Kapitel 57
Nacht
Nie, nicht einmal in den Nächten am Bahnhof von Southampton hatte Chastity so gefroren. Ihre Zähne schlugen aufeinander, dass sie fürchten musste, sie könnten splittern. Zweimal war Charles gegangen, um ihr eine Decke zu holen, die er ihr wie damals um die Schultern schlang. »Dir wird nicht wärmer«, bemerkte er. Sein eigenes Gesicht sah aus wie überfroren, und seine Lippen waren blau und bebten. »Lass uns nach drinnen gehen. Eine der Bars ist sicher noch geöffnet.«
Aber Chastity wollte nicht in eine Bar. Sie wollte nirgendwohin, wo Menschen waren, wo irgendetwas war – mehr als tiefes Dunkel und klirrende Kälte, mehr als Sterne, die wie Eiszapfen funkelten, und stilles Rauschen, mit dem das Schiff das Meer durchschnitt. Mehr als Charles. Diese kälteste Nacht ihres Lebens, die schönste und schlimmste Nacht, gehörte ihnen. Diese einzige Nacht.
Sie hatte ihn wiedergefunden. Und einen Atemzug später hatte sie ihn wieder verloren, und diesmal so endgültig, wie nicht einmal sein Tod gewesen war. Sein Tod gehörte zu den vielen Lügen, diese aber aufgebracht von ihm selbst. »Ich habe Charles Ralph nicht mehr ertragen«, sagte er. »Also habe ich ihn umgebracht und aus seiner Leiche Harry Matthew gemacht.«
Es war das erste Mal, das Chastity dem Schrecken zum Trotz lachen musste. »Du bringst niemanden um«, hatte sie gesagt. »Nicht einmal die Fliege in unserem Zimmer, die uns vom Schlafen abhielt.«
Und ihre Mutter hatte auch niemanden umgebracht, was immer der Sohn der Pechmarie, Onkel Hector, erzählt hatte. Ihre Mutter liebte sie. Sie hatte ihr ihren Mann und ihr Kind weggenommen, um sie zu schützen – weil der Mann ihr Bruder war und es auf der Welt keinen Ort gab, an dem sie miteinander hätten leben können.
Auf der Welt keinen Ort. Auch jetzt nicht. Nicht einmal in der neuen Welt durften Schwester und Bruder, die ein Kind gezeugt hatten, beieinanderbleiben. Nur die kristallklare Nacht hatten sie, ihre Kälte und ihren Zauber. Chastity schmiegte sich an Charles, als wäre die Nacht ihre Ewigkeit. Er verstand sie sofort. »Ich werde dich immer lieben«, sagte er.
»Und ich dich. Egal, was aus uns wird.«
Aus ihnen wurde gar nichts. Aber sie besaßen noch einmal eine Nacht.
Auch von dem Kind würde sie sich trennen müssen, von ihrer geliebten Tochter, die in der Kabine lag und niemanden sehen wollte – starr vor Entsetzen über die Erkenntnis, ein Kind des Inzests zu sein. Sie durfte ja kein Kind des Inzests bleiben, nicht ihre Selene, die so klug und begabt war und der die Welt offenstand. In New York würde sie, Chastity, sie zu Phoebe bringen müssen, sie würde einmal etwas tun, das erwachsen war. »Phoebe«, würde sie sagen, »ich bringe dir mein Mädchen, das einen großen Schrecken erlitten hat. Bitte sorge für sie, bis sie stark genug ist, um heim zu ihrer Familie zu fahren.« Was danach mit ihr geschah, spielte keine Rolle. Nur auf dieses Ziel würde sie sich konzentrieren müssen.
Später. Wenn die Nacht vorbei war. Diese Nacht auf dem leeren Bootsdeck gehörte ihr und Charles. Er küsste sie, seine Lippen wie in einem Pelz aus Eis. Aus der Klarheit tauchte das Schiff in taumelnde Nebel. Sie hüllten Chastity und Charles, die einander küssten, ein. Chastity. Sie hatte es ihm gesagt, obwohl er es schon wusste. »Ich heiße nicht Amelia, Liebster. Bitte sag zu mir Chastity.«
Er allein hatte alles gewusst. Mildred und sein Vater hatten es ihm gesagt, damit er wie ein Rasender floh, ohne ihr ein Wort zum Abschied zu lassen. Außer den beiden wusste es nur Esther, die ihr kleines Mädchen zu sich genommen und in Liebe aufgezogen hatte, obwohl ihr klar war, welche Schande an ihr haftete. Sie würde sie weiter lieben. Vor der Welt würde Selene Esther Ternans Tochter bleiben und in Sicherheit sein.
Danke, Mutter. Danke, dass du mein Mädchen beschützt hast. Wenn sie in New York waren, würde Chastity ihrer Mutter schreiben.
Die Nebel strichen über ihre Wangen, und dahinter lachte Charles’ Gesicht ihr voll Liebe entgegen. Was für ein Geschenk war es, dass sie diese Nacht auf dem Meer verbrachten, wo es vor und hinter ihnen nichts gab. Nur sie beide unter dem Himmel. Von der Erde weit fort. Dass die Kälte jäh anschwoll, eine Kälte, die sich ihr wie mit tausend Nadeln ins Fleisch grub, machte ihr nichts aus. Es war keine gewöhnliche Kälte, sondern die Kälte des Weltendes, und genauso fühlte sie sich – am Ende angekommen. In Charles’ Armen. Am Ziel.
Ein gewaltiger Ruck erschütterte das Schiff und warf Charles und Chastity zu Boden. Sie stieß sich die Schulter, und gleich darauf traf ein Geschütz sie am Kopf, aber diesmal hatte sie keinen Augenblick lang Angst. Sie hatte das alles ja schon einmal im Hafenbecken von Southampton erlebt und wusste, dass sie sicher und geborgen wie ein Säugling war. »Hast du dich verletzt, mein Liebster?«, fragte sie ihn zärtlich. »Du musst keine Angst haben. Wir sind doch unsinkbar!«
Charles setzte sich auf und nahm das Geschoss in die Hände. Erst jetzt sah sie, dass die Planken um sie mit unzähligen kleineren Geschossen übersät waren. Sie glitzerten, als wäre über ihnen ein Stern zerbrochen. Charles ließ das große Geschoss fallen, als hätte es ihm die Hände verbrannt. Chastity streckte die Hand danach aus und verbrannte sich ebenfalls. Es war Eis.
Ihre Hände umfassten einander, während sie aufstanden und über die Reling hinweg nach der riesigen Masse blickten, die im Nebel hinter ihnen verschwand. »Was war das, Liebster?«
»Ich bin nicht sicher. Wie es aussieht, haben wir einen Eisberg gerammt.«
»Aber Eis ist nicht so fest wie wir, oder? Es schmilzt ja.«
»Nein«, sagte Charles, dessen schlanke, zärtliche Hände geholfen hatten, das Schiff zu bauen, »Eis ist nicht so fest wie wir.«
Zu diesem Zeitpunkt waren von der Nacht, die ihnen allein gehörte, nur noch wenige Herzschläge übrig. Sie hätten sich noch etwas sagen können, selbst in ein paar Herzschlägen lässt sich vieles sagen, aber es gab ja nichts, das etwas geändert hätte. Stattdessen gaben sie einander noch einen Kuss. Gleich darauf brach auf dem Deck zwischen den Rettungsbooten die Hölle los.
»Sie müssen aufstehen, Miss! Sie müssen jetzt wirklich aufstehen!«
Durch Schwaden von Benommenheit drang das dröhnende Klappern, mit dem jemand an Selenes Kabinentür rüttelte. Sie hatte Wein getrunken, bis sie sich erbrechen musste, und zwei von den Tabletten geschluckt, die Harry ihr gegeben hatte. Harry. Charles. Zugleich ihr Vater und ihr Onkel. Wein und Tabletten halfen nichts, trotz der pochenden Schmerzen, die an ihre Schläfen hämmerten – es war mit einem Schlag alles wieder da.
Das Gerüttel ging weiter, wie Hammerschläge gegen ihren Schädel. »Anordnung vom Kapitän, Miss. So öffnen Sie doch!«
Selene würde nicht öffnen, wer immer dort draußen war und etwas angeordnet hatte, wer immer noch mehr Wahn in die Ruine ihres Lebens tragen wollte. Was immer es noch geben konnte, es würde sie nicht berühren. Sie war unberührbar geworden – strikt wie ihr Schiff glitt sie in einem Meer aus Wahn voran. Ich bin das Kind eines Inzests. Wer kann mir noch etwas anhaben?
Schritte hallten über den Gang, und einen Moment lang hatte Selene das Gefühl, im Bett nach unten zu rutschen. Dann wurde das Rütteln unterbrochen, und der Mann, der draußen den Lärm verursachte, sprach zu jemandem, der offenbar herbeigeeilt war. »Ihre Tochter muss nach oben, Madam. Aber sie macht nicht auf!« Erst jetzt erkannte sie die Stimme des aufdringlichen Stewards.
Gleich darauf drehte sich der Schlüssel im Schloss. Licht aus dem Gang fiel in den Raum – das ewig brennende, üppige Licht, das der prächtigen Elektrizität des Schiffs zu danken war. In dem Viereck aus Licht stand Chastity. Ihre Tante. Ihre Mutter. Das ewig flüsternde, ewig verschüchterte Geschöpf schrie sie an: »Steh auf, Selene! Steh um des Himmels willen auf!«
Sie stürmte zum Schrank, riss ihn auf und zog etwas heraus. Als sie damit vor dem Bett auftauchte, erkannte Selene die Schwimmweste mit dem Schriftzug der White Star Line. Wie von selbst glitt sie vom Bett, stolperte und bemerkte jetzt endgültig, was ihr vorhin wie eine Einbildung erschienen war – das Schiff lag nicht mehr gerade im Wasser. Das Pochen an ihren Schläfen verstärkte sich. »Was ist denn los? Ich will nur schlafen, sonst nichts.«
Chastity war bereits dabei, ihr ein Kleidungsstück und anschließend die sperrige Weste über den Kopf zu streifen. Durch den Gang dröhnten Schreie und Gepolter von Schritten. »Das Schiff hat einen Eisberg gerammt. Es sinkt«, antwortete Chastity. »Sag nichts, mein Mädchen. Die genialen Schotten, von denen du mir erzählt hast, haben perfekt funktioniert, aber das Leck ist zu groß. Mit fünf Kammern voll Wasser kann das Schiff nicht mehr schwimmen.« Über ihr Gesicht rannen Tränen, als wäre es ihr Schiff gewesen, ihr verrückter, größenwahnsinniger Traum. »Denk nicht nach, komm nur nach oben. Es sind ja schon Boote zu Wasser gelassen, und jemand hat gesagt, die Plätze reichen nicht für alle …«
Die Rettungsboote! An deren Zahl gespart worden war, um Platz zum Vergnügen zu schaffen, weil man schließlich auf einem unsinkbaren Schiff keine Rettungsboote brauchte. Selene wusste nicht, warum sie Chastity folgte. Etwas in ihr wollte in der Kabine bleiben, sich wieder ins Bett legen, von nichts mehr wissen. »Du musst doch leben!«, schrie ihre Mutter sie an. »Du musst von alledem doch übrig bleiben!« Als sie über den Gang liefen, hatten sie bereits gegen Steigung zu kämpfen, und aus einer Tür strömte ihnen eisiges Wasser entgegen.
Vor dem Ausgang zum Foyer des Bootsdecks drängten sich die Menschen so dicht, dass Selene umkehren wollte. »Es hat keinen Sinn!«, schrie sie, aber Chastity stieß sie in den Rücken, und drei Schritte weiter wartete Harry. Er streckte ihr die Hand entgegen, umfasste ihr Gelenk und zerrte sie durch die Menge. »Kommt, meine beiden«, lockte er sie. »Sie bereiten Rettungsboot C zum Fieren vor, darin gibt es für euch Platz.«
Die Nacht war glasklar und trotz aller Panik wie zu Eis erstarrt. Nie im Leben hatte Selene größere Kälte erlebt. Sie erfasste die Situation in Windeseile – es gab nicht genug Plätze für alle. Von den Passagieren der ersten Klasse war jetzt, da man die zweite hinausließ, bereits ein großer Teil verfrachtet. »Nur Frauen und Kinder!«, brüllten die Offiziere, die sich vor den Booten aufbauten. »Männer zurück, nur Frauen und Kinder in die Boote.« Mit blinkenden Pistolenläufen versuchten sie die wabernde Masse, die um ihr Leben kämpfte, zurückzudrängen. Von den Frauen und Kindern der dritten Klasse war noch niemand an Deck.
Was bedeutete es, dass ihr Zauberschiff sank? Versank ihre Zeit mit allem, an das sie geglaubt hatte? War es nicht längst versunken? Im Foyer des Bootsdecks standen die Mitglieder des Schiffsorchesters und spielten einen Walzer.
»Unausgesprochene Liebe, ungebrochene Treue,
Ein ganzes Leben hindurch.«
Selene hätte nicht weitergehen können, und vermutlich verließ auch Chastity die Kraft, aber Harry war da und zog sie durch die Menge. »Hier, meine Frau und meine Tochter«, rief er dem Offizier zu, der zuvorderst an dem auffaltbaren Rettungsboot stand. »Die beiden kommen noch mit.«
»Zurück, Mann.« Der Offizier stieß Harry seine Pistole in den Leib. »Das Boot ist voll.«
»Ist es nicht!«, rief Harry. »Dort hinten sind noch zwei Plätze, die sind für meine Familie.«
Was soll der Aufwand, dachte Selene, die einen Blick über die Reling in die bodenlose Schwärze erhaschte. Wir sterben sowieso.
»John, John!«, hörte sie Chastity rufen. »Bitte helfen Sie uns. Man will uns die Plätze im Boot nicht geben!«
Jetzt erkannte Selene, wer John war – der Steward, der vor ihnen das Boot erreicht haben musste. Er stand am Bug und wies die Passagiere an, ruhig zu sitzen und Kinder festzuhalten. Auf Chastitys Ruf hin wandte er den Kopf. »Aber ja, Mrs Weaver, ich habe Ihnen Ihre Plätze freigehalten.«
Wieder spielte sich alles im Handumdrehen und wie ohne Selenes Zutun ab. Hände wurden ihr gereicht, Harry stemmte sie von hinten, und der Steward zog von vorn, so dass ihr nichts übrigblieb, als über die Wand ins Boot zu steigen. Geschrei und Gewimmel entstand, als Passagiere zur Seite kippten, weil andere von ihren Plätzen aufgestanden waren, dann drückte jemand Selene auf einen Sitz.
»Rettungsboot D fertig zum Fieren«, brüllte der Offizier.
Selene hatte in die Schwärze gestarrt, der sie entgegensinken würde, und nichts als die Kälte gespürt, vor der der Kork der Weste keinen Schutz bot, doch der Ruf brachte sie zu sich. »Meine Mutter!«, schrie sie. »Meine Mutter muss noch mit!«
»Selene!« Eine Stimme wie ein Lachen. Die elektrische Winde begann zu knirschen, und das Boot setzte sich in Bewegung. Sie blickte auf und entdeckte die beiden Köpfe über der Reling, dicht beieinander, ein Lächeln auf beiden Gesichtern. Wie ähnlich sie sich sahen. Und wie ähnlich sie beide ihr sahen. Sie würden nichts mehr sagen, denn alles, was es zu sagen gab, passte nicht in den schon verstrichenen Augenblick.
»Mutter!«, rief Selene und streckte die Hände aus.
Ihre Mutter schüttelte den Kopf. Aber dann sagte sie doch noch etwas. »Lass meine Mutter wissen, dass ich sie liebe, ja? Dass ich verstanden habe, was sie getan hat.«
Selene konnte nicht einmal nicken. An der glatten schwarzen Schiffswand, vor der sie mit ihrem Vater auf dem Gerüst gestanden hatte, glitt das Boot in die Tiefe. Als es die Oberfläche des Meeres traf, schwappte Wasser auf, und die Kälte raubte ihr den Atem. Sofort begann der Steward die Leute an den Rudern zu kommandieren. Sie mussten auf dem schnellsten Weg aus der Reichweite des sinkenden Schiffs, damit der ungeheure Sog sie nicht mit sich auf den Grund riss.
Steif blickte Selene auf. Erst jetzt sah sie, was mit dem Schiff geschah. Sein gesamter Bug hing schon im Wasser, während das Heck mit dem hinteren Mast schräg hinauf in die Nacht ragte. Noch immer, wie ein trotziger Protest gegen das Unfassliche, brannte aus den Fenstern das elektrische Licht, die Fanfare der neuen Zeit. Während das Boot zwischen Eisschollen davontrieb, wurde es trüber und trüber. Dann verlosch es, und die Nacht wurde schwarz. Kein Gefühl war mehr übrig als die Kälte.