X.

Irmela wusste zuletzt nicht mehr zu sagen, wie lange sie neben Stephanie gekniet und deren Hand gehalten hatte. Wie durch einen dichten Vorhang hörte sie Dionysia von Kerlings inbrünstiges Gebet, während Fanny darauf achtete, dass die Gebärende bequem lag, und dabei dem hinter dem Vorhang wartenden Abdur immer wieder Befehle zurief, die dieser ohne Zögern befolgte. Da Fanny auf heißes Wasser drängte, entzündete er auf dem primitiven Herd ein Feuer und rieb den alten, verbeulten Kessel, der darüber hing, mit Sand aus, bis er sich darin spiegeln konnte. Auch brachte er weitere Decken, damit Stephanie, die vor Kälte zitterte, sich darin einhüllen konnte.

»Manchmal ist er sogar ganz brauchbar!« Fannys Worte rissen Irmela aus ihrer Versunkenheit.

»Wer?«

»Abdur natürlich! Während die anderen Männer sich draußen im Wald verstecken, packt er an und tut, was man ihm sagt.« So ein hohes Lob hatte Irmela noch nie aus Fannys Mund vernommen. Sie war ebenfalls dankbar dafür, wie selbstverständlich Abdur sie unterstützte. Nur mit Fanny und Frau von Kerling an der Seite hätte sie sich noch hilfloser gefühlt.

Ein gellender Schrei unterbrach ihre Überlegungen. Sie sah, wie Stephanies Scham sich weitete, und warf Fanny, die sich jetzt angespannt über die Gebärende beugte, einen fragenden Blick zu.

»Kommt jetzt das Kind?«

»Nein, das ist die Fruchtblase. Aber wenn die erst einmal geplatzt ist, kann es nicht mehr lange dauern!«

Kurz darauf ergoss sich ein Schwall Flüssigkeit auf das primitive Bett, und danach begannen alle einschließlich der Gebärenden laut zu beten.

Mit einem Mal kreischte Stephanie auf. »Ich glaube, jetzt ist es so weit.«

»Haltet sie gut fest! Ich mache das schon«, rief Fanny ihrer Herrin zu und kniete sich zwischen Stephanies gespreizte Beine. Sachte nahm sie das Kind entgegen, das ihr mit einem Mal entgegenrutschte, und wickelte es in ein Tuch.

Irmela blickte mit staunenden Augen auf die Nabelschnur, die das Kleine mit der Mutter verband, und streckte dann die Hand aus, um das Kind zu berühren. Als sie das Tuch aufschlug, verzog das Kleine schmollend das Gesicht, da ihm die plötzliche Kälte nicht behagte. Der Ausdruck war Irmela von Fabian nur allzu vertraut, so dass sie gegen besseres Wissen betroffen zurückfuhr.

»Es ist Fabians Tochter!«

»Darüber bin ich froh!« Stephanies Worte zeigten, dass sie ihrem Ehemann die langen Monate im lichtlosen Kerker nicht vergessen würde. Auf Irmela wirkten sie jedoch wie ein Guss kalten Wassers, denn über der Sorge um die Gebärende hatte sie alles andere vergessen. Während sie sich die Stirn rieb und verzweifelt nachdachte, was sie jetzt tun mussten, nabelte Fanny das Kind ab und reichte es Stephanie.

»Es ist ein Mädchen. Ihr werdet der Kleinen selbst die Brust geben müssen, wenn es nicht verhungern soll, denn mit einer Amme kann ich nicht dienen.«

»Ist es gesund?« In Stephanies Stimme schwang die Angst mit, ihre Gefangenschaft könnte der Kleinen geschadet haben.

Fanny hob die Hände. »Nach meiner Ansicht ist alles dran, was dazugehört. Allerdings sollen Neugeborene schreien.« Sie wollte das Kind aufnehmen und ihm einen Klaps auf den Po geben, doch es war, als hätte die Kleine ihre Absicht bemerkt, denn sie begann zu greinen. Im selben Augenblick steckte Abdur den Kopf durch den Vorhang, zog ihn aber sofort wieder zurück. »Verzeiht, aber ich habe das Kind gehört. Ist alles gut gegangen?«

»Das ist es. Du kannst die Herren zurückholen. Ich hoffe, sie sind noch in der Lage, der Gräfin und ihrem Kind die Aufwartung zu machen. Nein, warte – sag ihnen, dass das Kind da ist, aber sie können sich Zeit lassen. Wir sind noch nicht ganz fertig.« Fanny wollte ihm nicht erklären, dass sie beinahe vergessen hätte, auf die Nachgeburt zu warten, sondern schickte ihn mit einem etwas unfreundlichen »Geh jetzt!« weg.

Stephanie blickte mit einem träumerisch weichen Blick auf ihr Kind herab. »Es ist wunderschön!«

So hätte Irmela das Kleine nicht beschrieben, denn in ihren Augen war das Kleine arg runzelig und rot, doch da sie die erleichterte Mutter nicht betrüben wollte, stimmte sie ihr zu. »Es ist wirklich wunderschön.«

Jetzt kam auch Dionysia von Kerling heran und betrachtete das kleine Mädchen mit leuchtenden Augen. Fanny ergriff vorsichtig eines der winzigen Händchen und machte dabei Geräusche, als wolle sie Küken an sich locken. Auch Irmela ertappte sich dabei, wie sie der Kleinen sinnlose Laute zuflüsterte. Das Neugeborene ließ sich die Bewunderung eine Weile gefallen, dann aber tat es mit lauter Stimme kund, dass es hungrig sei.

Während Stephanie die Kleine an die Brust hob und das Mündchen sofort zuschnappte, ging die Nachgeburt ab. Fanny fing sie in einer halbzerbrochenen Schüssel auf und ging hinaus, um sie im Wald zu vergraben. Irmela wusch Stephanie vorsichtig mit dem Rest des warmen Wassers ab und half ihr, als die Kleine gesättigt war, in Fannys Ersatzkleid, das als einziges groß genug für sie war. Die stinkenden Lumpen aus dem Kerker wollte sie ihr nicht mehr anziehen, denn sie fürchtete, dass Mutter und Kind allein von der Berührung mit ihnen krank werden würden.

Als Abdur mit den drei Herren im Gefolge erschien, zog Irmela den Vorhang ein wenig beiseite. Heimsburg und Gibichen blieben davor stehen und beglückwünschten Stephanie artig, Fabian aber eilte auf sie zu und kniete neben ihr nieder. Dabei starrte er sie und das Kind mit so großen Augen an, als würde er Zeuge eines Wunders.

Irmela kniff die Lippen zusammen. Es war offensichtlich, dass Fabian Stephanie noch immer liebte, und die Gräfin schien diese Liebe zu erwidern. Mehr über sich selbst und ihre Gefühle verärgert, drehte sie sich zu Gibichen um. »Ist das nicht ein schönes Bild? Es erinnert ein wenig an die Heilige Familie im Stall zu Bethlehem!«

»Solange Ihr von mir nicht fordert, den Ochsen oder den Esel zu spielen, soll es mir recht sein«, antwortete dieser belustigt.

»Ochse? Ich glaube, für die Rolle wäret Ihr der Richtige!« Irmela wusste nicht, weshalb sie so scharf reagierte, denn ohne Gibichens Hilfe wäre es ihr niemals gelungen, Fabian und Stephanie zu befreien. Sie wollte ihn schon um Entschuldigung bitten, als er mit ernstem Gesicht auf Stephanie zutrat.

»Frau Gräfin, ich muss Euch mitteilen, dass Ihr Euch von diesem Tag an Witwe nennen müsst.«

Während Stephanie ihn nur mit weit aufgerissenen Augen ansah, schnellte Irmela herum. »Harlau ist tot? Habt Ihr ihn umgebracht?«

Gibichen schüttelte den Kopf. »Es war Paul. Er hat Harlau erschossen und uns dessen Leute durch seine Flucht vom Hals geschafft.«

»Gott sei ihm und seiner Seele gnädig!« Irmela schlug das Kreuz und begriff, dass sich die Situation geändert hatte. »Heißt das, wir haben keine Verfolger mehr zu fürchten?«

»Zumindest können wir unseren weiteren Weg in Ruhe planen.« Während Gibichen noch überlegte, wohin sie sich wenden konnten, breitete sich ein entschlossenes Lächeln auf Irmelas Gesicht aus. »Ich schlage vor, wir begeben uns zu Frau Meinarda nach Rain. Sie wird uns ihre Hilfe gewiss nicht versagen!«

»Vor allem müssen wir nicht weit fahren«, stimmte Fanny ihr zu.

»Nach Passau wäre es doch ein arg langer Weg.«

Die Feuerbraut
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