X.

Als Fabian Lexenthals Kutsche in der Ferne ausmachen konnte, schrie er vor Enttäuschung auf. Die Reisegesellschaft des Priors hatte den Inn erreicht und der Vorreiter offensichtlich schon den Brückenzoll bezahlt, denn die Kutsche und die bewaffneten Begleiter überquerten ohne anzuhalten den Fluss. So mussten die Verfolger von der Kuppe eines Hügels herab hilflos zusehen, wie die Gesuchten in die Dreiflüssestadt hineinfuhren.

Fanny schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte auf, und Ludwig von Gibichen stieß so unflätige Flüche aus, wie Fabian sie von seinem sonst so beherrschten Freund noch nie vernommen hatte. Doch rasch beruhigte der Hauptmann sich wieder, und seine Stimme klang so gleichmütig, als spräche er von einer beliebigen Verabredung. »Nur einen Tag früher, und wir hätten dem Kerl Irmela aus den Fingern geholt.«

»Mit dem, was hätte sein können, ist uns wenig gedient. Wir müssen gut überlegen, wie wir Irmela befreien können!«, wies Fabian ihn zurecht.

Fanny sah ihn mit nassen Augen an. »Ich bin schuld, dass ihr es nicht geschafft habt. Wenn ich nicht dabei gewesen wäre, hättet ihr viel schneller reiten können.«

»Unsinn! Du hast uns nicht im Geringsten behindert«, fuhr Gibichen ihr über den Mund.

Weder er noch Fabian hatten auf Fanny Rücksicht genommen, und diese Reise hätte kaum eine andere Frau so klaglos durchgestanden. Dabei hatte die Magd zugepackt, wo es nötig gewesen war, und ihnen den Ritt sogar erleichtert. Auch Abdur hatte sich als wertvoller Begleiter erwiesen. Neben seinen Pflichten als Ersatz-Offiziersbursche war er rührend um Fanny bemüht gewesen und hatte ihr Salben und Pflaster besorgt, mit denen sie ihre wund gerittene Kehrseite pflegen konnte. Die Schmerzen, die sie im Sattel gelitten hatte, mussten fürchterlich gewesen sein, und doch hatte sie sich kaum etwas anmerken lassen.

»Du bist ein braves Mädchen. Irmela kann stolz auf eine so treue Zofe sein!«

Gibichens Lob kam bei Fanny nicht gut an. »Wie kann sie stolz auf mich sein? Ich habe es nicht geschafft, sie einzuholen und zu befreien!«

»Wir hätten viel schneller reiten müssen, aber dann wären uns die Pferde unterm Hintern zusammengebrochen, und das hätte uns auch nichts genützt. Lexenthal ist gefahren, als wäre der Teufel hinter ihm her.«

Fabian maß die Stadt, die auf der Landzunge zwischen Donau und Inn lag, mit einem hasserfüllten Blick. »Wir werden eine Gelegenheit finden, unserer Freundin zu helfen. Jetzt sollten wir erst einmal nach Passau hineinreiten und uns eine Unterkunft suchen. Aber bevor wir irgendetwas unternehmen, wirst du deine Hand von einem Arzt ansehen lassen!« Fabian zeigte dabei auf Gibichens Linke, die noch immer mit dem mittlerweile stark verfärbten Lappen verbunden war.

»Das ist doch nicht der Rede wert!« Gibichen wollte mit der verletzten Hand eine abwertende Geste machen, stöhnte aber unwillkürlich auf.

»Herr von Gibichen sollte sich wirklich verarzten lassen. Ich hatte ihm ja angeboten, seine Wunde zu versorgen, aber er wollte es nicht.« Fanny klang tadelnd, denn sie gab etwas auf ihr Können, kleinere Verletzungen so zu versorgen, dass sie sich nicht entzündeten.

»Tu es jetzt!«, forderte Fabian sie auf. »Ob wir eine halbe Stunde früher oder später nach Irmela suchen, ist nun auch gleich.«

Gibichen wollte nicht so recht, doch Fanny beugte sich aus dem Sattel und griff nach seiner Hand. Der Offizier hielt sichtlich die Luft an, als Fanny den Stofffetzen entfernte und die Wunde freilegte. Die Schnitte an Ring- und Mittelfinger hatten sich geschlossen und heilten halbwegs ab, doch beim Anblick des dick angeschwollenen, eiternden kleinen Fingers stieß Fanny einen erschreckten Ruf aus.

»Seid Ihr noch bei Sinnen? Bei Gott, das hätte längst verarztet werden müssen!«

»Das wird jetzt auch geschehen!« Fabian war näher gekommen und blickte nun kopfschüttelnd auf die entzündete Wunde. »Du bist ein Narr! Wenn du Pech hast, verlierst du die ganze Hand!«

»Um Irmela zu retten, würde ich mehr opfern als meine Linke!«, brach es aus Gibichen heraus.

»So hilfst du ihr auch nicht!« Fabian zuckte mit den Achseln und sah Fanny an. »Hast du noch ein Stück sauberen Stoff, den du um die Hand wickeln kannst, bis wir einen Wundarzt finden?«

Die Magd nickte eifrig. »Ich muss noch ein weiteres Stück von dem Unterrock abtrennen, den ich für meine Herrin eingepackt habe.«

»Dann tu das«, forderte Fabian sie auf.

Fanny rutschte aus dem Sattel, bevor Abdur ihr zu Hilfe kommen konnte, und begann in den Packtaschen zu kramen. Kurz darauf brachte sie einen Streifen sauberes, weißes Leinen und band es um Gibichens Hand. Der wusste ihr allerdings keinen Dank, sondern starrte so grimmig nach Passau hinüber, als wolle er dem Weg, den Lexenthals Kutsche genommen hatte, durch Mauern und Häuser hindurch folgen.

Als die Magd wieder im Sattel saß, winkte Fabian seinen Gefährten, ihm zu folgen, und führte sie hügelabwärts zum Inn. Sie überquerten den Fluss auf derselben Brücke wie Lexenthal eine halbe Stunde vor ihnen. Zwar musterten die Wachen die abgerissen wirkenden Offiziere mit ihrem seltsamen Gefolge recht neugierig, gaben sich aber mit dem Brückenzoll und der Erklärung zufrieden, die beiden Herren seien auf dem Weg zu ihrem Regiment.

Fabian deutete auf Gibichens verbundene Hand und blickte einen der Männer fragend an. »Kennst du einen guten Wundarzt in der Stadt? Mein Freund hat sich unterwegs verletzt.«

Der Angesprochene schob seinen Hut nach vorne und kratzte sich im Genick. »Also, wenn ich Ihr wäre, würde ich Bertram Lohner aufsuchen. Der flucht zwar wie ein Landsknecht, aber er versteht sein Gewerbe.«

»Lohner?« Eine ferne Erinnerung tauchte in Fabians Erinnerungen auf, ohne dass er sie greifen konnte. »Wo finden wir ihn?«

Fanny runzelte nachdenklich die Stirn. Hatte so nicht der Arzt geheißen, der sie von ihrer hässlichen Narbe befreit hatte? Und der hatte ebenfalls schlimm fluchen können. Noch während sie darüber nachsann, sprach der Wachtposten weiter.

»Ihr müsst in die dritte Gasse nach rechts abbiegen. Dann ist es das fünfte Haus. Über der Tür hängt ein Schild mit einem Messer und einem gebrochenen Arm.«

»Vergelt’s Gott!« Fabian warf dem Mann eine Münze zu und ritt an. Die Wegbeschreibung war so genau, dass sie nicht noch einmal fragen mussten. Das Haus war nicht besonders groß, doch das Schild mit dem abgeknickten Arm und dem Skalpell, an dem stilisierte Blutstropfen klebten, zeugte von dem großen Selbstbewusstsein, aber auch von dem derben Wesen des Besitzers.

Fabian stieg aus dem Sattel und klopfte. Kurz darauf öffnete ihm eine nicht mehr ganz junge, aber hübsche Frau. Es dauerte einen Augenblick, bis Fabian die ehemalige Offiziershure Gerda erkannte. »Das ist aber eine Überraschung!«

»Birkenfels?« Die Frau war nicht gerade erfreut, einen ihrer früheren Liebhaber zu sehen, und machte eine Bewegung, als wolle sie ihm die Tür vor der Nase zuschlagen. Da entdeckte sie den Verband um Gibichens Hand und trat ganz vor die Tür. Für einen Augenblick dachte sie daran, die Männer zu einem anderen Wundarzt zu schicken, doch damit würde sie dem Gerede erst recht Nahrung geben. Wenn sie den beiden half, konnte sie eher auf deren Verschwiegenheit hoffen.

»Ich sehe, Euer Freund benötigt Hilfe. Kommt doch herein. Mein Mann wird sich gleich um ihn kümmern.« Ihre Stimme zitterte ein wenig, und Fabian las in ihren Augen die Bitte, ihre Vergangenheit zu vergessen.

Mit einem amüsierten Lächeln auf den Lippen deutete er eine Verbeugung an. »Habt Dank! Könntet Ihr mir auch sagen, wo wir unterdessen unsere Pferde abstellen können?«

Gerda wies die Gasse hinab. »Dort drüben befindet sich der Gasthof zum Löwen. Euer Mohr könnte die Gäule hinbringen und Eure Ankunft melden. Die Betten dort sind ordentlich, und das Essen ist besser als in den meisten anderen Herbergen dieser Stadt.«

Fabian wechselte einen Blick mit Abdur, der die Zügel der anderen Pferde entgegennahm und Richtung Herberge stapfte, sah dann seinen Freund auffordernd an und deutete mit dem Kopf auf die Tür, die Gerda aufhielt. Die verletzte Hand an die Brust gepresst, folgte Gibichen der Aufforderung. Seiner Miene nach zu urteilen schien er begriffen zu haben, dass er mit dieser Verletzung weniger für Irmela tun konnte als nach einer erfolgreichen Behandlung durch den Arzt. Fanny schwankte, ob sie Abdur in den Löwen folgen oder sich den beiden Offizieren anschließen sollte, und entschied sich, ebenfalls einzutreten.

Während Gerda den Patienten und seine Begleiter durch das Haus führte, musterte sie Fanny verstohlen und fragte sich, ob dieses Mädchen die neue Bettgefährtin der beiden Offiziere wäre. Sie glaubte Birkenfels’ und Gibichens Geschmack zu kennen und wunderte sich ein wenig, denn Fanny war zwar auf eine ländliche Art hübsch, aber gewiss nicht die Frau, die zwei Herren von Stand zu reizen vermochte. Dennoch überkam sie ein wenig Eifersucht, und sie musste im Stillen über sich selbst lächeln. Wohl war sie auch diesen beiden Offizieren zu Diensten gewesen, doch die Zeit war vorbei. Hier in Passau galt sie als die ehrenwerte Ehefrau des Wundarztes Bertram Lohner.

Auch wenn es nun zu ihren Pflichten gehörte, das Haus sauber zu halten und blutige Verbände zu waschen, so war sie mit ihrem Leben ganz zufrieden. Gerda kannte viele Frauen, die gleich ihr von Offizieren ausgehalten worden waren. Sie alle hatten ein paar Jahre lang ein gutes Leben gehabt, waren dann aber fallen gelassen worden und mussten sich schließlich für Pfennigbeträge oder Nahrungsmittel den Trossknechten oder gar dem Gesindel feilbieten, das die Heere wie Fliegenschwärme begleitete und vom Plündern und Leichenfleddern lebte. So hatte sie nicht enden wollen und daher Lohners Antrag angenommen. Eine Karriere anzustreben wie Helene, die nun den steinreichen Steglinger geheiratet hatte, hatte sie nicht gewagt. Wer zu hoch stieg, konnte sehr tief fallen, sagte sie sich auch jetzt wieder, als sie die Tür zum Behandlungszimmer ihres Mannes öffnete.

Lohner saß neben dem Fenster und las in einem Buch, legte dieses aber sofort beiseite. »Grüß Gott, die Herren! Womit kann ich dienen?«

»Mein Freund hat sich verletzt! Wenn Er so gut sein könnte, nach der Wunde zu sehen.« Fabian schob Gibichen auf den Behandlungsstuhl zu. Dieser nahm leise knurrend Platz und ließ es zu, dass Lohner den Leinenstreifen löste.

Als der Arzt die Wunde sah, schüttelte er den Kopf. »Ihr habt Euch verdammt lange Zeit gelassen, zu mir zu kommen.«

»Jetzt rede nicht lange, sondern schmiere etwas drauf, und dann hat es sich«, schnaubte Gibichen ihn an.

Lohner hob die Augenbrauen. »Wollt Ihr unbedingt Eure Hand verlieren? Beim Herrgott im Himmel! Mit so einer Wunde ist nicht zu spaßen. Seid froh, wenn ich Euch nicht den Unterarm abnehmen muss!«

Jetzt wurde Gibichen blass. Er knirschte mit den Zähnen, und als Lohner den verletzten Finger abtastete und daran drückte, stöhnte er schmerzhaft auf. Ein Schwall gelben Eiters quoll zwischen den schwarzen Rändern der Wunde hervor.

»Da seht Ihr’s!«, trumpfte Lohner auf. »Den Finger könnt Ihr vergessen. Vielleicht bleibt es dabei, wenn nicht …« Er brach mitten im Satz ab, doch seine Geste war deutlich genug.

»Tut alles für meinen Freund, was in Eurer Macht steht!«, bat Fabian ihn.

Der Arzt wandte sich ihm zu und zwinkerte verblüfft. »Birkenfels! Seid Ihr es wirklich?«

»Er kennt mich?« Noch während Fabian es sagte, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Vor ihm stand derselbe Arzt, der einen Winter im Haus in den Waldbergen verbracht und Fannys hässliche Brandnarbe beseitigt hatte. Lohner hatte auch eine der schlimmsten Narben in Ehrentrauds Gesicht weggeschnitten, und wenn sich der zweite Arzt nicht eingemischt hätte, wäre wohl ebenso wie bei Fanny nur ein weißer Fleck zurückgeblieben.

»Lohner? Jetzt erinnere ich mich! Ich traf Ihn damals im Haus der Gräfin Hochberg.«

Der Arzt nickte zufrieden. »Beinahe hätte ich Euch nicht erkannt. Ihr seid in der Zwischenzeit ein Mann geworden.«

»Damals war ich noch ein dummer Junge und aufgeblasen von falschem Stolz«, gab Fabian mit einem Auflachen zu.

Lohner nickte, als wolle er diese Worte bestätigen, und zeigte auf Gibichens Hand. »Es drängt mich, mit Euch zu sprechen, doch ich muss mich zuerst um die Hand Eures Freundes kümmern. Mögen Gott und die Heiligen Kosmas und Damian mir beistehen! Garantieren kann ich nämlich für nichts.« Der Arzt ergriff sein Skalpell und öffnete die Verletzung mit einem geschickten Schnitt. Mit einem leisen Aufschnauben schüttelte er den Kopf.

»Das wird nicht leicht werden. Gerda, bringe einen Krug Branntwein, damit der Offizier die Schmerzen weniger spürt! Und Ihr, Herr von Birkenfels, solltet Euren Freund festhalten. Oder soll ich ihn mit Lederriemen an den Stuhl binden?«

»Versuche Er es, und ich wickle Ihm die Riemen um seinen dürren Hals!« Gibichen funkelte den Arzt feindselig an, hielt aber still.

Gerda war innerhalb weniger Augenblicke mit einem Krug voll Branntwein zurückgekehrt und goss die Flüssigkeit in einen großen Lederbecher. Gibichen nahm das Gefäß entgegen und stürzte seinen Inhalt in einem Zug hinunter.

»Mehr!« Er hielt Gerda fordernd den Becher hin. Diese füllte ihn erneut, und als Gibichen diesmal ausgetrunken hatte, spürte er, dass sein Kopf sich auf einmal wie in Watte gepackt anfühlte. Das Einzige, was er noch empfand, war der Schmerz in seiner Linken.

Während der Chirurg sich um Gibichen kümmerte, strich Fanny sich nachdenklich über ihre Wange, die durch die Kunst des Arztes nun wieder so glatt war, dass sie kaum mehr die Stelle merkte, an der die dicke Brandnarbe gesessen hatte. Sie war Lohner dankbar und hätte ihn gerne darauf angesprochen. Gerdas Gegenwart schüchterte sie jedoch ein, zudem erinnerte sie sich an den Lohn, den sie für diese Operation hatte zahlen müssen. Die Scham darüber brachte sie dazu, sich immer mehr in den Hintergrund zu schieben und unauffällig zuzusehen, wie der Chirurg mit dem Skalpell hantierte.

Lohner war wirklich ein guter Wundarzt, das wurde auch Fabian schnell klar, der schon einiges auf den Kriegszügen erlebt hatte. Geschickt amputierte der ehemalige Feldscher den kleinen Finger, zog ein Stück Haut über die Stelle und vernähte sie mit kleinen Stichen. Dann wusch er die Hand mit einem Sud aus verschiedenen Kräutern, unter denen sich seiner Auskunft nach Kamille, Kapuzinerkresse und Ringelblume befanden, und hieß Gerda, dem Offizier einen Tee aus Kräutern zu kochen, die für die Wundheilung und die Blutreinigung gut sein sollten.

Während er einen Verband anlegte, wandte er sich Fabian zu. »Gewiss erinnert Ihr Euch noch an meinem Kollegen Portius. Der arme Kerl sucht Euch verzweifelt. Derzeit hält er sich ein Stück weiter donauaufwärts in Vilshofen auf und mischt Salben und Tinkturen an, die er an Apotheken und Ärzte verkauft. Selbst praktiziert er nicht mehr, aber aus welchem Grund, will er nicht verraten. Er muss schreckliche Dinge erlebt haben! Irgendwie scheint Ihr auch in seine Angelegenheiten verwickelt zu sein, denn er fragt alle möglichen Leute nach Euch und bittet sie, Euch zu ihm zu schicken.«

Fabian schüttelte unwillig den Kopf. »Was soll ich mit dem Burschen?«

Unterdessen hatte Gibichen sich einen weiteren Becher Branntwein eingeschenkt, hielt aber mitten im Trinken inne und sah seinen Freund mit einem wässrigen, aber noch klaren Blick an. »Wie weit ist dieses Vilshofen von hier weg?«

»Etwa drei deutsche Meilen«, antwortete Lohner an Fabians Stelle.

»Dann solltest du zu diesem Portius reiten. Ein andermal kommst du wohl kaum mehr dazu.«

»Aber dazu ist keine Zeit! Wir müssen …« Fabian brach ab, denn ihr eigentliches Vorhaben ging weder Lohner noch dessen Ehefrau etwas an.

Gibichen starrte ihn an, als müsse sein Blick ihn einfangen. »Heute bin ich zu nichts mehr fähig, und bis morgen Mittag bist du wieder zurück. Tu es! Sonst wirst du es später vielleicht bereuen.«

Da Gibichen bis jetzt am meisten gedrängt hatte, Irmela so rasch wie möglich zu befreien, wunderte Fabian sich über dessen Rat. Aber er würde sich wohl um die Sache kümmern müssen, sonst stieg sein Freund selbst in den Sattel, und das dürfte der Heilung nicht gerade zuträglich sein. Gibichen würde sich glücklich schätzen müssen, wenn die Wunde sich schloss und er nicht die ganze Hand verlor.

Während Fabian seinen Gedanken nachhing und spürte, wie die Sorge um Irmela und Gibichen, aber ganz besonders auch um Stephanie und sein Kind immer stärker auf ihm lastete, hob Lohner lächelnd die Hand. »Ihr braucht nicht nach Vilshofen zu reiten, Herr von Birkenfels. Ich werde einen Boten hinschicken, der Portius herbringen soll. Erholt Ihr Euch lieber von der Reise. Ihr seht erschöpft aus.«

Es war weniger die Erschöpfung, die ihre Spuren in Fabians Gesicht hinterlassen hatte, als die lange Haft auf Burg Harlau. Bislang war er so angespannt gewesen, dass er seine körperliche Schwäche mit dem in ihm lodernden Zorn überspielt hatte. Nun aber begann die Enttäuschung über die misslungene Verfolgung ihn aller Kraft zu berauben. Ein oder zwei Tage Ruhe würden ihm wohl helfen, notdürftig wieder auf die Beine zu kommen. Aber er durfte die Zeit nicht nutzlos verstreichen lassen und nahm sich vor, sich notfalls allein auf die Suche nach Irmela zu machen. Zwar konnte er nicht hoffen, sie ohne Gibichens Unterstützung zu befreien, aber er wollte wenigstens wissen, wohin man sie gebracht hatte. Mit einem Mal wurde er ganz mutlos und sah sich schon in einer johlenden Menge eingekeilt, während Irmela sich in den Flammen des Scheiterhaufens wand.

Das darf niemals geschehen!, schrie es in ihm auf. Er hob den Kopf und sah Lohner an. »Was weiß Er über den Prior Lexenthal?«

Der Arzt wunderte sich über den abrupten Themenwechsel, wies aber in die Richtung, in der er die fürstbischöfliche Residenz wusste. »Der hohe Herr lebt seit Jahren als geehrter Gast unseres erlauchtesten Herrn Bischof Leopold von Habsburg in Passau. Derzeit sucht Ihr ihn hier jedoch vergebens, denn er hat sich schon vor mehreren Wochen auf eine weite Reise begeben. Wie es heißt, soll er eine gefährliche Hexe suchen, die am Tod seiner Nichte schuld sein soll. Mehr weiß ich nicht.«

»Ehrentraud ist tot?« Fabian dachte an das einst lebensfrohe, von vielen jungen Männern umschwärmte Mädchen, dem das Schicksal so übel mitgespielt hatte, und glaubte noch einmal die Wärme ihres Leibes zu spüren. Vor dem Überfall der Schweden hatte auch er zu ihren Anbetern gehört, und später, in den Monaten auf Irmelas Gutshof, hatte er Zuneigung zu ihr empfunden, aus der Liebe hätte werden können, wenn auch kein so himmelstürmendes und inniges Gefühl wie bei Stephanie. Ehrentraud nun tot zu wissen, schmerzte ihn, und ihm rannen Tränen über die Wange.

Derweil verarbeitete Gibichen die Nachricht trotz des Rausches, den er sich angetrunken hatte, auf eine kühlere Weise. Wenn Lexenthal Irmela die Schuld am Tod seiner Nichte gab, hatte sie keine Gnade von dem Mann zu erwarten. Damit war ihr Schicksal genauso besiegelt, als hätte ein Tribunal sie bereits verurteilt. Also würden sie sie, wie er es von Anfang an befürchtet hatte, mit Gewalt befreien müssen.

Mit schwerer Zunge bedankte er sich bei Lohner für dessen Hilfe und setzte hinzu: »Es würde uns freuen, wenn Er diesen Portius oder wie er heißt hierher rufen könnte. Wir sind in Geschäften hier, die wir nicht vernachlässigen dürfen.«

»Wollt Ihr mit Steglinger über neue Heereslieferungen verhandeln? Dann könntet Ihr Euch direkt bei ihm einquartieren. Er hat letztens Frau von Hochberg geheiratet und ist jetzt hochgeachteter, einflussreicher Mitbürger dieser Stadt.« Ein Hauch von Verachtung lag in Lohners Stimme, der sowohl dem Heereslieferanten wie auch der ehemaligen Offiziershure galt, vor der nun Edelleute und hohe Kirchenleute das Haupt neigten.

Fabian hatte schon vermutet, Lexenthal wäre nicht allein auf den Gedanken gekommen, Irmela sei an Ehrentrauds Tod schuld. Auch früher, schon vor dem Überfall der Schweden, hatte Johanna immer wieder behauptet, Irmela sei eine Hexe, genau wie ihre Mutter, und nun hatte sie ihr wohl Ehrentrauds Tod in die Schuhe geschoben.

Mit einem Mal sah er Lohners fragenden Blick auf sich gerichtet und schüttelte den Kopf. »Nein, danke! Wir nehmen mit dem Löwen vorlieb.« Dann sah er auf Gibichen herab. »Nun, was ist? Kannst du noch auf deinen Beinen stehen, oder bist du schon so betrunken, dass Fanny und ich dich tragen müssen?«

Sein Freund versuchte aufzustehen, doch die Beine wollten ihm nicht mehr so recht gehorchen, und er ließ sich von Fabian und Fanny stützen. »Auf zum Löwen! Hoffentlich sind die Betten genauso weich wie damals in Pilsen, Gerda!«

Gibichen zwinkerte Lohners Frau anzüglich zu und kicherte, als sie rot wurde.

Fabian lotste ihn in Richtung Tür und musste dort aufpassen, dass sein Freund nicht mit dem Kopf gegen den niedrigen Balken stieß. Wäre Fanny ihm nicht zu Hilfe geeilt, hätte er sich schwergetan, Gibichen in die Herberge zu schaffen. Unten auf der Straße fiel ihm auf, dass sie dem Arzt für seine Bemühungen noch nichts bezahlt hatten, doch als er sich umdrehte, hatte Gerda die Haustür bereits geschlossen.

Die Feuerbraut
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