V.

Walburga Steglinger hatte zunächst Ehrentrauds und Monis Verletzungen verbunden, bevor sie sich selbst von der Magd helfen ließ. Die anderen Frauen stolperten derweil zwischen den brennenden Wagen umher, hoben den einen oder anderen Gegenstand auf, um ihn wieder fallen zu lassen, und starrten mit von Grauen gezeichneten Gesichtern auf die Toten. Immer wieder schrie eine von ihnen gellend auf, wenn sie jemand fand, der ihr nahegestanden hatte. Andere hofften bis zuletzt, ihre Männer und Söhne könnten den Schweden entkommen sein.

Während Johanna bei Ehrentraud von Lexenthal blieb und die Verletzte mit einer Mischung aus Grauen und Neugier betrachtete, sonderte Irmela sich weiter von den anderen ab. Ihr kleines Gesicht wirkte noch spitzer, und die Tränen rannen ihr über die Wangen, ohne dass sie einen Laut von sich gab.

Schließlich ging sie mit staksigen Schritten auf die Stelle zu, an der die meisten der Toten lagen, um den Leichnam ihres Vaters zu suchen.

Fabian sah es und lief ihr nach. »Bleib da weg! Du solltest sie alle so im Gedächtnis behalten, wie du sie im Leben gekannt hast. Das hier ist kein Anblick für ein kleines Mädchen.«

Die Bezeichnung »kleines Mädchen« drang durch den Schleier von Trauer und Entsetzen. Sie fuhr empört auf und wollte ihm sagen, dass sie bereits siebzehn sei. Da las sie auf seinem Gesicht die gleichen Gefühle, die auch sie niederdrückten. »Verzeih mir!«, sagte sie beschämt.

»Ich habe dir nichts zu verzeihen. Es ist an mir, dich um Vergebung zu bitten.« Er berührte vorsichtig Irmelas geschwollene, von Blutschorf bedeckte Lippen und zog das Mädchen tröstend an sich. »Warum ist meine Mutter dir nicht auch gefolgt? Jetzt bin ich ganz allein!«

»Genau wie ich«, antwortete Irmela und verdrängte dabei die Tatsache, dass sie mit Johanna noch eine nahe Verwandte besaß. Die Erinnerung an den Tod ihrer Mutter vor gut zehn Jahren stieg so schmerzhaft in ihr auf, als sei es eben erst geschehen. Sie hatte sich trotz des Verbots ihrer Kinderfrau in das Sterbezimmer geschlichen und all das Blut gesehen, das aus ihrer Mutter herausgeflossen war. Auch das Neugeborene war ihren Augen nicht entgangen, der Bruder, der seine Geburt nur eine Stunde überlebt hatte. Beim Anblick des Kleinen hatte sie einen Wutanfall bekommen und den lieben Gott wegen seiner Ungerechtigkeit gescholten. Ausgerechnet da war ihr Vater ins Zimmer getreten. Ottheinrich von Hochberg hatte sie zuerst geohrfeigt, sie aber dann in die Arme genommen und mit ihr geweint.

Ein Geräusch, das nicht in die Umgebung passte, ließ Irmela aufblicken, und sie entdeckte eine Gruppe von zerlumpten Männern, die mit eiligen Schritten näher kamen. Es konnte sich um verarmte Bauern aus der Umgebung handeln, aber auch um Gesindel, wie es im Gefolge der Heere die Lande durchstreifte. Die Kerle hatten wohl den Rauch der brennenden Karossen über dem Wald aufsteigen sehen und hofften, hier noch Beute machen zu können. Die Gesten und die wenigen Worte, die Irmela aufschnappen konnte, verhießen nichts Gutes. So schnell, wie ihre erschöpften Beine sie trugen, lief sie zu der Gruppe der Überlebenden zurück, die sich um Walburga versammelt hatten.

Anna Reitmayr wandte sich gerade mit einer verzweifelten Geste an Fabian, der ebenfalls hinzugetreten war. »Du musst einen Priester holen und Helfer, damit wir unsere lieben Toten begraben können.«

»Dafür bleibt keine Zeit«, rief Irmela erregt. »Seht! Dort hinten kommen Männer, und wie sie aussehen, wollen sie sich das holen, was die Schweden übrig gelassen haben.«

»Wer sagt dir das? Deine Hexenkräfte?«, keifte Johanna, und auch Ehrentraud machte eine Bemerkung über Irmela, die ebenso verletzend wie ungehörig war.

Die andern achteten nicht auf das Gift, das die beiden Mädchen verspritzten, sondern starrten zu den zerlumpten Kerlen hinüber. »Wegen mir können sie sich nehmen, was sie wollen! Hauptsache, sie helfen uns, unsere Toten unter die Erde zu bringen«, rief Anna Reitmayr hoffnungsvoll aus.

Irmela vernahm jedoch das Wort »Weiber!« und die Gier, die darin schwang.

»Sie werden uns nicht helfen, sondern dort weitermachen, wo die Schweden aufgehört haben. Schnell, wir müssen in den Wald zurück!«

Fabian schüttelte verzweifelt den Kopf. »Wie stellst du dir das vor? Fräulein Ehrentraud kann kaum laufen, und der Rest ist zu erschöpft, um sich noch zwischen den Büschen verstecken zu können. Die Kerle hätten uns schneller eingeholt, als uns lieb sein kann.«

»Wir können nicht einfach hierbleiben!«, rief Irmela und blickte die Frauen und älteren Mädchen an. »Wollt ihr, dass euch das Gleiche geschieht wie Fräulein Ehrentraud und Frau Steglinger?«

»Und mir«, setzte Moni hinzu. Als Magd war sie es zwar gewöhnt, nicht beachtet zu werden, doch sie wollte die Tatsache ihrer Schändung nicht unter den Tisch gekehrt wissen. Es gab immer fromme Frauen und Priester, die Mitleid mit einem Opfer dieser protestantischen Ungeheuer zeigten und ihm die eine oder andere Münze zusteckten. Außerdem quälten sie starke Schmerzen, denn die Soldaten waren wie Tiere über sie hergefallen.

Fabian focht einen harten Kampf mit sich aus. Es widerstrebte ihm, die Toten, unter denen sich auch seine Eltern befanden, als Opfer von Leichenfledderern zurückzulassen. Andererseits zählte er sechs Männer, hinter denen nun etliche Weiber auftauchten, die nicht weniger zerlumpt aussahen. Diese Leute würden sich gewiss nicht mit dem begnügen, was sich beim Wagenzug befand.

»Kommt mit! Wir gehen weiter Richtung Donau.«

Meinarda rang die Hände. »Von dort sind die Schweden gekommen. Was ist, wenn wir denen in die Arme laufen?«

»Dann passiert uns auch nicht mehr als das, was die Kerle da hinten mit uns vorhaben.« Walburga Steglinger stand mühsam auf und folgte Irmela, die zwei kleine Mädchen an die Hand genommen hatte und ein Stück vorausgeeilt war.

»Frau von Teglenburg, übergebt Euren Sohn einem der Mädchen und helft Fräulein Ehrentraud, und du, Moni, stützt sie ebenfalls.« Fabian gab diesen Befehl nicht gern, denn die Magd sah zum Erbarmen schlecht aus. Aber die übrigen Frauen hatten mit sich selbst und ihren Kindern genug zu tun und konnten sich nicht auch noch um die Verletzte kümmern. Er selbst wagte es nicht, sich mit Ehrentraud zu belasten, denn wenn man sie verfolgte, würde er die kleine Gruppe verteidigen müssen.

Sie hatten noch keine hundert Schritte zurückgelegt, als die Plünderer sich johlend auf die herumliegenden Reste stürzten, die den Schweden nicht gut genug gewesen waren. Die meisten überließen das Aufsammeln jedoch den zu ihnen aufschließenden Weibern und folgten den Flüchtlingen.

»Geht schneller!«, rief Fabian, der begriff, dass eine Auseinandersetzung unausweichlich sein würde.

Seine Schützlinge vermochten jedoch nicht vor einem halben Dutzend zu allem entschlossenen Kerlen davonzulaufen. Die Plünderer holten rasch auf, und ihre Stimmen verrieten den Fliehenden, dass sie sich nicht mit dem wenigen an Gold und Schmuck zufriedengeben würden, das die Frauen noch bei sich trugen, sondern diese und die älteren Mädchen als Beute ansahen.

Walburga Steglinger blieb mit vor Anstrengung hochrotem Gesicht stehen und schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht mehr. Rettet ihr euch!«

Johanna und einige andere sahen aus, als würden sie dieses Angebot liebend gerne annehmen, doch Fabian hob sein Rapier. »Ich lasse keine von euch im Stich.«

»Narr! Wenn sie dich umbringen, habe ich auch nichts davon.« Walburga Steglinger versetzte ihm einen Stoß, doch er wich nicht, sondern stellte sich mit zusammengebissenen Zähnen den Plünderern in den Weg.

Irmela begriff, dass Fabian es auf einem Kampf ankommen lassen wollte, um wenigstens einem Teil der Gruppe die Möglichkeit zu geben, den Schurken zu entkommen. Obwohl sie vor Angst fast verging, war ihr klar, dass die Kerle die meisten von ihnen einholen würden. Wer dennoch entkam, würde eine leichte Beute der Wölfe werden, deren Rufe sie unterwegs immer wieder gehört hatte. Ohne Fabian waren sie verloren, also musste sie ihm helfen. Sie kehrte um und blieb ein Stück hinter ihrem Jugendfreund stehen.

Fabian sah sie aus den Augenwinkeln und bleckte die Zähne. »Verschwinde, du Närrin!«

Statt einer Antwort bückte Irmela sich, hob mehrere Steine auf und schleuderte sie auf die Männer, die grinsend auf Fabian zustapften und ihn in die Zange nehmen wollten.

Bereits der erste Stein traf einen der Kerle im Gesicht. Der Mann heulte auf und griff mit der Hand an sein rechtes Auge, aus dem Blut und Wasser schossen. Seine Kumpane fluchten und drohten der Werferin die schlimmsten Foltern an.

Inzwischen waren auch die anderen Frauen schwer atmend stehen geblieben und sahen sich unsicher an. Zwei Knaben kehrten zu Irmela zurück und begannen ebenfalls mit allem zu werfen, das ihnen in die Hände kam. Schließlich bückte sich auch Meinarda, packte einen Stein und schleuderte ihn mit einem wütenden Schrei auf die Verfolger. Ihr Beispiel spornte die anderen an, und noch bevor die fünf unverletzten Plünderer Fabian erreichen konnten, prasselte ein Hagel aus Steinen, Erdklumpen und Tannenzapfen auf sie herab.

Selbst Fabian blieb von den Wurfgeschossen nicht verschont und fuhr wütend auf. »Verdammt noch mal, seid ihr denn verrückt geworden?«

Zu mehr kam er jedoch nicht, denn im nächsten Augenblick hatte der erste Angreifer ihn erreicht und schwang sein Beil. Fabian tauchte unter dem Schlag hindurch und stieß seinerseits zu. Die Spitze des Rapiers drang in den Leib seines Gegners, und als er sie wieder herausriss, schoss das Blut in einer hellroten Fontäne aus der Wunde.

Der Mann ließ sein Beil fallen, schrie gellend auf und verstummte, ehe sein Leib den Boden berührte.

Es war der erste Mensch, den Fabian getötet hatte, doch um die Frauen und Kinder zu schützen, die sich ihm anvertraut hatten, war er bereit, die halbe Welt umzubringen. Sein Gesichtsausdruck und seine Waffenfertigkeit flößten den übrigen Plünderern Respekt ein. Es war eine Sache, hilflose Frauen und Kinder zu überfallen, aber eine ganz andere, einem zu allem entschlossenen Kämpfer gegenüberzustehen. Obwohl der Mann mit der blutenden Augenhöhle zu seinen Kumpanen aufschloss, wagten diese es trotz fünffacher Übermacht nicht, frontal anzugreifen, sondern suchten ihren Blicken zufolge eine Möglichkeit, den einzelnen Gegner mit einem Überraschungscoup auszuschalten.

Fabian trat ein wenig beiseite, damit Irmela und die anderen freie Schussbahn hatten, und suchte sich den Mann aus, dessen Tod den Plünderern wohl endgültig den Mut nehmen und sie zum Rückzug veranlassen würde. Zwar war Fabian kein Soldat, doch in den Zeiten, in denen sein Vater zu Hause geweilt hatte, war er von diesem in die Kunst des Fechtens eingewiesen worden. Jetzt erinnerte er sich an dessen Lehre, stets kühles Blut zu bewahren, und zwang sich zur Ruhe.

Die Verfolger wechselten kurze Blicke miteinander und sprachen sich mit Zeichen ab. Einer von ihnen sprang Fabian ohne Vorwarnung an und versuchte, ihm den Dolch in den Körper zu rammen. Dieser wich dem Angreifer aus und war mit wenigen Schritten bei dem Kerl, den er für den Anführer hielt. Bevor der Mann begriff, was geschah, fuhr Fabians Klinge ihm von unten ins Herz, und er brach mit einem gurgelnden Laut zusammen.

Unterdessen schleuderten die Frauen auf Irmelas Zeichen hin ihre Geschosse auf den Mann, den Fabian umgangen hatte und der nun in dessen Rücken stand. Der Anblick der wütenden Frauen, die so aussahen, als würden sie sich noch mit Zähnen und Fingernägeln verteidigen, verfehlte seine Wirkung ebenso wenig wie Fabians blutige Klinge.

Fluchend wandte sich der erste Plünderer von den Verfolgten ab. »Bei den Wagen liegt genug Beute für uns alle«, rief er seinen Spießgesellen zu. Diese zögerten, denn die wertvolle Kette um Meinardas Hals lockte sie, doch als der Sprecher loslief, rannten sie hinter ihm her.

Fabian atmete erleichtert auf und säuberte sein Rapier an den Lumpen, die der vor ihm liegende Tote trug. Ganz glaubte er noch nicht, die Plünderer endgültig in die Flucht getrieben zu haben, deswegen schnauzte er die Frauen an: »Los, geht weiter! Sonst kommen die Schufte zurück, um uns doch noch die Hälse durchzuschneiden!«

Ehrentraud spuckte auf einen der Toten. »Mein Gott, was war das für ein erbärmliches Gesindel! Jeder Mann von Ehre hätte alles getan, um seine Kameraden zu rächen.«

Die anderen Frauen sahen sich kopfschüttelnd an, denn die Stimme des Edelfräuleins hatte geklungen, als würde sie bedauern, dass ihre Begleiterinnen schon wieder einer Vergewaltigung entkommen waren.

Die Feuerbraut
cover.html
titel.html
part1.html
chapter1.html
chapter2.html
chapter3.html
chapter4.html
chapter5.html
chapter6.html
chapter7.html
chapter8.html
chapter9.html
chapter10.html
chapter11.html
chapter12.html
chapter13.html
chapter14.html
chapter15.html
chapter16.html
chapter17.html
part2.html
chapter18.html
chapter19.html
chapter20.html
chapter21.html
chapter22.html
chapter23.html
chapter24.html
chapter25.html
chapter26.html
chapter27.html
chapter28.html
chapter29.html
chapter30.html
chapter31.html
chapter32.html
chapter33.html
chapter34.html
chapter35.html
chapter36.html
part3.html
chapter37.html
chapter38.html
chapter39.html
chapter40.html
chapter41.html
chapter42.html
chapter43.html
chapter44.html
chapter45.html
chapter46.html
chapter47.html
chapter48.html
chapter49.html
chapter50.html
chapter51.html
chapter52.html
chapter53.html
chapter54.html
chapter55.html
chapter56.html
part4.html
chapter57.html
chapter58.html
chapter59.html
chapter60.html
chapter61.html
chapter62.html
chapter63.html
chapter64.html
chapter65.html
chapter66.html
chapter67.html
chapter68.html
chapter69.html
chapter70.html
chapter71.html
chapter72.html
part5.html
chapter73.html
chapter74.html
chapter75.html
chapter76.html
chapter77.html
chapter78.html
chapter79.html
chapter80.html
chapter81.html
chapter82.html
chapter83.html
chapter84.html
chapter85.html
chapter86.html
chapter87.html
chapter88.html
chapter89.html
chapter90.html
chapter91.html
chapter92.html
part6.html
chapter93.html
chapter94.html
chapter95.html
chapter96.html
chapter97.html
chapter98.html
chapter99.html
chapter100.html
chapter101.html
chapter102.html
chapter103.html
chapter104.html
chapter105.html
part7.html
chapter106.html
chapter107.html
chapter108.html
chapter109.html
chapter110.html
chapter111.html
chapter112.html
chapter113.html
chapter114.html
chapter115.html
chapter116.html
chapter117.html
chapter118.html
chapter119.html
chapter120.html
chapter121.html
chapter122.html
chapter123.html
chapter124.html
chapter125.html
chapter126.html
chapter127.html
chapter128.html
chapter129.html
back1.html
back2.html
back3.html
back4.html
author.html
copyright.html