XII.

Wendelin Portius musste sofort aufgebrochen sein, nachdem ihn die Nachricht erreicht hatte, denn er erschien bereits am nächsten Tag. Als der Wirtsknecht ihn in die Kammer führte, die Fabian mit Gibichen und Abdur teilte, wirkte Lohners Kollege wie ein Mann, der eine Keule über sich schweben sieht, die jeden Augenblick auf ihn herunterfahren kann. Er blieb auf der Schwelle stehen und starrte Fabian so durchdringend an, als müsse er sich versichern, den richtigen Mann gefunden zu haben. Dabei schob er einen fast armlangen Gegenstand, den er in ein schmutziges Tuch gehüllt hatte, wie einen Schild vor sich her.

»Der Jungfrau im Himmel sei Dank! Ihr seid es wirklich, Birkenfels. Beinahe hatte ich schon angenommen, mein Freund Lohner hätte sich geirrt, weil ich Euch nur als Jüngling im Gedächtnis habe.« Portius trat ein, setzte seine Last ab und schlug vor Erleichterung das Kreuz. Dann verbeugte er sich linkisch.

»Endlich vermag ich das Vermächtnis zu erfüllen, das mir das unglücklichste Wesen auf dieser Welt übertragen hat.« In dem Augenblick stand Ehrentrauds schreckliches Ende wieder vor seinem inneren Auge, und ihm rannen Tränen über das Gesicht. Mit einem Aufschluchzen bat er Fabian, ihm seine Erschütterung zu verzeihen.

Dieser runzelte die Stirn. »Rede Er so, dass ich Ihn verstehe. Wem hat Er etwas versprochen, und was hat das mit mir zu tun?«

»Ich komme von Jungfer Ehrentraud von Lexenthal. Sie muss geahnt haben, dass sie sterben würde, und bat mich, im Fall ihres Ablebens Euch diese Truhe zu überbringen.« Portius begann erneut zu weinen und reizte Fabians angespannte Nerven bis zum Äußersten. Bevor er etwas sagen konnte, legte Gibichen ihm den Arm um die Schulter.

»Lass den Mann reden, wie er will. Immerhin geht es um jene Frau, die ihr Onkel rächen will.«

»Wenn der Prior Fräulein Ehrentraud wirklich rächen wollte, hätte er das Otternnest ausräuchern müssen, in dem sie umgekommen ist. Doch er lebt in Freundschaft mit jenen, die an ihrem Tod schuld sind, und unterstützt sie in jeder Weise!« Die Erregung hatte Portius dazu gebracht, mehr zu sagen, als er eigentlich gewollt hatte, und nun wand er sich wie ein getretener Wurm.

»Wer hat Ehrentraud etwas angetan?« Fabian sah aus, als wolle er über den kleinen, stark abgemagerten Mann herfallen und die Wahrheit aus ihm herausprügeln.

Wieder hielt Gibichen ihn zurück. »Sieh dir doch erst einmal die Truhe an. Vielleicht lüftet sie das Geheimnis.«

Portius atmete auf und versuchte sich unauffällig auf die Tür zuzuschieben, doch Abdur vertrat ihm auf Gibichens Wink hin den Weg.

»Er mag verzeihen, doch wir würden Ihn gerne noch ein wenig als Gast behalten. Ruf Fanny, Abdur. Sie soll dem Herrn Doktor Portius einen Krug Wein bringen und dazu Brot und Braten. Nach seinem langen Marsch dürfte er hungrig sein.«

Portius wurde klar, das Gibichen zwar weniger impulsiv reagierte als Fabian, aber auf seine Art durchsetzungsfähiger und wohl auch härter war. Daher setzte er sich zitternd auf den Stuhl, zu dem Abdur ihn schob.

»Doktor und Arzt, das war ich einmal. Jetzt vermag ich nicht einmal mehr einen Becher ruhig zu halten.« Er hob die Hände, und man konnte sehen, dass seine Finger wie Espenlaub zitterten.

Gibichen zuckte mit den Achseln und sah Fabian auffordernd an. »Mach die Truhe auf!«

Fabian riss den Schlüssel von der Schnur, an der er befestigt war, schloss auf und hob den Deckel. Verwirrt nahm er einen in Silber gefassten Spiegel, einen Perlmuttkamm und ein paar andere, der weiblichen Schönheitspflege dienende Gegenstände heraus. In einem abgetrennten Fach entdeckte er schließlich Schreibfedern, Sand zum Trocknen und ein silbernes Tintenfass.

Fabian schüttelte den Kopf. »Kannst du mir sagen, was das zu bedeuten hat?«

Sein Freund zuckte mit den Achseln. »Vielleicht handelt es sich um ein Liebespfand, dass die Jungfer dir hat zukommen lassen wollen.«

Fanny stülpte die Lippen vor, und Portius nickte nachdenklich. Der Arzt musste an jenen Winter in den Waldbergen denken, in dem Fabian jeder Frau in dem Gutshof mehr oder weniger den Hof gemacht und so ausgesehen hatte, als wolle er mit allen unter die Decken schlüpfen, mit Ausnahme der Stiefenkelin der Hausherrin. Der Fabian, der jetzt vor ihm stand, hatte mit dem leichtfertigen, von sich eingenommenen Jüngling nicht mehr viel gemein, sondern wirkte über seine Jahre hinaus reif und ernst.

»Ich weiß leider nicht, was es mit diesem Geschenk auf sich hat. Das Fräulein hat es mir an dem Tag übergeben, an dem …« Portius brach ab, um nicht zu viel zu verraten, doch es war zu spät.

»An was für einem Tag?« Fabian trat drohend auf den Arzt zu. Doch ehe er handgreiflich werden konnte, begann Fanny in der Truhe zu kramen. »Zu was wären Feder und Tinte nützlich, wenn nicht, um zu schreiben? Also könnte sich ein Brief hier drinnen verbergen.«

Fabian nahm ihr den Kasten ab und schüttete den restlichen Inhalt auf sein Bett. Doch er fand keinen Fetzen Papier darin und schlug sie verärgert zu.

Der Knall ließ Gibichen auffahren. »Sieh dir den Deckel näher an. Er scheint mir schwerer zu sein, als es nötig wäre.«

»Zumindest ist er ungewöhnlich dick!« Fabian öffnete und schloss die Truhe ein paarmal, konnte aber nichts Bemerkenswertes feststellen. Daher ließ er sich von Abdur seinen Dolch reichen und versuchte, den Deckel von innen aufzubrechen. Das dünne Holz gab schnell nach, und es fiel ein in Leder gebundenes Büchlein heraus. Mit bebenden Fingern schlug Fabian es auf und begann zu lesen.

Gibichen stand auf, stellte sich hinter seinen Freund und hielt dessen Hand fest, als er zu schnell umblättern wollte. Beide sagten kein Wort, doch ihre Gesichter wurden immer starrer. Als die letzte beschriebene Seite erreicht war, fluchte Gibichen leise, aber ausgiebig vor sich hin.

Unvermittelt trat er auf Portius zu und packte ihn am Kragen. »Er wird uns einiges zu erklären haben!«

Der Arzt hob wimmernd die Arme. »Ich bin unschuldig und habe nichts damit zu tun. Bitte lasst mich gehen!«

Gibichen stieß ihn Abdur in die Arme. »Pass gut auf ihn auf. Er vermag der Schlüssel zu sein, den wir so dringend brauchen.«

»Was meinst du damit?« Fabian starrte ihn verdattert an.

»Bei Gott, bist du wirklich so dumm? Lexenthal will Irmela vernichten, weil er sie für die Schuldige am Tod seiner Nichte hält. Ehrentrauds eigene Aufzeichnungen aber beweisen, dass sie durch Helene von Hochbergs Machenschaften und die ihrer Tochter umgekommen ist!« Er hielt Fabian das Buch mit einer wütenden Geste unter die Nase. »Hier steht sogar, wie sehr sie es bedauert, nicht Irmelas Freundschaft gesucht zu haben. Wenn Lexenthal das liest, muss er Irmela freilassen.«

Erschrocken fuhr Fabian auf. »Du willst das Geschreibsel hier Lexenthal ausliefern? Mit all dem Schmutz, der hier verzeichnet steht? Das würde Ehrentrauds Andenken schänden.«

Gibichen schenkte ihm einen vernichtenden Blick. »Du hast wohl Angst vor ihm, wenn er erfährt, dass du seiner Nichte zwischen die Beine gestiegen bist? Bei Gott, es geht um Irmelas Leben!«

»Angst? Nein! Aber das, was da steht, ist entsetzlich.« Fabian stieß das Buch, dem Ehrentraud sich anvertraut hatte, mit einer Geste höchsten Abscheus zurück.

»Das dürfte noch nicht ganz so schlimm sein wie das, was in Helene von Hochbergs Haus geschehen ist«, sagte Portius in der Hoffnung, sein Wissen mit jemand teilen zu können, der ihn verstand und ihn nicht auch vor den Hexenrichter schleppte. Bis zu diesem Tag hatte er es nicht einmal gewagt, seine Erlebnisse einem Priester in der Beichte anzuvertrauen. Nun aber brachen die Barrieren in seinem Innern, und die Worte quollen wie ein unaufhaltsamer Strom über seine Lippen.

Fabian, Gibichen und Abdur hörten ihm mit ungläubigen Mienen zu, Fanny aber würgte es. »Bei der Jungfrau im Himmel! Meine Herrin verfolgt er als Hexe, und dieses Gesindel lässt er in Frieden. Lexenthal muss verrückt sein!«

Gibichen schüttelte nachdenklich den Kopf. »Das glaube ich nicht. Ich nehme eher an, dass er nichts von dem ahnt, was wirklich geschehen ist. Deshalb ist es in meinen Augen so wichtig, ihm dieses Buch zu überreichen.«

»Und was ist, wenn er unseren Worten und den Aufzeichnungen seiner Nichte keinen Glauben schenkt und uns ebenso wie Irmela gefangen setzt?«, fragte Fabian gereizt.

Sein Freund ließ sich jedoch nicht beirren, sondern spielte nachdenklich mit der Schreibfeder und befahl Abdur, ihm Papier zu besorgen.

»Wir werden die wichtigsten Stellen von Ehrentrauds Tagebuch abschreiben und ihre Echtheit mit unserer Unterschrift bekunden. Wenn Lexenthal sich nicht überzeugen lässt, sollen Abdur und Fanny diese Abschriften aus der Stadt bringen und dafür sorgen, dass sie in die Hände des Herzogs von Pfalz-Neuburg gelangen. Wolfgang Wilhelm wird dafür Sorge tragen, dass Irmela und uns nichts geschieht.«

»Und wenn er es nicht tut oder zu spät eingreift, was dann?«, bohrte Fabian nach.

»Dann sterben wir in der Gewissheit, dass jene, die an unserem Elend schuld sind, uns bald folgen werden.« Gibichen zeigte deutlich, dass er diesen Weg als den allein erfolgversprechenden ansah.

Fabian war davon überzeugt, dass Kirchenmänner wie Lexenthal nicht bereit wären, einen Irrtum einzugestehen, und plädierte für eine gewaltsame Befreiung. Da Gibichen jedoch stur blieb, gab er schließlich nach. »Also gut! Ich bin dabei. Doch wenn es schiefgeht, ist es deine Schuld!«

»Und mein Verdienst, wenn wir siegen!« Für ein paar Augenblicke maßen Gibichen und Fabian sich wie Feinde, dann huschte der Anflug eines Lächelns über ihre Gesichter.

Fabian hieb mit der geballten Faust in die offene Hand. »Hol es der Teufel! Wenigstens werden wir dabei sein, wenn Lexenthal liest, zu welchen Verirrungen seine Nichte sich hat hinreißen lassen.«

»Verirrungen, an denen du nicht ganz unschuldig gewesen bist!«, antwortete Gibichen bissig.

Fabian breitete ergeben die Hände aus und zeigte dann auf Portius. »Er wird mit uns kommen und dem Prior berichten, wie Jungfer Ehrentraud starb.«

Der ehemalige Arzt sah so aus, als wolle er schreiend davonlaufen, duckte sich aber unter Fabians erhobener Faust und senkte den Kopf. »Ich komme mit Euch.«

Bei diesen Worten schien eine schwere Last von seiner Seele zu fallen.

Die Feuerbraut
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