Kapitel 36

Southsea bei Portsmouth, früher süßer Sommer

Sein Vater besaß mehrere Wagen und Pferde, die Horatio jederzeit hätte nutzen können, aber er kutschierte nicht gern. Im Mai des Jahres 1883 kaufte er einen schönen stämmigen Grauschimmel und lud Lydia ein, mit ihm aus der Stadt hinauszureiten und die herrlichen Tage auszukosten.

Lydia war nie zuvor geritten, sie fand Pferde furchteinflößend. Horatio half ihr, sich vor ihn auf den Rücken des Grauschimmels zu setzen, und als sie aufschrie, weil sie fürchtete, abzurutschen, lachte er und sagte, sie kämpfe für die Gleichberechtigung der Frau, also solle sie sich gefälligst das Recht herausnehmen, zu Pferd zu sitzen wie ein Mann.

Sie schalt ihn aus. Dass er leichtfertig Witze über einen Kampf riss, für den eben erst eine Frau gestorben war, wollte sie ihm nicht erlauben, und außerdem war es dekadent, so viel Geld für ein Pferd auszugeben. Aber die Tage, an denen sie schließlich hintereinander auf dem Pferd aus der Stadt zockelten, waren süß und unwiederbringlich, und so sehr Lydia sich sträubte, in ihrem Herzen bewahrte sie jedes Bild, jedes Flüstern und jeden Geruch.

Sie ritten an der Garnisonskirche und an der Ruine aus der Zeit der Tudor-Könige vorbei, ließen die quirligen Strände, an denen sich erste Badegäste tummelten, hinter sich und tauchten in den Wald ein, wo Mücken die Luft zum Sirren brachten und Kuckucke die Stunden zählten. Farne und Fichtenzweige filterten das Gleißen der Sonne, und auf einer Lichtung machten sie Rast. Horatio knotete den Zügel des Pferds an einen Baumstumpf, während Lydia sich rücklings ins lange feuchte Gras legte, und als er fertig war, kniete er nieder und bettete ihren Kopf in seinen Schoß. Sie hätte es ihm verbieten sollen, aber die köstliche Schwere, die über sie kam, überwältigte sie.

»Was möchte dein Mund am liebsten?«, fragte er und spielte mit ihrem Haar. »Einen Becher roten Wein, ein Stück zerschmolzenes Konfekt oder einen Kuss?«

»Erst den Wein«, antwortete sie. »Dann vielleicht das Konfekt.«

»Schade«, bekannte er, und sein Bedauern zupfte ihr am Herzen.

Er hob ihr Kinn und träufelte den Wein, der sämig und zu warm war, aus einem Zinnbecher zwischen ihre Lippen. Sie musste lachen, weil er so sorgfältig jeden Tropfen, der ihr den Hals hinabrann, abtupfte. Als der fingerhohe Becher leer war, schob er die weiche Schokolade hinterdrein, sie murmelte »Mehr«, und er schenkte den Becher wieder voll.

Sie hatte schlimme Tage hinter sich. Gegen die schändlichen Parlamentserlasse, die es Polizisten in Hafenstädten erlaubten, Prostituierte festzunehmen und in Spitäler für Geschlechtskranke zu sperren, waren sie auf die Straße gegangen und von Polizeieinheiten eingekesselt worden. Mit Schlagstöcken hatten die Männer Demonstrantinnen niedergeknüppelt, und eine der Frauen, Harriet, die ihren sechzig Jahre alten Körper noch immer feilbieten musste, war dabei gestorben. Lydia trug eine Beule an der Schläfe und die erschütternde Erfahrung davon, von anderen Menschen geschlagen zu werden. Sie hatte sich nie in ihrem Leben so gedemütigt gefühlt.

Mit fünfzehn anderen wurde sie in eine nach Urin stinkende Zelle gesperrt. Eine Frau geriet, nachdem die Eisentür sich schloss, in Panik, warf sich zu Boden und krümmte sich wimmernd die endlose Nacht hindurch. Am Morgen war Horatio mit Geld und einem Anwalt gekommen, aber die Nacht in der Zelle konnte Lydia nicht vergessen. Sie hörte noch immer ihre Mutter im Schlaf vor Angst um sie weinen, während sie selbst sich von einer Seite auf die andere wälzte und vergeblich gegen das Gefühl der Ohnmacht kämpfte.

Es erschien ihr falsch, auf dem Schoß dieses vom Leben verhätschelten Adonis in der Sonne zu liegen und sich mit Wein und Pralinen füttern zu lassen, nachdem sie am eigenen Leib erfahren hatte, was Männer Frauen antaten. Etwas in ihr mahnte, sie müsse den Mann, der sie mit seiner Zärtlichkeit einlullte, als Feind betrachten, aber etwas anderes brachte es nicht fertig. Horatio schüttete ihr den letzten Tropfen in den Mund, rollte eine Strähne ihres Haars um seine Finger und saß lange mit ihr still. Um sie sang und zirpte das verlockende Lied des Sommers und verhieß ihr Geschenke, die sich beim nächsten Regen in Luft auflösen würden.

»Lydia?«, fragte er irgendwann. Ihren Namen sprach er noch immer aus wie am ersten Tag, als er ihr gesagt hatte, der Name passe zu ihr. »Bist du ganz sicher, dass du keinen Kuss willst?«

»Hör damit auf«, fuhr sie ihn an, weil sie ganz sicher war, dass sie einen wollte – seine Lippen auf ihren, die nass vom Wein waren, seinen Atem kitzelnd auf ihrer Haut. »Warum kannst du mir nicht einfach meinen Frieden lassen? Was willst du von mir?«

»Soll ich darauf antworten?«, fragte er zurück.

»Spiel nicht den Einfaltspinsel. Warum hätte ich sonst gefragt?«

Er ließ ihr Haar los. »Ich will dich heiraten«, sagte er.

Mit einem Ruck setzte sie sich auf. »Bist du verrückt? Ich heirate nicht, und wenn doch, dann gewiss nicht dich.«

»Wen dann? Sag mir, wer der Kerl ist, und ich bringe ihn um.«

Sie hob den Kopf und beging einen Fehler. Sie hätte alles tun, aber nicht ihn ansehen dürfen. Er kniete vor ihr im Gras, hatte Rock und Weste beiseitegeworfen und das Hemd am Kragen geöffnet. Der Wind hob sein Haar, sein Lächeln verkroch sich, und seine Augen leuchteten und liebten sie.

»Hast du es deinem Vater schon erzählt?« Ihre Stimme triefte vor Hohn. »Ich wette, er war außer sich vor Begeisterung. Und was machen wir mit meiner Mutter? Geben wir die im Arbeitshaus ab, wo sie hergekommen ist?«

»Wir nehmen sie zu uns«, sagte Horatio.

»Ach, und davon ist dein Vater auch begeistert?«

»Was geht es meinen Vater an?«

»Nun, du wohnst in seinem Haus und nährst dich von seinem Geld, oder nicht? Ich zumindest, wenn ich dein Vater wäre, fände, es ginge mich etwas an.«

»Ich wohne nicht mehr bei ihm«, erwiderte Horatio. Er hatte sich aufgesetzt, kreuzte die Beine und sah dazwischen ins Gras. »Ich habe eine Wohnung in Portsmouth gemietet, hinter der Commercial Road. Es ist kein Palast, aber es ist völlig in Ordnung, und das zweite Schlafzimmer, das deine Mutter nehmen könnte, geht auf einen Gemeindegarten hinaus.«

Sie musste sich verhört haben. Horatio Weaver, der seine Anzüge maßschneidern ließ und im Theater eine Loge mietete, war in zwei Schlafzimmern mit Blick auf den Gemeindegarten schlicht nicht vorstellbar. »Wie lange wohnst du schon dort?«

»Seit April.«

Also war es ihre Schuld. Und er hatte ihr kein Wort davon gesagt. »Dein Vater hat dich aus dem Haus geworfen, ja? Weil du mich aus dem Gefängnis geholt hast? Ich habe dir gesagt, du hättest das nicht tun dürfen. Deine und meine Welt gehören nicht zusammen. Warum weigerst du dich, das zu verstehen? Es war schön mit dir, das streite ich nicht ab. Ich habe es genossen, mit dir durch Theater und Tanzsäle zu ziehen, ich habe dein Pferd und unsere Ritte genossen, aber mein wirkliches Leben ist das alles nicht. Mein wirkliches Leben ist die Straße, auf der Frauen zusammengedroschen werden, weil sie sich Geld für Brot und ein Glas Gin verdienen. Es mag dir scheußlich erscheinen, und vielleicht ist es das auch, aber ich will es weder gegen deines noch gegen irgendein anderes tauschen.« Sie starrte auf den Boden, der vor ihren Augen verschwamm. »Rede mit deinem Vater, sag ihm, du bist zur Vernunft gekommen und er soll dich in Gnaden wieder aufnehmen. Ich wollte dir nicht schaden, Horatio. Dass du aussiehst wie Gottes Geschenk an die Frauen, interessiert mich nicht, doch dass du allen Ernstes glaubst, du wolltest mit mir und meiner Mutter in einer Wohnung mit zwei Schlafzimmern hausen, rechne ich dir an. Geh zurück in dein Leben, Liebling, bring es wieder in Ordnung. Du und ich, das war eine schlechte Idee, aber du hast für immer einen Stein bei mir im Brett.«

»Lydia«, unterbrach er ihren Redefluss, den die Tränen davonschwemmten, legte den Arm um sie und verschloss mit seinem Kuss ihren Mund. Reglos ließ er seine Lippen auf ihren, bis das Beben, das sie schüttelte, nachließ. Dann hob er den Kopf. »Mein Vater hat mich nicht hinausgeworfen«, sagte er rau an ihrem Ohr. »Ich fand, ich sollte nicht länger bei ihm wohnen, also habe ich mir eine Wohnung gesucht und eine Stellung bei der Hartley Institution angenommen. Reich werde ich damit nicht, weil das Institut keinen Universitätsstatus hat, aber du würdest mir vermutlich vorhalten, von solchem Gehalt ernähren andere eine Großfamilie.«

»Die Hartley Institution? Aber die ist doch in Southampton!«

Horatio nickte. »Ich bin morgens ziemlich lange unterwegs, aber das gefällt mir. Reiten lüftet mir den Kopf aus.«

»Warum hast du denn keine Wohnung in Southampton genommen?«

Er zögerte, hob seinen Arm von ihrer Schulter und senkte die Lider. »Ich dachte, das wäre nicht praktisch für dich. Zwar fährt nach Portsmouth ein Zug, aber im Winter fällt der ständig aus, und wie sollst du dann zur Schule kommen? Von der Commercial Road dagegen sind es nur ein paar Schritte zu Fuß.«

»Augenblick!«, rief sie. »Du hast eine Wohnung mit zwei Schlafzimmern an der Commercial Road gemietet, um mit mir und meiner Mutter dort zu hausen, und obendrein dürfte ich als deine Frau noch weiter meine Arbeit tun?«

Verstört sah er auf. »Ist es nicht das, was du willst? Hast du nicht gesagt, es sei dir wichtiger, Kinder von anderen zu unterrichten, als eigene aufzuziehen?«

»Und das ist dir recht? Damit willst du leben?«

»Ich will mit dir leben«, sagte er.

»Du bist verrückt!«, schrie sie ihn an. »Du hast den letzten Rest Verstand verloren. Ich habe den Palast, aus dem du stammst, doch gesehen, ich habe die Kreise erlebt, in denen du verkehrst, und ich kann kaum drei Schritte in der Stadt tun, ohne dass eine Frau mich giftig anstiert, weil sie einmal deine Geliebte war. Wer sagt mir, dass du das Arme-Leute-Spiel mit mir nicht sattbekommst, sobald du dich lange genug damit vergnügt hast? Wer sagt mir, dass du mich nicht wegwirfst wie die anderen und meine Mutter obendrein?«

»Ich«, antwortete er. »Ich sage es dir.«

»Und das, meinst du, muss mir genügen?«

In seinen Augen zuckte es. Einen Herzschlag später hatte er sich wieder gefangen. Ohne sich abzuwenden, stand er auf und klopfte sich die Halme von den Schenkeln. »Ich weiß, ich bin der letzte Mann in dieser Stadt, der dich verdient hat«, sagte er. »Vermutlich gehöre ich gelyncht, weil ich mir eingebildet habe, du könntest mich lieben, ohne dass ich es verdiene, und ich könnte das mit dem Verdienen lernen. Aber nein, das muss dir nicht genügen, warum sollte es? Halbgare Schnösel mit schlechten Manieren sind dir ein Gräuel, das hast du mir schließlich unmissverständlich mitgeteilt.« Er drehte sich um, ging zu dem grasenden Pferd und zog den Sattelgurt fest. »Darf ich dich nach Hause bringen? Ich verspreche, ich lasse meine Finger von dir.«

Er machte sich weiter an den Gurten des Sattels zu schaffen, und sie sah seinem Rücken zu, den schmerzhaft gestrafften Schultern unter weißem Stoff. Als er zurückkam, um seine Kleider zu holen, hatte sein Gang das Federnde, das ihr wie Arroganz erschienen war, verloren.

»Horatio, versteh mich doch.«

»Das tue ich«, sagte er. »Glaub mir, ich würde mich an deiner Stelle auch nicht nehmen.«

In Fratton hatte sich ein Mädchen um seinetwillen umgebracht. In der Garnison hatte eine Offiziersgattin für ihn ihren Mann verlassen, und in den Bars um den Clarence Pier dichteten die Kellnerinnen frivole Lieder auf ihn. Er war ein gewissenloser Wüstling, er würde ihren Namen vergessen, ehe der Sommer vorbei war.

Er bückte sich, um Rock und Weste aufzusammeln. Lydia streckte die Hand aus und umfasste sein Gelenk. »Ich will nicht, dass es dir weh tut.«

»Das musst du mir überlassen«, sagte er stolz und entzog ihr seine Hand. »Du kannst mir alles verbieten, nur nicht, dich zu lieben.«

»Du liebst mich doch nicht!«

»Weil ich kein Herz habe, Lydia? Weil gewissenlose Lumpen nicht lieben können?«

Ihre Blicke trafen sich. Im nächsten Moment war sie aufgesprungen, und im übernächsten lag sie in seinen Armen. Dies war schlimmer als alles. Sie hatte sich geschämt, weil sie sich nicht von ihm trennte, sondern sein zärtliches Werben genoss, sie hatte sich nach seinen Küssen gesehnt und sich dafür verachtet, aber dies war das Schlimmste – dass sie ihn liebte. Nicht den genialen Physiker, dem die Wissenschaft zu Füßen lag, und erst recht nicht den schönen Verführer, dem keine widerstehen konnte, sondern den verstörten Mann, dem das Haar ins Gesicht fiel und der keine Hand frei hatte, um es wegzustreichen, der seinen Stolz dreingab und sich ihr wehrlos und verletzlich auslieferte.

Er hielt sie fest. Als sie wieder weinen musste, hielt er sie noch fester, und als sie ihn auch festhielt, spürte sie, wie sein Rücken zuckte, weil er weinte wie sie. Sie hatte das nie erlebt, einen Mann, der Mut genug zum Weinen hatte.

Vom Weinen atemlos hob sie den Kopf und stieß zwischen Schluchzern die Worte heraus: »Horatio, das schaffen wir doch nicht. Wie sollen wir beide das denn schaffen?«

Er hob ebenfalls den Kopf und nahm ihr Gesicht in seine Hände, zart, wie einen Gegenstand aus Glas. Seine Wimpern, seine Wangen, alles glänzte nass. »Doch, mein Liebstes«, flüsterte er, beugte sich vor und tupfte ihr kleine lautlose Küsse um die Lippen. »Wir müssen es doch schaffen, denn wenn du und ich eine schlechte Idee sind, dann hat das Leben nie eine gute gehabt.«

Sie beugte sich vor, küsste ihm Nässe von der Wange und sah, wie er flüchtig und verzückt die Augen schloss. »Was willst du nur mit mir?«, fragte sie noch immer weinend. »Du kannst Hunderte haben, Reiche und Schöne, die darauf brennen, dir Kinder zu gebären und dich zu verzärteln, während du von mir nur Schelte bekommst.«

»Nein«, sagte er, beugte den Rücken und senkte seine Stirn auf ihre Schulter. »Ich kann niemanden haben. Das war schon immer so. Mir war nie ein Mensch nah. Nur du.«

Er sprach die Wahrheit. Sie hatte ein Jahr lang erlebt, wie er sich zwischen Menschen bewegte, wie er gläserne Wände um sich errichtete und alle daran abprallen ließ. Auch die, die er liebte. Nora und Esther. Nur sie nicht. Sie legte ihm die Hand in den Nacken. Seine Haut war heiß wie im Fieber. »Du darfst mich nie belügen, Horatio. Ich könnte es nicht ertragen, wenn all dies eines Tages zur Lüge wird. Wenn es niedrig und gemein wird, wie es zwischen Männern und Frauen überall ist. Wenn du versuchst mich kleinzumachen, um dich größer zu fühlen, und leugnest, dass wir uns nah waren und voreinander Achtung hatten.«

Er hob den Kopf und suchte ihren Blick. Ehe sie sich’s versah, sank er vor ihr auf die Knie und legte sein Gesicht an ihren Leib. »Bitte lass es mich versuchen«, murmelte er. »Ich weiß, ich habe keinen Grund, auf etwas in meinem Leben stolz zu sein, und kein Recht, von dir Vertrauen zu verlangen, aber ich könnte auf der Welt keinen Menschen mehr achten als dich.« Er schob eine Hand in die Hosentasche, zog ein Stück Leder heraus und sah bittend zu ihr auf. »Für den Notfall behalten wir den hier, ja?« Er nahm ihre Hand und legte ihr seinen ledernen Reithandschuh hinein.

Lydias Kehle entwand sich ein Laut. »Nein«, sagte sie, knüllte den Handschuh zusammen und warf ihn über die Lichtung. Behutsam, mit bloßen Fingern, berührte sie seine Wange. »Wenn du wirklich glaubst, wir sollten diesen Wahnsinn wagen, dann nützt mir kein Handschuh. Dann muss ich dir vertrauen.«

Sehr langsam, den Blick voll seligem Unglauben, stand er auf. Als er sie küsste, begriff sie, dass sie ohnehin keine Wahl hatte. Sie war sein, sie war in seiner Gewalt, und dass er ebenso in ihrer Gewalt war, machte nichts leichter. Sie würde es nicht ertragen, wenn er ihr Schmerz zufügte, und wenn sie ihm Schmerz zufügte, würde sie es sich nicht verzeihen.


Ihrer Mutter sagte sie es am Abend in der winzigen Stube, die ihnen als Wohnraum und Küche diente. »Ich habe eingewilligt, Horatio Weaver zu heiraten.« Dann brach sie in Tränen aus.

Ihre Mutter stand auf, zog ihre Tochter in die Arme und ließ sie weinen. »Ach, mein Mädchen«, klagte sie und streichelte ihr Haar. »Ach, mein armes Mädchen.«

Als Lydia sich beruhigt hatte, versuchte sie sich an einem Lächeln. »Die meisten Mütter würden in hellen Jubel ausbrechen, wenn ihre Töchter ihnen sagten, sie wollten einen der reichsten Erben der Stadt heiraten.«

»Ich bin zu alt und zu müde, um in Jubel auszubrechen«, erwiderte die Mutter. »Mir liegt an deinem Wohlergehen, an sonst nichts, und einen Mann, der ein beherztes Mädchen wie dich zum Weinen bringt, den hasse ich schon jetzt. Die ganze Stadt hasst ihn. Von den beiden Weavers heißt es, der Vater sei ein harmloser Teufel gegen den Sohn.«

»Horatio ist kein Teufel«, sagte Lydia. »Den Hass der Stadt hat er sich redlich verdient, aber ein Teufel würde nicht darunter leiden.«

Prüfend sah die Mutter ihr ins Gesicht. »Du liebst ihn ja.«

Lydia entgegnete nichts, und die Mutter zog sie wieder in die Arme. »Ach, mein armes Mädchen.«

Sacht befreite sie sich. »Vermutlich begehe ich den größten Fehler meines Lebens«, sagte sie. »Vermutlich sollte ich mich auf dem nächsten Auswandererdampfer einschiffen und ans Ende der Welt flüchten. Aber kann ich denn meinen Schülerinnen predigen, sie sollen zu ihrem Wort stehen, wenn ich selbst es nicht tue?«

»Wenn du mich fragst, kannst du alles tun, was dich aus dieser Lage rettet«, erwiderte die Mutter. »Aber du wirst es nicht tun. Du warst schon als Kind mein viel zu tapferes Mädchen, das seine Versprechen hielt, und wenn dieser Kerl dir ein Leid zufügt, nehme ich den Schürhaken und schlage ihn tot.«

Lydia musste lachen, obwohl sie nichts daran komisch fand. In der Nacht ließ die Angst sie nicht schlafen, und am Morgen begann die Vorbereitung auf ihr Leben als verheiratete Frau.


Die Hochzeit sollte sein, wenn der Winter begann. Lydia wollte sie so still und unauffällig wie möglich, aber Horatio versteifte sich mit begeistertem Eifer auf ein Fest. »Wenn du einen Saal mieten und eins eurer Bankette abhalten willst, hättest du dir die passende Frau suchen müssen«, schalt sie ihn.

»Das will ich nicht«, erwiderte er. »Keinen Saal und kein Bankett, und vermutlich kommen keine drei Gäste, weil ich so beliebt bin wie ein Steuereintreiber mit Syphilis. Ich habe nie etwas feiern wollen. Auf den Gesellschaften meiner Eltern habe ich das Porzellan zerschlagen, und ihren Weihnachtsbaum habe ich in Brand gesetzt. Aber wie kann ich denn nicht feiern, dass du bei mir bleibst, Lydia? Dass ich in diesen Kerker, in dem ich allein war, nicht mehr zurückmuss?«

Es war, wie er sagte. Er hatte sich in einen Kerker gesperrt, in dem kein Mensch ihn erreichte, und jetzt war er frei und lächelte, wenn jemand ihn ansprach, überließ manchem sogar seine Hand und war reizend zu ihrer Mutter. Sie wollte den Tag, vor dem sie sich fürchtete, nicht feiern, aber sie konnte es ihm auch nicht verwehren. Ich begehe den größten Fehler meines Lebens, dachte sie wieder. Sie dachte es ständig. Und doch gab es Augenblicke, in denen etwas Neues in ihr laut wurde, ein wildes, fremdes Glück, anders als alles, was sie sich mit Fleiß und Vernunft erarbeitet hatte und so, als wäre nicht nur Horatio, sondern auch sie selbst nie zuvor einem Menschen nah gewesen.

Er habe ihr so gern etwas schenken wollen, sagte er und brachte ihr einen Handspiegel und eine Bürste mit wundervollen ziselierten Silberrücken. »Glaubst du wirklich, damit machst du mir Freude?«, fragte sie. »Bin ich eine Frau, die ihre Zeit mit Haarpflege vergeudet?«

Kleinlaut schüttelte er den Kopf. »Dein Haar ist so schön. Ich dachte, sie würden zu dir passen.«

»Zu mir passt kein sündhaft teurer Tand, für den Frauen und Kinder in Silberwerkstätten Schmutz, Maschinenlärm und giftigen Chemikalien ausgesetzt sind.«

»Es tut mir leid«, murmelte er, nahm den Spiegel und die Bürste weg und wollte sich trollen.

Seine Reue schnitt ihr ins Herz. »Ich wollte dir nicht weh tun, Horatio.«

Er drehte sich um. »Tu mir weh, wenn ich mich wie ein Idiot benehme«, sagte er. »Nur gib mich nicht auf, darum bitte ich dich.« Die Silberwaren verkaufte er und gab das Geld Esther, die im Herbst als Jahresbeste ihr Examen abschloss.

Wochen später bat er Esthers Vater um einen Termin zur privaten Konsultation. Lydia erfuhr davon, weil Esther sie fragte – ihr Vater wunderte sich, denn er behandelte schon lange keine privaten Patienten mehr, und mit seinem Neffen pflegte er keinen Kontakt. »Vater mag ihn nicht«, sagte Esther traurig. »Weshalb will Horatio ihn sprechen? Er ist doch nicht krank?«

Lydia wusste es auch nicht. Am Abend zwang sie ihn, ihr Rede und Antwort zu stehen. Er wand sich wie ein Aal. »Es war Noras wegen«, behauptete er schließlich.

»Du hast geschworen, mich nie zu belügen!«, herrschte sie ihn an.

»Ich lüge ja nicht. Mit Noras Krankheit wird es schlimmer. Sag, Liebste, würde es dir viel ausmachen, wenn sie zu uns käme? Natürlich können wir nicht alle in zwei Schlafzimmern hausen, aber du hast gesagt, du brauchst kein Geld für Personal, und die Bank würde mir einen Kredit einräumen. Wir könnten ein Haus kaufen, ein kleines nur, doch wir hätten alle darin Platz.« Bei dem ungewohnten Redefluss wirkte er so jung, wie er war. »Ich habe Angst, Nora stirbt, wenn sie bei meinem Vater bleiben muss.«

»Horatio«, rief Lydia scharf und wunderte sich, dass sie die Frage nie zuvor gestellt hatte, »was hat dein Vater mit euch gemacht?« Er schüttelte den Kopf, und für diesmal ließ sie ihn davonkommen, weil die andere Frage sie stärker bedrängte. »Natürlich ist es mir recht, dass deine Schwester zu uns kommt. Aber dass du mich belügst, ist mir nicht recht. Du warst nicht nur Noras wegen bei deinem Onkel.«

Als er den Kopf senken wollte, packte sie sein Haar und zwang ihn, sie anzusehen. Er errötete bis über die teuflisch geschwungenen Brauen. »Du wirst mich hassen, wenn ich es dir sage.«

»Das wirst du auf dich nehmen müssen. Sei kein solcher Feigling, Horatio.«

Er holte tief Atem. »Ich habe ihn gefragt, wie sich eine Ehe führen lässt, ohne Kinder zu zeugen. Bei meinem Lebenswandel hätte ich wohl zumindest darüber Bescheid wissen müssen, aber ich habe nie daran gedacht.«

Es war das Ausmaß seiner Liebe, das sie sprachlos machte. Das Opfer, das er ihr brachte und das er ihr hatte verschweigen wollen. »Nein«, sagte sie endlich, legte die Arme um ihn und küsste ihm die Schläfe. »Für das, was vergangen ist, hasse ich dich nicht. Du hast mir ja den Wind aus den Segeln genommen, und dabei habe ich nie geglaubt, dass Männer fähig sind zu lernen.«

»Das ist das Verdienst der Lehrerin«, raunte er ihr ins Ohr. »Hyperion kommt übrigens zu unserer Hochzeit. Freut dich das? Um meinetwillen hätte er sich dazu nicht durchgerungen, aber dich liebt er innig.«

»Weshalb sollte er nicht um deinetwillen kommen? Er ist dein Onkel.«

Horatio rieb sich die Stirn. »Er ist für mich nicht mein Onkel. Ich fürchte, bei uns ist nichts, wie es sein soll. Schau dir uns alle doch an – sieht so vielleicht eine propere, gewöhnliche Familie aus?«

»Woher soll ich das wissen?«, fragte Lydia zurück. »Meine Familie besteht aus meiner Mutter und mir.«

»Ein Grund mehr, dich zu lieben«, sagte Horatio. »Ehe ich mir noch mehr Familie auflüde, hätte ich lieber einen Kropf.«

»Zurück zu Hyperion. Warum sagst du, er ist für dich nicht dein Onkel?«

»Weil der Ärmste lieber der Onkel einer Kanalratte wäre. Ich bin ihm zuwider, und er ist ja auch nur zur Hälfte mit mir verwandt. Esther und ich haben denselben Großvater, aber zwei verschiedene Großmütter. Die von Esther war die engelhafte Tochter eines Baronets, während die meine eine sogenannte Hure war. Deshalb werden auf der einen Seite schöne, goldblonde Menschen geboren und auf der anderen hässliche, schwarze.«

»Du hältst dich doch wohl nicht ernsthaft für hässlich?«, unterbrach ihn Lydia. »Und du willst mir auch nicht ernsthaft erzählen, dass deine Großmutter eine Hure war?«

Er sah sie an, als wüsste er nicht, welche Antwort sie von ihm erwartete. »Macht es dir etwas aus?«, fragte er wie aus der Deckung.

»Horatio!«

»Nein, sie ist keine Hure«, sagte er. »Nur eine Frau, die eine ganze Stadt zur Hure erklärt hat. Sie wurde mit siebzehn an einen reichen Mann verhökert und beging die unverzeihliche Sünde, einen anderen zu lieben. Vielleicht hat sie ihn nicht einmal geliebt, sondern sich nach nichts als ein bisschen Wärme gesehnt.«

»Und der Mann?«

»Der war Offizier und wurde irgendwann versetzt. Sie dagegen war gezwungen zu bleiben. Es gab eine schmutzige Scheidung und einen prächtigen Skandal, in dem jeder wohlanständige Bürger nach Herzenslust die Nase rümpfen und mit dem Finger auf sie zeigen konnte. Polly Pierson landete ohne einen Penny auf der Straße und durfte ihren Sohn nicht mehr sehen. George Weaver heiratete die schöne Amelia, die ihm den noch schöneren Hyperion gebar. Wir verstehen uns darauf, eine Frau für einen Fehltritt zu bestrafen, oder nicht? Wir schlagen sie nieder und sorgen dafür, dass sie nie wieder auf die Beine kommt.«

Lydia brauchte einige Zeit, um sich von ihrer Erschütterung zu erholen. »Woher weißt du das alles?«, fragte sie dann. »Hat dein Vater es dir erzählt?«

»Gott bewahre.« Hämisch verzog er den Mund. »Mein Vater erlaubt nicht, dass der Name der Hure in seinem Haus genannt wird. Ich weiß es, weil ich sie ab und an besuche.«

»Und warum tust du das?«

»Anfangs, um meinen Vater zur Weißglut zu treiben.« Sein Grinsen wurde noch hämischer. »Aber inzwischen mag ich die Alte. Wir passen zusammen. Die Hure und der Satan, einer so schwarz und hässlich wie der andere.«

»Hör auf damit«, sagte Lydia. »So hart es dich ankommen mag, du bist nicht einmal halb so schlecht, wie du dich machst.«

Als sie ihn in die Arme nahm, ließ er sich regelrecht fallen. Lydia wollte sich um keinen Preis einer trügerischen Hoffnung hingeben, aber zum ersten Mal fragte sie sich, ob sie vielleicht doch nicht den größten Fehler ihres Lebens beging.

Er kaufte ein schmales Reihenhaus in einer Seitenstraße, deren Fahrweg Kastanienbäume säumten. Es besaß vier Schlafzimmer und einen Garten, in den ein Tisch, vier Stühle und eine Magnolie passten. So fremd es Lydia war, ihr Herz an Besitz zu hängen, so wenig konnte sie dem kleinen Haus widerstehen. In ihr lebte noch immer das zerrupfte Kind aus dem Arbeitshaus, das außer einem Abakus nichts auf der Welt besaß. Sollte sie jetzt wirklich zu den Menschen gehören, die Abend für Abend in die Geborgenheit ihrer eigenen Wände heimkehrten und deren Leben hinter Riegeln beschützt war?

Horatio zog in das Haus, noch während es hergerichtet wurde, um die Miete für die Wohnung zu sparen. Vier Wochen vor der Hochzeit saß Lydia mit ihm in dem noch kahlen Raum, den sie Stube und er Salon nannte, über der Liste der Gäste. Zu Horatios Verblüffung hatten so viele zugesagt, dass das kleine Haus in allen Nähten ächzen würde. Hyperion und Mildred mit ihren Töchtern, Lydias Kolleginnen, ein paar Herren, die Horatio von der Universität kannte, und die Schar ihrer Kampfgefährtinnen, von denen die meisten nicht glauben konnten, dass es ihr mit dieser Hochzeit ernst war. An einem Namen blieb Lydias Finger hängen. »Wer ist Susan Ralph?«

Horatio vollführte eine Bewegung mit dem Kopf, die ihr inzwischen vertraut war. Als würde er sich ducken. »Mein Kindermädchen. Sie kommt mit einem Herrn namens March und zwei Kindern, und ich fürchte, eine ordentliche Heiratsurkunde besitzt keiner von ihnen. Stört es dich?«

»Natürlich nicht. Es wundert mich nur. Von dem Erbsohn eines Industriellen hätte ich anderes erwartet, als dass er sein Kindermädchen zu seiner Hochzeit einlädt.«

»Ich bin nicht der Erbsohn eines Industriellen«, protestierte er gekränkt. »Ich bin der blöde Kerl, der dich zum Wahnsinn treibt, weil er dich so sehr liebt.«

»Du treibst mich zum Wahnsinn, weil du mir ausweichst, du blöder Kerl. Warum lädst du dein Kindermädchen zur Hochzeit ein?«

»Das willst du nicht wissen«, sagte Horatio, und die gläsernen Wände schlossen sich um ihn.

»Ich pflege keine Fragen zu stellen, wenn ich etwas nicht wissen will«, versetzte Lydia.

»Nun schön. Aber ich will dir nichts darüber sagen.«

Die gläsernen Wände schwollen. Todesmutig rannte Lydia mit der Stirn dagegen an. »Ich denke, ich soll deine Frau werden. Habe ich kein Recht darauf, dich kennenzulernen? Ich habe mein Leben vor dir ausgebreitet wie ein offenes Buch …«

»Weil du nichts zu verbergen hast«, fuhr er ihr ins Wort. »Bei dir gibt es nichts Dunkles, Hassenswertes, du kannst auf dein Leben stolz sein.«

Sie ging zu ihm, sah, wie er zurückwich, und streckte dennoch die Hand nach der gläsernen Wand aus. »Solltest du mir nicht erlauben, darüber selbst zu entscheiden? Wenn du mich das Dunkle nicht sehen lässt, wie soll ich dann wissen, ob ich es ertrage?«

Er wich zurück, bis er mit dem Rücken zur Wand stand. »Ich bin als Idiot zur Welt gekommen«, sprach er ohne Ausdruck durch die gläserne Wand. »Ich konnte nicht sprechen und vermutlich auch nicht denken. Wäre es meinem Vater nicht so peinlich gewesen, hätte er mich in eine Anstalt gesperrt. Stattdessen hoffte er, es ließe sich zumindest eine Spur Verstand in mich hineinprügeln. Ich habe Sukie eingeladen, weil ich es ihr schulde. Sie hat einmal zu meinem Vater gesagt, er solle Erbarmen haben. Dafür hat mein Vater dem Erzieher den Stock weggenommen und nicht mich, sondern sie geschlagen.«

Lydia stand still und hörte ihrem Atem zu. Es ist noch nicht zu spät, beschwor sie eine Stimme in ihr. Dem hier bist du nicht gewachsen. Verlass das Haus und komm nie wieder. Lydia verließ nicht das Haus, sondern machte einen Schritt auf ihn zu. Zwischen ihnen erhob sich das Glas, und Horatio dahinter war so allein, dass es ihr das Herz zusammenzog. »Hatte er irgendwann Erfolg?«, fragte sie stimmlos. »Hat er dich zum Sprechen geprügelt?«

»Nein.«

»Wie hast du es gelernt?«

»Gar nicht, glaube ich. Ich habe irgendwann gemerkt, dass ich es konnte, wenn mein Vater nicht dabei war.«

»Und dein Vater? Er hat nicht aufgehört, nicht wahr?«

»Doch«, sagte Horatio und starrte an ihr vorbei. »Jetzt muss er aufhören.«

Das, was Männer Tapferkeit nannten und für das sie sich Orden an die Brust hefteten, war Lydia stets erbärmlich und hohl erschienen. Den Mann, der vor ihr stand, fand sie hingegen tapfer ohnegleichen. Er hatte als Kind gelernt, sich unantastbar zu machen, um ein Stück seiner Würde zu bewahren, und doch brachte er den Mut auf, sich ihr auszuliefern. Ob sie den größten Fehler ihres Lebens beging, war ihr einerlei.

»Ich will kein Mitleid von dir«, knurrte er.

»Keine Sorge«, sagte sie, »du bekommst auch keines.« Als sie den letzten Schritt auf ihn zumachte, glaubte sie Glas splittern zu hören, und als sie die Hände hob, um ihm die Schultern zu streicheln, war ihr, als würde sie Scherben von ihm abstreichen. Weil sie ohnehin dabei war und weil ihm Schweiß in Strömen die Stirn hinunterlief, öffnete sie ihm Binder und Kragen und strich auch den Stoff noch weg. Seine Schlüsselbeine, die jäh entblößt vor ihr lagen, jagten ihr ein Entzücken durch den Leib. »Horatio«, rief sie, umfasste sein Kinn und drehte sein Gesicht zu sich. »Hörst du mir zu? Ich liebe dich.«

Sie umarmte ihn, legte ihre Lippen auf seine und küsste ihn, bis er sie wiederküsste. In dieser Nacht hätte sie bei ihm bleiben wollen, was immer irgendwer darüber dachte und sogar, wenn er ihr ein Kind gemacht hätte. Er aber lachte und schickte sie nach Hause. »Lass mich doch einmal in meinem Leben ein Mann mit Anstand sein.«

Sie würden es nicht leicht haben. Das Gepäck, das andere ihnen aufgeladen hatten, würde schwer zu schleppen sein und sie manchmal niederdrücken, aber zum ersten Mal fand Lydia, dass es eine Sünde sei, es nicht zu versuchen. Als ihre Mutter an diesem Abend in ihre Litanei ausbrach und sie ihr armes Mädchen nannte, bat Lydia sie, aufzuhören. »Ich bin kein armes Mädchen, Mutter. Und ich wäre dir dankbar, wenn du Horatio zumindest die Chance gäbest, dich für sich zu gewinnen.«

»Ach, ich finde die ganze Familie zum Fürchten«, sagte ihre Mutter. »Da hast du diese Eltern, die zur Hochzeit des Sohnes nicht eingeladen werden und vor denen die Tochter aus dem Haus flieht. Da hast du diese unglaubliche Tante, von der es heißt, sie habe mit dem eigenen Neffen ein Verhältnis …«

»Das ist vorbei«, unterbrach Lydia sie scharf. Es war erst Stunden her, dass Horatio es ihr gestanden hatte, den Zwang, Maria Lewis zu unterwerfen und Liebesschwüre stammeln zu hören, Maria Lewis, die sich jahrelang am Treiben seines Vaters ergötzt und in der Stadt verbreitet hatte, Hector Weavers Sohn sei schwachsinnig. Ob er auf ewig so weitermachen werde, hatte Lydia ihn gefragt, ob er sich an jedem, der dieser Erziehung des Grauens beigewohnt hatte, rächen und damit sein Leben vergiften müsse? »Nein«, hatte er gesagt, »das ist vorbei. Was soll ich mit der Vergangenheit, wenn ich dich in meiner Zukunft habe?«

»Es ist vorbei«, wiederholte ihre Mutter, »also ist es wahr. Und was noch? Hatte er mit dieser entsetzlichen Mildred, die irgendwann deine Freundin Esther zerstören wird, auch ein Verhältnis? Dass Esthers Mutter sich einfach aus dem Staub gemacht hat, ist unverzeihlich, aber verdenken kann ich es ihr bei der Familie nicht.«

Ich auch nicht, dachte Lydia. Aber es ist ja nicht die Familie, mit der ich leben muss. Es sind die Menschen, die ich liebe. Horatio und Esther. Und Nora, fügte sie entschlossen hinzu. Horatio hatte zu ihr gesagt, sie habe Esther gerettet. »Von uns hat doch keiner Esther beigestanden, und ihr Vater mag ein Held der Heilkunst sein, aber um seine Kinder schert er sich bis heute nicht. Hätte sie dich nicht gehabt, dann hätte Mildred aus ihr gemacht, was sie aus Phoebe und Chastity gemacht hat – zwei Duckmäuser voller Angst vor dem Leben. Ich wünschte, du könntest auch Nora helfen. Du tust Menschen gut.«

Weil Menschen gut zu mir waren, dachte Lydia und schlang jäh die Arme um ihre Mutter. »Sei ein bisschen gut zu Horatio, ja? Ihr habt nämlich etwas gemeinsam – ihr beide liebt mich.«

»Wenn dieser Kerl mich je davon überzeugen sollte, dass wir das gemeinsam haben, bin ich von mir aus sogar gut zu ihm«, brummte ihre Mutter, küsste Lydia auf die Stirn und stand auf, um den Tisch abzuräumen.


In der letzten Woche vor der Hochzeit wurde das Haus fertig. Es war durchgehend mit Öllampen ausgestattet und an keine Gasleitung angeschlossen. Als Lydia Horatio fragte, ob er damit seinen Vater treffen wolle, schüttelte er den Kopf. »Ich halte Gas für gefährlich«, sagte er. »Zumindest in der Form, wie wir es heute nutzen. Hast du dich schon einmal gefragt, warum so viele Leute Dinge sehen, die es nicht gibt – weißvermummte Gespenster, Waldgeister, Nachtmahre? Wenn du mich fragst, sind all diese Leute nicht reif für die Anstalt, sondern leben in der Nähe einer Leitung, aus der Gas austritt. Ich bin benebelt genug von dir, ich brauche kein Gas, das mir das Hirn trübt. Wenn wir vorankommen wollen, tun wir gut daran, das Leben mit klarem Blick zu betrachten, nicht es in Schwaden zu hüllen.«

Es war eine Seite an ihm, die sie begeisterte, ein Feld, über das sie Hand in Hand gingen – sein Glaube an Fortschritt und Veränderung, an eine Gesellschaft, die sich zum Besseren wandelte. Sie führten lange Gespräche, in denen sie ihm von den Reformen des Schulsystems berichtete und er ihr von seinen Versuchen mit Elektrifizierung, mit der man bereits ein Fußballspiel in Sheffield unter strahlendem Flutlicht ausgetragen hatte und die gefahrloser, billiger und kraftvoller war als Gas. Manchmal gerieten sie dabei ins Schwärmen von einer Zukunft, in der jedem Menschen ein erfülltes Leben offenstand.

Auch wenn sie es selbst kaum glaubte, begann sie sich auf die Abende in ihrem Haus zu freuen, auf endloses Reden und Streiten, auf die Herausforderung, die ein kluger Mann einer klugen Frau bieten konnte, wenn er sie ernst nahm und achtete.

Die Nacht vor der Hochzeit verbrachte sie noch einmal in schlafloser Todesangst, als stünde ihre Hinrichtung bevor. Zur Kapelle fuhr sie schreckstarr. Sie trug ein schmuckloses dunkles Tageskleid und Horatio den schwarzen Cut, in dem er überall hinging. Vaterlos, wie sie war, schritt sie allein durch den Gang, und der Mann, der der ihre werden sollte, stand allein vor dem Altar. Als sie ihm nahe kam, streckte er ihr beide Hände entgegen und atmete zutiefst erleichtert auf. Das trug sie durch die Zeremonie, die ihr fremd und bedrohlich erschien, und hinterher warteten auf den Stufen ihre Freunde, jubelten, als sie aus der Kirche traten, und Esther und Nora, ihre Brautjungfern, sprangen zu ihr und umarmten sie. »Wenn Sie meinem Mädchen ein Leid antun, bringe ich Sie um«, sagte ihre Mutter zu Horatio, statt ihm zu gratulieren.

»Ich bitte darum«, erwiderte Horatio. »Was glauben Sie, weshalb ich Sie im Haus haben wollte?«

Ihre Mutter sah ihn lange an, dann sagte sie zu Lydia: »Gott behüte dich. Dieser Mann ist gefährlicher als die Bräune, aber die hast du immerhin überlebt.«

Sie hatte sich gewünscht, für Flitterwochen kein Geld zu vergeuden und die Hochzeitsnacht in ihrem Haus zu verbringen. Nora und ihre Mutter sollten erst am Morgen einziehen. Ein Wolkenbruch ergoss sich, als sie die letzten Gäste ans Tor gebracht hatten und ihnen nachwinkten, bis sie hinter den Kastanien verschwanden. Horatio nahm ihre Hand, und gemeinsam liefen sie durch den strömenden Regen zurück zu ihrem Haus. Drinnen verschloss er alle Riegel, entzündete nur eine Lampe und wandte sich ihr zu. In seinem schwarzen Haar glänzten Tropfen, er lächelte nicht, nur in seinen Augen stand ein Leuchten. Lydia hatte sich vor diesem Moment gefürchtet, aber jetzt spürte sie, wie sehr sie ihn zugleich herbeigesehnt hatte. »Wir sind allein«, stellte sie fest.

»Nein«, sagte er, zog sie an sich und grub sein Gesicht in ihr Haar. »Nie mehr, Liebste. Wir sind nie mehr allein.«

Als sie in dieser Nacht in seinen Armen lag, begriff sie, dass sie nicht den größten Fehler ihres Lebens begangen hatte, einerlei, was ihr bevorstand. Sie begriff, dass Glück keine Errungenschaft war, die man sich durch Fleiß und Vernunft verschaffen konnte, sondern ein seltenes Geschenk, um es verwundert und demütig anzunehmen. Dass sie mit Horatio glücklich war, begriff sie, und dass ihr Glück sie ein Stück weit tragen würde, wenn der Weg steinig wurde oder Erschöpfung sie übermannte.

Die Mondrose
titlepage.xhtml
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_000.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_001.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_002.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_003.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_004.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_005.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_006.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_007.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_008.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_009.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_010.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_011.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_012.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_013.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_014.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_015.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_016.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_017.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_018.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_019.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_020.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_021.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_022.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_023.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_024.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_025.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_026.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_027.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_028.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_029.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_030.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_031.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_032.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_033.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_034.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_035.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_036.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_037.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_038.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_039.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_040.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_041.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_042.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_043.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_044.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_045.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_046.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_047.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_048.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_049.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_050.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_051.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_052.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_053.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_054.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_055.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_056.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_057.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_058.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_059.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_060.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_061.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_062.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_063.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_064.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_065.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_066.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_067.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_068.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_069.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_070.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_071.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_072.html