell klar, dass jeder, der in diesen Bereich hineinwollte, sich beim zuständigen Arzt anmelden und zudem spezielle, sterile Kleidung anziehen musste.
Ich wartete, bis eine ältere Frau und ein jüngerer Mann die Prozedur hinter sich gebracht hatten. Der Arzt, ein junger, hochgewachsener Typ, sprach beruhigend auf die beiden ein und erklärte ihnen, wie sie sich verhalten sollten.
»Ihrem Vater wird es sicherlich bald bessergehen«, sagte er zu dem jungen Mann und nickte auch der Frau aufmunternd zu. Die beiden trugen grüne Kittel, Hauben und einen Mundschutz. »Fassen Sie drinnen bitte nichts an, und berühren Sie auch den Patienten nicht«, fuhr er fort. »Das letzte, was er jetzt nach dem Unfall gebrauchen kann, sind irgendwelche Keime, die ihm noch zusätzlich zu schaffen machen.«
Dann öffnete er eine Tür, und ich sah hinein in die Intensivstation. Ein kahler, mit Instrumenten vollgestopfter Raum. Vier der insgesamt acht Betten waren belegt. Ich erkannte Michael sofort an seinen schwarzen Haaren. Er lag ganz außen. Sein Gesicht wurde von einem Beatmungsgerät verdeckt. Kanülen steckten in seinen Venen. Er bekam verschiedene Infusionen und war an mehrere Monitore zur Überwachung der Vitalfunktionen angeschlossen. Er tat mir unendlich leid.
Der Arzt und die beiden Besucher standen auf der anderen Seite vor einem Bett und unterhielten sich leise. Die Frage war jetzt, wie ich unerkannt und ungehindert in Michaels Nähe kommen konnte. Schließlich war es unmöglich, einfach hineinzuspazieren und Michael in seinem Bett fortzuschieben.
Plötzlich hörte ich Schritte auf dem Gang. Sie kamen genau auf meine Tür zu. Hastig drückte ich mich gegen die Wand. Dann ging die Tür auf, und grelles Licht raubte mir für ein paar Sekunden die Sicht. War ich entdeckt worden? Aber ich hörte nur Rumoren aus einer Ecke des Raumes. Schließlich, als meine Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, sah ich, dass die geöffnete Tür mich fast vollständig verdeckte. Eine Krankenschwester suchte leise fluchend etwas in einem Regal. Sie trug einen der grünen Kittel, die offenbar in der Intensivstation obligatorisch waren. Genau die richtige Tarnung für mich. Ich war schon im Begriff, sie niederzuschlagen, als ich an einer Stange im hinteren Teil des Raumes mehrere dieser Kittel hängen sah. Ich ließ das Schicksal entscheiden. Entweder sie bemerkte mich beim Verlassen des Raumes. Dann würde sie mir ihre Arbeitskluft borgen müssen, oder sie hatte Glück und verschwand, so dass ich mich ungestört aus dem Fundus bedienen konnte.
Das Schicksal machte sich in Form von Sirenen bemerkbar. Sie wurden lauter, und schließlich hörte ich draußen mehrere Wagen heranfahren. Eine Lautsprecherstimme bellte: »Verkehrsunfall angeliefert. Vier Schwerverletzte. Not-OP vorbereiten. Reanimationsteam zur Schleuse.«
Die Schwester rannte sofort aus dem Zimmer, und auch der Arzt in der Intensivstation ließ die Besucher stehen und verließ eiligen Schrittes das Zimmer. Beide verschwanden im gegenüberliegenden Teil des Untergeschosses.
Das war meine Chance. Hastig griff ich mir einen der grünen Kittel, zog ihn an und ging ohne zu zögern in die Intensivstation. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass im Nebengang der Teufel los war. Ärzte und Pflegepersonal rannten umher und bereiteten sich auf die Versorgung der Unfallopfer vor. In der Intensivstation befanden sich nun nur noch die Patienten und die beiden Besucher. Sie sahen mich mit großen Augen an.
»Was ist denn passiert, Schwester?« fragte die ältere Frau.
»Ich weiß auch nur, was durch den Lautsprecher kam«, antwortete ich und versuchte zu lächeln. »Aber ich muss Sie jetzt bitten, draußen zu warten, bis der Doktor wiederkommt«, fuhr ich fort und deutete auf die Tür. Sie gingen sofort hinaus.
Viel Zeit blieb mir nicht. Eine Intensivstation war nie lange unbesetzt. Ich hastete zu Michaels Bett, blieb aber plötzlich unentschlossen davor stehen. Tat ich wirklich das Richtige? War Michael hier nicht in den besten Händen. Vorsichtig berührte ich seinen Körper – und erschrak. Meine übernatürlichen Sinne registrierten sofort, dass er im Sterben lag. Sein Leben war nur noch ein versickerndes Rinnsal. Ich handelte, ohne über die Gefahren nachzudenken, zog Michael die Kanülen aus den Armen, nahm die Sauerstoffmaske ab, entfernte die technischen Messgeräte, entriegelte die Rollen des Bettes und schob es zur Tür. Michael rührte sich nicht. Aber eine flüchtige Berührung reichte mir, um zu fühlen, dass noch Leben in ihm war. Mit dem Fußende des Bettes stieß ich die Tür der Station auf – und zuckte zusammen. Vor mir stand der junge Arzt von vorhin. Er brauchte ein paar Sekunden, um die Situation zu erkennen. Aber dann registrierte er, was los war.
»Was zum Teufel machen Sie da?« schrie er und rannte um das Bett herum auf mich zu. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich, dass nun alles vorbei sei.
Er riss mich von dem Bett fort, blickte entsetzt auf Michael und schob das Blatt hektisch zurück an seinen alten Platz. »Wie kommen Sie dazu, so etwas Wahnsinniges zu tun?« schrie er wieder. »Sie haben den Mann hier wahrscheinlich auf dem Gewissen.«
»Genauso ist es, Herr Doktor«, sagte ich, ging zu ihm und drosch ihm meine Faust in den Nacken. Er brach sofort zusammen.
Als ich mich wieder zu Michael umdrehte sah ich, dass seine Augen offen waren. Er war bei Bewusstsein. »Ludmilla«, flüsterte er.
»Mein Gott, Michael.«
Ich rannte zu ihm und stand schließlich hilflos vor seinem Bett. Michael sah mich mit sonderbarem Blick an und hob seine Hand. Es schien ihn unendliche Mühe zu kosten. Ich nahm sie und zog sie an mein Gesicht. Michael strich mir über die Wange. Zärtlich, kraftlos, wie ein leiser Windhauch.
»Ich liebe dich«, sagte er leise.
»Du stirbst, Michael«, antwortete ich.
Er schwieg. Eine Träne lief seine Wange hinunter.
»Willst du sterben?« flüsterte ich, »willst du das, Michael?«
»Wer bist du, Ludmilla?«
»Ich lebe, obwohl ich tot bin, und trinke das Blut von Menschen. Genau wie Carl es gesagt hat.«
Er wandte den Blick ab.
»Michael«, drängte ich weiter. »Willst du wirklich sterben? Oder willst du leben. Leben wie ich?«
»Du kannst…?«
Er verstummte.
»Ja, ich kann dich zu einem der unseren machen. Wenn du es willst, Michael, können wir zusammen sein. Für immer. Aber der Preis ist hoch.«
Er bäumte sich auf. »Mein Gott«, flüsterte er. Seine Hand verkrampfte sich. Dann fielen ihm die Augen zu. Michael war wieder bewusstlos.
Ich stand bewegungslos da. Was hatte er mir noch sagen wollen? Wollte er sterben? Oder wollte er sein wie ich?
Ich wusste nur eines: trotz allem, was geschehen war – er hatte gesagt, dass er mich liebte.
Mein Entschlussstand fest. Ich würde es tun. Denn tief im Innern war mir klar: was ich ertragen konnte, würde auch er ertragen können. Ein Leben jenseits aller irdischen Moral.
Vorsichtig hob ich Michael aus dem Bett, legte ihn sanft auf den Boden und platzierte den bewusstlosen Arzt an seine Stelle. Mit dem Beatmungsgerät verdeckte ich sein Gesicht. Dann rannte ich in den »Pflege- und Arbeitsraum«, packte einen der Rollstühle, hastete zurück in die Intensivstation und hob Michael in den Stuhl.
Atemlos hielt ich schließlich inne und lauschte, ob sich noch jemand näherte. Doch es war nur das hektische Treiben aus dem OP-Trakt nebenan zu hören. Michael sah erbärmlich aus, wie er so leblos in dem Stuhl saß. Ich hatte keine Zeit mehr zu verlieren. Ich sah kurz hinaus auf den Gang, entdeckte niemanden und schob den Stuhl schnell hinaus. Ich zwang mich, in normalem Tempo zu gehen, um nur nicht aufzufallen!
Ich kam etwa zwanzig Meter weit, als mir eine Schwester auf dem Gang entgegenkam. Die verschiedenen Optionen rasten mir durch den Kopf. Einfach weitergehen? Fliehen? Die Frau niederschlagen? Ich entschied mich fürs Bluffen und nickte der Frau freundlich zu, während ich Michael eilig an ihr vorbeischob. Sie nickte zurück und ging ohne erkennbare Regung an mir vorbei.
Endlich erreichte ich den Fahrstuhl. Nur ein Stockwerk trennte mich vom Obergeschoß, wo der Ausgang lag. Ich drückte den Knopf und wartete. Dann hörte ich Stimmen. Viele Stimmen. Sie kamen aus dem Fahrstuhlschacht. Gleich würden die Türen aufgehen und einen ganzen Pulk von medizinischem Personal ausspucken. Meine Chancen, diese Begegnung zu überstehen, waren gleich Null. Was sollte ich tun? Die Stimmen wurden lauter. Schon ertönte das Bremsgeräusch des Fahrstuhls. Nur noch Sekunden! Ich riss den Rollstuhl herum und hastete den Gang hinunter in Richtung Notfallzentrum. Im letzten Augenblick war mir die rettende Idee gekommen. Die Schleuse für die Unfallwagen. Dort ging es nach draußen.
Ich schob Michael im Laufschritt zurück in Richtung Intensivstation, bog dann aber ab zur Notfallaufnahme. Hinter mir ertönte Stimmengewirr. Der Fahrstuhl hatte eine ganze Armada von Leuten ausgespuckt, die schnell näher kamen. Der Gang vor mir gabelte sich. Links oder rechts? Warum stand hier kein Schild? Die Stimmen hinter mir wurden immer deutlicher und lauter. Dann spürte ich es – ein kalter Luftzug von links. Dort musste die Schleuse sein. Ein Unfallwagen. Der Weg nach draußen. Ich rannte los. Ein Pfleger kam mir entgegen. »Muss er kotzen?« fragte er nur und sah mir lachend hinterher. Dann endlich sah ich den Nachthimmel. Eine Rampe führte hinunter zu den Unfallwagen. Zwei davon standen ohne Besatzung da. Ich machte mir nicht die Mühe, sie zu suchen, und schob den Rollstuhl die Rampe hinunter. Schon spürte ich die Kühle der Nachtluft. Dann ertönte hinter mir eine männliche Stimme: »Hey, Mädchen. Andersrum. Hier bringen wir die Leute rein, nicht raus. Da vorn sind nur die Straße und der Park.«
Ich erstarrte und drehte mich langsam um. Es war offensichtlich einer der Krankenwagenfahrer, der mich bei meiner wilden Flucht beobachtet haben musste. Er kam gemächlichen Schrittes näher. Ein großer Mann, übergewichtig und mit rotem Gesicht. In der Hand eine Zigarette. Mein Körper straffte sich. Plötzlich ertönte eine Stimme von drinnen: »Hey, Ben, hilf mir mal.«
Der Mann blickte mich kurz kopfschüttelnd an und ging dann zurück ins Gebäude.
Ich hastete weiter.
Wo stand unser Auto? Ich hatte durch das Herumgeirre im Innern des Krankenhauses jeglichen Orientierungssinn verloren. Unschlüssig stand ich in der Dunkelheit. Dann besann ich mich auf meine Fähigkeiten, konzentrierte mich und lauschte den Geräuschen der näheren Umgebung. Straßenverkehr, Musik, eine Uhr, die zehn schlug. Das war es! Diese Uhr hatte ich vorhin am Haupteingang gesehen. Dort, in dieser Richtung musste der Wagen stehen. Hastig schob ich Michael weiter. Ich wusste nicht einmal, ob er noch lebte. Und dann, hinter der nächsten Mauer, sah ich den Haupteingang und davor den großen Parkplatz. Dort stand das Taxi! Endlich.
Nach zwanzig Sekunden war ich da. Barker und ich legten Michael, so behutsam es ging, auf die hintere Sitzbank zu Linda und fuhren los. Wie viel Zeit uns wohl blieb, bis Pia das Gewölbe erreichte? Wie viel Zeit, bis die Polizei die Entführung eines Kollegen bemerkte und die Ausfallstraßen sperrte?
Ich verdrängte die bangen Gedanken, und wir fuhren zügig, aber nicht auffällig schnell weiter. Die Karte sagte uns, dass wir uns in nördlicher Richtung halten mussten. Michael lag bewegungslos hinten. Ich nahm seine Hand. Noch lebte er. Noch.