IX.

Irmela hatte sich so in ihre Erschöpfung und ihre Trauer eingesponnen, dass ihr Fabians Abwesenheit erst später am Tag auffiel. Zunächst nahm sie an, er wäre die Enge leid geworden und hätte die Einsamkeit gesucht. Meinarda erklärte ihr jedoch, dass Fabian ein anderes Quartier zugewiesen bekommen hatte.

»Das war auch richtig so! Schließlich gehört es sich nicht, wenn ein Mann allein unter uns Damen nächtigt«, setzte sie mit Nachdruck hinzu.

Irmela wunderte sich ein wenig, weil die Freiin trotz ihrer Trauer und der Situation in dieser Stadt so viel Wert auf Konventionen legte. Es erschien ihr lächerlich, Fabian zu verbieten, bei ihnen zu bleiben, denn im Rest des Raumes schliefen mehr Männer als Frauen. Sie fühlte sich jedoch zu erschöpft, um mit Meinarda zu diskutieren, und es interessierte sie mehr, wie es nun weitergehen sollte. Auf dem Herrensitz ihrer Familie saß nun wohl bereits eine Kreatur der Schweden. Es hieß, König Gustav Adolf pflegte seine Anhänger mit den Gütern der vertriebenen Katholiken zu belohnen. Fabian würde der Verlust seines Elternhauses noch stärker treffen, denn Gut Birkenfels, das seiner Familie den Namen gegeben hatte, war der einzige Besitz seines Vaters gewesen. Nun gehörte ihm nicht mehr als die Kleidung, die er auf dem Leib trug, und die Waffe, mit der er sie und die anderen Frauen verteidigt hatte.

Der Spielgefährte ihrer Kindertage tat ihr leid, doch sie sah keine Möglichkeit, ihm zu helfen. Zwar nannte ihre Familie noch weitere Besitzungen ihr Eigen, aber sie hatte sich nie dafür interessiert, wo diese liegen mochten. Wahrscheinlich waren auch diese Ländereien den Ketzern in die Hände gefallen. In dem Fall war sie trotz ihres hohen Ranges so arm wie eine Bettlerin auf den Treppenstufen der Kirche.

Sie sah zu Johanna hinüber und überlegte, ob sie ihre Tante nach den Besitztümern ihres Vaters fragen sollte, ließ sich dann jedoch mit einem Aufseufzen wieder zurücksinken. So, wie ihr Vater zu seiner Halbschwester gestanden hatte, hatte er ihr gewiss keinen Einblick in die familiären Verhältnisse gewährt. Graf Ottheinrich hatte seine Halbschwester Johanna nur geduldet, weil es die Pflicht so gebot, und seiner Tochter von Anfang an Abneigung gegen das nur wenig ältere Mädchen eingeflößt. Dennoch war Irmela ihrer Tante freundlich gegenübergetreten und hatte ihre Freundschaft gesucht. Johanna aber hatte sie mit Spott und Häme überschüttet, so dass Irmela sich bald von ihr zurückgezogen hatte. Nun bedauerte sie das schlechte Verhältnis zu Johanna, denn in dieser Situation hätten sie einander Halt geben können. Ihre Tante beachtete sie jedoch ebenso wenig wie zu Hause, sondern hielt sich in Ehrentrauds Nähe auf, obwohl sie diese früher heftig beneidet hatte. Immer wieder streichelte sie die Verletzte, die zumeist mit dem Gesicht zur Wand lag, und flüsterte ihr Trost zu.

Eine zärtliche Hand hätte Irmela sich ebenfalls gewünscht, und sie hoffte, dass der durchlebte Schrecken und die gemeinsame Not die Schranken zwischen ihr und Johanna niederreißen würden. Sie stand auf und ging zu den beiden hinüber, doch bevor sie etwas sagen konnte, drehte Ehrentraud ihr das Gesicht zu und starrte sie hasserfüllt an.

»Das habe ich alles dir zu verdanken! Dich selbst und ein paar andere hast du mit deinen Hexenkräften vor den Augen der Schweden verborgen! Aber dein Neid auf meine Schönheit hat dich dazu gebracht, mich diesen ketzerischen Hunden auszuliefern.«

Irmela verschlug es die Sprache. Dafür zeigte Walburga Steglinger sich umso beredter. »Deine Entstellung hast du ganz allein dir selbst zu verdanken! Du hättest Irmela folgen und dich im Wald verstecken können. Stattdessen hast du sie eine übergeschnappte Kuh genannt.«

Ehrentraud ballte die Fäuste. »Sie ist eine Hexe! Das sagt Johanna auch, und sie muss es wissen.«

Der Blick, den sie mit Irmelas Tante wechselte, ließ erahnen, dass die beiden schon mehrfach über das Mädchen und die Vorgänge auf der Flucht gesprochen hatten und einer Meinung waren.

Irmela fragte sich, warum Ehrentraud ihr solch tiefe Abneigung entgegenbrachte. Dahinter konnten nur Johannas Hetzereien stecken. Ihr wurde klar, dass sie und ihre Tante wohl niemals Freundinnen werden würden, und da Johanna den Zorn ihres Halbbruders nicht mehr fürchten musste, benahm sie sich nun noch gehässiger als zu Hause.

Enttäuscht wandte Irmela sich ab und setzte sich zu Frau Meinarda, die ihr den kleinen Siegmar übergab. Das Kind quengelte, denn es langweilte sich in der düsteren Ecke, in die kaum Tageslicht fiel, doch weder seine Mutter noch Irmela fühlten sich kräftig genug, mit ihm in dem Gewühle spazieren zu gehen, das in der Residenz herrschte.

Die Stunden tropften zäh dahin. Den Frauen war nicht zum Reden zumute, denn keine von ihnen war in der Lage, über das Erlebte oder ihren Verlust zu sprechen. Walburga Steglinger, die inzwischen wusste, dass ihr Mann dem Unglück entronnen war, hob bei jedem Öffnen der Tür den Kopf, doch dieser ließ sich Zeit.

Wieder betrat jemand den Saal, und das sofort einsetzende Schweigen im anderen Teil verriet, dass es sich um eine hochgestellte Persönlichkeit handeln musste. Gleich darauf wurde ein Teil des Vorhangs, der ihr kleines Refugium abtrennte, beiseite gezogen, und zwei Lakaien hielten Laternen hinein. Zwischen ihnen tauchte der Höfling auf, der sie hier einquartiert hatte, und machte Platz für einen Mann, der einen Rock aus blau und weiß gemustertem Brokat trug. Eine schwere Goldkette zierte die Brust des Herrn, und ein hoher, weißer Kragen engte seinen Hals so ein, dass er kaum den Kopf bewegen konnte. Aus einem schmalen, von Sorgenfalten durchzogenen Gesicht blickten zwei tief in den Höhlen liegende Augen auf die Damen herab.

Meinarda von Teglenburg erkannte Pfalzgraf Wolfgang Wilhelm und schnellte hoch, um sofort in einem tiefen Knicks zu versinken. Nun begriff auch Irmela, dass der Herzog von Pfalz-Neuburg vor ihnen stand, und folgte ihrem Beispiel, während Walburga Steglinger sichtlich Mühe hatte, auf die Beine zu kommen. Johanna starrte den Besucher zunächst fragend an, bevor sie sich entschloss, ebenfalls einen Knicks zu machen. Als Ehrentraud aufstehen wollte, hob der Herzog beschwichtigend die Hand.

»Bleibt ruhig liegen, meine Liebe. In Zeiten der Not wie dieser sollen Ehrenbezeugungen denen überlassen bleiben, die noch dazu in der Lage sind.« Mit einer Miene, der anzusehen war, wie sehr ihn das Aussehen des Edelfräuleins erschreckte, wandte er sich an Meinarda und neigte ein wenig den Kopf.

»Ich habe von der furchtbaren Tragödie vernommen, die Euch widerfahren ist, meine Liebe. Der Tod Eures Gemahls stellt auch für Uns einen herben Verlust dar, zählte Herr von Czontass doch zu Unseren bewährtesten Vertrauten.«

»Ich bitte Euer Gnaden, Euch meines vaterlosen Sohnes anzunehmen!« Meinarda beugte erneut ihr Knie vor dem Herzog der Jungen Pfalz von Neuburg und vermochte ihre Tränen nicht mehr zurückzuhalten.

»Wir werden ihn im Auge behalten!« Im Augenblick war es nur ein Versprechen, das Wolfgang Wilhelm von Wittelsbach aus Mitleid von sich gab, doch Meinarda kannte ihren Landesherrn und wusste, dass sie ihn daran erinnern durfte. Für Siegmar bedeuteten die Worte die Aussicht auf eine Karriere, die ihn in den inneren Kreis um den Herrscher führen konnte.

Der Pfalzgraf nickte Meinarda noch einmal zu und sah dann auf Irmela hinab, die ihn scheu anlächelte. »Du bist also die Tochter von Irmhilde und Ottheinrich von Hochberg.« Es klang etwas überrascht. Er hatte Irmelas Mutter als zierliche, aber sehr schöne Frau in Erinnerung, während die Tochter einer grauen Maus glich. Dann erinnerte er sich daran, wie jung Irmela noch war, und nahm an, dass zwar keine bemerkenswerte Schönheit, aber eine aparte junge Dame aus ihr werden konnte.

Mit einem gezwungenen Lächeln strich er ihr über das Haar. »Wie Wir hörten, wären all die Frauen und Kinder, die gerettet werden konnten, ohne dich ein Opfer der Schweden geworden. Wir danken Gott dem Herrn, dass er es nicht dazu kommen hat lassen. In dieser Hinsicht ähnelst du deiner Mutter. Auch sie hat Uns vor einer großen Tragödie bewahrt.«

Er ging jedoch nicht näher darauf ein, sondern seufzte tief und wandte sich dann an den Höfling. »Mein lieber Stainach, sorgt bitte dafür, dass die Damen ihrem Rang gemäß untergebracht werden, und lasst ihnen die Mahlzeiten von Unserem eigenen Tisch bringen.«

Der Höfling wand sich sichtlich. »Verzeiht, Euer Gnaden. Die Residenz und die Stadt sind hoffnungslos überfüllt. Es dürfte so gut wie unmöglich sein, ein achtbares Obdach für die Damen zu finden.«

»Dann lasst Platz für sie schaffen!« Der Pfalzgraf ließ keinen Zweifel daran, dass er seinen Befehl befolgt sehen wollte. Stainach, der froh gewesen war, den Frauen wenigstens dieses Plätzchen zuweisen zu können, zog ein langes Gesicht, wagte aber keinen weiteren Einwand.

Wolfgang Wilhelm winkte den Damen noch einmal huldvoll zu und wandte sich zum Gehen. Kurz vor dem Vorhang blieb er noch einmal stehen. »Stainach, wenn die Schweden wirklich auf Neuburg zurücken, sollten die Damen nicht mehr hier sein. Wir wollen nicht, dass sie diesen Ungeheuern ein zweites Mal begegnen müssen. Sorgt dafür, dass sie in eine sichere Gegend reisen können.«

Stainach rang die Hände und sah aus, als würde er jeden Augenblick in Tränen ausbrechen. »Jede Zille, Euer Gnaden, die es im weiten Umkreis gibt, ist hierher geschafft worden, um für Eure Weiterreise zu Verfügung zu stehen. Alle anderen Schiffe wurden bereits von Standesherren und Bürgern dieser Stadt zur Flucht benutzt. Wir werden kaum den elendsten Kahn für die Damen auftreiben können.«

»Es wird wohl die Möglichkeit geben, sie auf einer Unserer Zillen mitzunehmen!« Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass er Stainach damit eine Aufgabe aufhalste, die eines Herkules würdig gewesen wäre, ging Wolfgang Wilhelm mit raschen Schritten davon.

Stainach sah ihm mit verkniffener Miene nach und rief, als sein Herr den Saal verlassen hatte, einen Untergebenen zu sich. »Weiß Er, wo wir eine passable Unterkunft für Frau von Teglenburg und Fräulein von Hochberg finden können?«

»Die Fräuleins von Hochberg«, fiel ihm Johanna ins Wort, die nicht hinter Irmela zurückstehen wollte. Der Höfling beachtete sie jedoch nicht, sondern sah den Bediensteten so scharf an, als wolle er diesen für allen Ärger verantwortlich machen.

Der Mann rieb sich die Nase. »Da es sich um die Komtesse Hochberg und deren Bekannte handelt, wäre es wohl am besten, ihr den eigenen Besitz, der ein Stück unterhalb des Jagdschlosses Grünau an der Donau liegt, als vorläufige Wohnstatt zu empfehlen.«

»Ein Gebäude außerhalb der Stadt, wo doch die Schweden schwärmen! Ist Er närrisch geworden?« Es fehlte nicht viel, und Stainach hätte den Mann geschlagen.

Der Lakai wich ein wenig zurück, grinste aber. »Das Gebäude wurde vor etlichen Jahren auf einer Donauinsel errichtet. Nun ist der Flussarm südlich davon verlandet und das Anwesen von einem sumpfigen Auwald umgeben, durch den es kaum ein Durchkommen gibt. Dort wird so bald kein Schwede hinkommen, zumal das Haus auf unserer Seite der Donau liegt. Von dort könnten die Damen viel leichter evakuiert werden als hier in der Stadt, aus der im Augenblick der Not alle Leute zu den rettenden Zillen laufen werden. Um die Damen vor Marodeuren und Plünderern zu schützen, könntet Ihr einen Offizier und ein paar Soldaten abstellen.«

»Und wer sagt, dass unsere eigenen Leute sie nicht ausplündern werden?«, wandte Stainach bissig ein.

Sein Untergebener verbeugte sich lächelnd. »Die Wahl darf natürlich nur auf einen vertrauenswürdigen Offizier und ebensolche Soldaten fallen.«

Irmela räusperte sich, um die Aufmerksamkeit des Höflings auf sich zu lenken. »Ich schlage Hauptmann Kiermeier vor. Er hat an der Brücke sehr umsichtig gehandelt und macht einen verlässlichen Eindruck.«

Stainach warf ihr einen abweisenden Blick zu, und Irmela zog sich sofort wieder in ihr Schneckenhaus zurück.

Sein Gehilfe gab sich jedoch entzückt. »Ein ausgezeichneter Gedanke! Mit ihm zusammen können wir auch den jungen Birkenfels mit dem Schutz der Damen beauftragen.«

»Dann leite Er alles in die Wege! Meine Damen werden mir verzeihen, wenn ich sie nun verlassen muss, doch rufen mich vielfältige Pflichten.« Stainach verbeugte sich vor Meinarda und etwas weniger tief vor Irmela, obwohl diese im Rang über der Freiin stand, und bemühte sich, an Ehrentraud vorbeizusehen.

Die Feuerbraut
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